Immer mehr Menschen bezeichnen sich als Nonbinary und wollen damit ausdrücken, sich weder als Mann noch als Frau zu identifizieren. Doch kann man den Geschlechterverhältnissen einfach so entkommen – und warum ist besonders der Anteil biologischer Frauen darunter so hoch?

Auf einer CSD-Parade wird ein Schild in den Farben gelb, weiß, violett, schwarz und mit der Aufschrift "Correct Pronoun Usage Saves Lives" hochgehalten.
Vom Nonbinary-Aktivismus wird gern betont, dass die Ansprache mit Wunschpronomen das psychische Wohlbefinden einer Person erhöht. Auf Problemfelder, die möglicherweise erst zur Identifizierung als Nonbinary führen, wird aber zumeist nicht eingegangen (Foto von ingenious0range auf Unsplash).

8. September 2024 | Till Randolf Amelung

An einem spätsommerlich heißen Augusttag hatte ich im Rahmen eines von mir gehaltenen Workshops ein interessantes Gespräch mit mehreren jungen Frauen. Aus Gründen der Vertraulichkeit nenne ich weder Ort noch Namen meiner Gesprächspartnerinnen. Zwei Themen blieben mir besonders im Gedächtnis: Schwierigkeiten, Orte zu finden, an denen sich Frauen selbstbewusst auf sich selbst beziehen können und dürfen. Und alle Frauen berichteten von Phasen, in denen sie sich als „Nonbinary“ identifizierten – also nicht als weiblich gesehen werden wollten. In Momenten pubertär erlebter Belastungen haben sie einen Ausweg gesucht und sind auf das Begriffskonzept „Nonbinary“ gestoßen, was sie dann aufgegriffen haben.

Doch nicht nur biologische Frauen bezeichnen sich vermehrt als solches: Spätestens seit Nemos ESC-Sieg für die Schweiz in diesem Jahr in Malmö ist der Begriff „Nonbinary“ einem breiten Publikum bekannt geworden. Im November 2023, ein gutes halbes Jahr vor seiner ESC-Teilnahme, verkündete Nemo auf Instagram: „Ich identifiziere mich weder als Mann noch als Frau. Ich bin einfach Nemo. Ich stelle mir das Geschlecht gerne als eine Galaxie vor und sehe mich selbst als einen kleinen Stern, der irgendwo darin schwebt. Dort fühle ich mich am meisten wie ich selbst.“

Nemo verkündete nach dem ESC-Sieg, die gewonnene Popularität für die rechtliche Anerkennung von Nonbinary-Personen wie ihm selbst nutzen zu wollen. Das bedeutet, rechtlich mehr Geschlechtseinträge zur Wahl zu haben als nur männlich und weiblich, um auch auf diese Weise sichtbar zu werden. Ansonsten ist von ihm bekannt, dass er in Berlin lebt und mit einer Frau liiert ist.

Eine Begriffsdefinition

Doch was meint Nonbinary eigentlich? Auf dem vom Bundesfamilienministerium kuratiertem Regenbogenportal heißt es: „Nicht-binär“, „non-binary“ oder auch „genderqueer“ sind Selbstbezeichnungen für eine Geschlechtsidentität, die sich nicht in der Gegenüberstellung von Mann oder Frau beschreiben lässt. Damit kann eine Geschlechtsidentität „zwischen“, „sowohl-als-auch“, „weder-noch“ oder „jenseits von“ männlich und weiblich gemeint sein.

Zugleich wird nicht-binär/non-binary auch als Oberbegriff für diverse andere Geschlechtsidentitäten verwendet, die nicht (nur) weiblich oder (nur) männlich sind (zum Beispiel „neutrois“, „agender“, „genderfluid“). Nicht-binäre Geschlechtsidentitäten ergeben sich in der Regel nicht aus bestimmten Körpermerkmalen, sondern aus dem eigenen Geschlechtsempfinden.“ Zusammengefasst geht es also darum, wie man sich selbst sieht, ohne sich dabei an körperliche Merkmale oder Rollennormen gebunden zu fühlen.

