IQN-Vorstand Jan Feddersen berichtet auf Facebook regelmäßig vom Leben in der Neuköllner Sonnenallee. Exklusiv für unseren Blog geht es in der 42. Folge nun über gelebte (und ungelebte) schwule Sexualität unter arabischen Männern.

19. Februar 2024 | Jan Feddersen

Freund B. möchte noch länger in der Fuldastraße wohnen bleiben, fast direkt über der vor Jahren abgebrannten Metzgerei, die inzwischen wieder den Laden geöffnet hat. Allerdings nur zur Hälfte, aus Gründen, die niemand kennt. Man munkelte um den Brand dieses definitiv nicht halalen Geschäfts. „Die einen“, sagt B., „raunten etwas von verweigerten Schutzgeldzahlungen, die anderen hielten sich entfernt von solchen verleumderischen Gerüchten.“ So oder so: B. hat es fein in seinem Mietshaus. Einige Arme in den Wohnungen, sie hoffen, wie so viele, auf ihre alten Mietverträge und außerdem auf genügend Kraft, es auch im hohen Alter noch im fahrstuhllosen Treppenhaus bis nach oben zu schaffen. Der gar nicht mal junge Mann wird sehr gemocht: Er ist von freundlichem Wesen, grüßt die Nachbarn