Nonbinary zu sein, das verspricht frei zu sein, von Erwartungen anderer, wie man als Mann oder Frau zu sein hat. Mittlerweile gibt es eine Fülle von Identitätsbezeichnungen, die mit Nonbinary verknüpft sind, wie die Seite Nonbinary.ch beispielhaft in ihrem Glossar zeigt. Darunter befindet sich auch der Begriff „Xenogender“,  der laut Eigenbeschreibung „für verschiedene non-binäre Geschlechtsidentitäten, die mit Konzepten in Verbindung stehen, die üblicherweise nicht mit Geschlecht in Verbindung gebracht werden wie Farben, Tiere etc.“ verwendet wird. Als Beispiele werden „aliengender“, „wulfgender“ oder „watergender“ genannt.

GenZ identifizieren sich am häufigsten als Nonbinary

In den letzten Jahren ist weltweit die Zahl an Menschen gestiegen, die sich als Nonbinary identifizieren, ihr Anteil an der Weltbevölkerung wird auf drei Prozent geschätzt, heißt es auf einer Infoseite des Lesben- und Schwulenverband Deutschlands (LSVD). Besonders in der sogenannten Generation Z, also der zwischen 1995 und 2012 Geborenen ist der Anteil größer als in allen anderen Generationen, wie das Time Magazine 2023 berichtete.

In den USA wurden Daten erhoben, die Unterschiede deutlich zeigen: Unter den Babyboomern (1946 bis 1964 Geborene) bezeichnen 0,9 Prozent, unter den GenX (1965 bis 1980 Geborene) 1,2 Prozent und unter den Millenials (1981 bis 1996 Geborene) 1,7 Prozent ihre Geschlechtsidentität als Nonbinary. Unter den GenZ sind es jedoch 3,3 Prozent. Einen vergleichbaren Sprung gab es unter den Generationen auch bei der Identifikation als transgender.  Diese Zahlen dürften in anderen westlichen Ländern vermutlich ähnlich ausfallen.

Foto eines Plakats, was über verschiedene Bezeichnungen für sexuelle und geschlechtliche Identitäten informieren will.
Ein Plakat mit vielen Identitäten eines österreichischen Beratungsprojekts (Foto: privat)

Bemerkenswert ist laut Time Magazine auch: „Es gibt einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen den Generationen, wenn es um Transgender oder nicht-binäre Identität geht. Die meisten Boomer und Angehörige der Generation X, die sich als Transgender identifizieren, wurden bei der Geburt als männlich eingestuft. Bei der Generation Z wurden die meisten Transgender jedoch bei der Geburt als weiblich eingestuft.

Der gleiche Generationswechsel hin zu denjenigen, die bei der Geburt als weiblich zugeordnet wurden, zeigt sich auch bei nicht-binären Menschen. Nicht-binäre Erwachsene der Generationen Boomer, Gen X und Millennial wurden bei der Geburt etwa gleich häufig als männlich oder weiblich zugeordnet, aber bei jungen Erwachsenen der Generation Z wurden zwei Drittel der nicht-binären Menschen bei der Geburt als weiblich zugeordnet.“

Von Tumblr in den KitKat-Club

Die rasante Vervielfältigung der Geschlechtsidentitäten nahm ab den 2010 in Online-Subkulturen, insbesondere auf Tumblr ihren Anfang. Von dort erreichten sie andere soziale Plattformen und den Mainstream, darunter Bühnen wie den ESC oder von Ministerien geförderte Webseiten wie das Regenbogenportal. Auch als Partymotto trägt Nonbinary mittlerweile, zum Beispiel bei der „Gegen Binary“ im Berliner KitKat-Club. In der Veranstaltungsankündigung heißt es, dass das binäre System ein starres Konstrukt sei, das die Grenzen der Existenz vorgebe. Doch Menschen würden nun dagegen rebellieren.

Die Partywerbung des KitKatClub mit den Mastektomienarben auf der Website Resident Advisor (Foto: Screenshot).

Der Text weiter: „Der Körper wird zum Ort des Widerstands und der Transformation. Wir umarmen das Dazwischen durch gender-affirming care, performative Praxis und neue Konzepte des gegenseitigen Liebens. Letztendlich geht es darum, wie wir die Entscheidungen des anderen sehen und akzeptieren können; indem wir das Fließende und Vielfältige feiern, brechen wir die Macht der Objektivierung und Kontrolle. Wir erobern unsere Identitäten zurück und werden sowohl Subjekt als auch Objekt und dazwischen in einem Tanz der Selbsterschaffung.“ Illustriert wird die Partywerbung mit einem Foto von einem Oberkörper mit Narben nach einer Mastektomie. Im Kontext des Werbetexts gerät es zur Glorifizierung von irreversiblen chirurgischen Eingriffen.

Freiheitsversprechen einer nonbinären Identität

Doch wartet hinter „Nonbinary“ wirklich die große Freiheit von den Zumutungen des biologischen Geschlechts und ihm zugeordneter sozialer Geschlechternormen? IQN-Autorin Chantalle El Helou kritisiert in ihrem Essay Vom Queersexismus zur Emanzipation, dass die Entkörperung und Reduzierung von Geschlecht auf Gender und Identität zur Radikalisierung dessen führe, was als männlich und weiblich gilt und nicht zur Überschreitung der Geschlechtskategorien. Die sexistischen Stereotypen der Pole männlich-weiblich würden eben nicht hinterfragt, sondern stabilisiert, so El Helou. Individuelles Herausidentifizieren bricht keines dieser Stereotype. Ebenso wenig kann man das körperliche Geschlecht auf diese Weise loswerden.

Bemerkenswert ist, dass Nonbinary gerade für biologische Frauen derzeit ein attraktives Angebot zu sein scheint. Mögliche Gründe hierfür sind jedoch alles andere als leicht verdaulich. Der US-amerikanische Psychologe Jonathan Haidt hat in seinem 2024 erschienenen Buch Generation Angst eindrücklich beschrieben, wie der technologische Fortschritt mit allzeit verfügbarem Internet und Sozialen Medien via Smartphones die Lebenswelt von Heranwachsenden verändert hat.

In seinem Buch legt Haidt Zahlen vor, wie sich die psychische Gesundheit von Heranwachsenden, insbesondere der GenZ seit 2012 stetig verschlechtert hat. Zahlen, die auch die britische Pädiaterin Hilary Cass in ihrem Abschlussbericht über den umstrittenen Gender Identity Service (GIDS) für Minderjährige mit Geschlechtsdysphorie der Londoner Tavistockklinik bestätigt.

Frausein im Patriarchat

Eine wichtige Ursache ist für Haidt viel Raum einnehmende Smartphonenutzung ohne Schutz vor schädlichen Inhalten und Algorithmen. Gerade Mädchen seien durch Soziale Medien wie Instagram gefährdet. Sie neigen besonders dazu, sich mit anderen zu vergleichen, und die Struktur mit Likes tut ein Übriges, abhängig von dieser Art der Bestätigung zu machen. Überdies machen viele Mädchen Erfahrungen mit sexueller Belästigung und Missbrauch intimer Fotos im Internet oder werden früh mit reichlich Hardcore-Pornografie konfrontiert.

Hinzu kommt, dass Mädchen als anfälliger für soziogene, d.h. durch soziale Einflüsse hervorgerufene, Erkrankungen und Phänomene gelten. Das funktioniert auch über Soziale Medien, gerade wenn Influencer mit großer Reichweite ein Thema pushen. Beispielsweise häuften sich plötzlich in einigen Ländern Mädchen mit Symptomen eines Tourette-Syndroms, obwohl diese Erkrankung vornehmlich Jungen betrifft. Da sich die Symptome der betreffenden Mädchen glichen, fand man schließlich heraus, dass sie diese von einer britischen Influencerin mit Tourette-Syndrom nachgeahmt haben. Ähnlich verlief es mit der dissoziativen Identitätsstörung, die eigentlich eine seltene Erkrankung ist.

Unter dieser Rahmenbedingung kann ein soziogener Einfluss auch nicht ausgeschlossen werden, wenn es um die Zunahme von Identifikationen als trans oder nonbinary unter biologischen Mädchen und jungen Frauen geht.

Zudem liegt dem Begriff „Nonbinary“ ein fragwürdiges Verständnis zugrunde, wie beispielsweise El Helou anmerkt. Eine Identifizierung als Nonbinary könne nur funktionieren, indem man davon ausgehe, dass es Menschen gebe, „die vollständig im idealen Frau- und Mannsein aufgingen“. „Wenn man tatsächlich davon ausginge, dass das Frausein bedeutet, in idealisierter Weiblichkeit aufzugehen, dann gibt es keine empirischen Frauen“, so El Helou weiter.

Gerade die Zumutungen, denen Frauen in einer patriarchal geprägten Gesellschaft ausgesetzt sind, lassen es für Mädchen attraktiv erscheinen, sich dem mit einer Identifizierung als Nonbinary entziehen zu wollen. Anstatt jede noch so kleinteilige Identitätsbezeichnung inklusive Prideflaggen in Übersichten aufzunehmen, wie auf dem Poster einer österreichischen Beratungsstelle zu sehen, sollten eher Gesellschaft und Verhältnisse  für Mädchen und Frauen sicherer gemacht werden.

Wie Gender und Prideflaggen entstehen

Kennen Sie schon „Marmot-Neongender“ – also Murmeltier-Neongender?
Dahinter verbirgt sich folgende Definition: „It is a bi-genderous Xenogender. It is a demi-Faunagender-demi-Colorgender and related to marmots and the hate against dull colors.“
Entstanden ist es, als ich auf X verkündete, an einem Artikel über „Nonbinary“ zu arbeiten und mich gerade fühle wie ein schreiendes Murmeltier. Daraufhin fand sich ein kundiger User auf X, der dieses Gefühl treffenderweise dem Spektrum der „Faunagender“ zuordnete und die dazugehörige Prideflagge heraussuchte. Diese war in erdigen, gedeckten Farbtönen und gefiel mir daher nicht. Zum Glück hatte besagter User auch Expertise im Umgang mit Grafikprogrammen und so bekam ich eine Prideflagge, die mir gefiel. Dieser Entstehungsprozess einer neuen Prideflagge ist übrigens nicht ungewöhnlich, wie ein Blogpost im Queer Lexikon zeigt.

Männer und Nonbinary

Doch auch für Männer geht das Freiheitsversprechen nicht auf. Wahrhaftige Befreiung wäre, wenn man keine andere Identitätsbezeichnung bräuchte, um im Röckchen auf die Bühne zu gehen und in einer atemberaubenden Performance den ESC zu gewinnen oder Nagellack zu benutzen. Auf der anderen Seite kann eine Identifikation als Nonbinary Männern auch helfen, sich vor einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit Rollenmustern und Verhaltensweisen zu drücken.

Man kann sich weiterhin klassisch männlich verhalten, wie das Beispiel von „Maja T.“, einer sich als nichtbinär bezeichnenden biologisch männlichen Person, die in einem fragwürdigen Manöver von deutschen Behörden nach Ungarn ausgeliefert wurde. T. wird vorgeworfen, zusammen mit anderen im Februar 2023 in Budapest Rechtsextreme überfallen und brutal verprügelt zu haben.

So stellt sich am Ende die Frage, ob wir mit Nonbinary nicht doch allzu oft alten Wein in neuen Schläuchen serviert bekommen. Eine kritische Analyse, welche Funktion und welches Bedürfnis Identifikationen als Nonbinary erfüllen, wäre nötig. Dann könnte man sich um die gesellschaftlichen Baustellen kümmern, die dadurch offengelegt werden. Leider ist dies derzeit nicht in Sicht, stattdessen wird jede noch so skurrile Geschlechtsidentität affirmiert. Der Emanzipation erweist man damit einen Bärendienst.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.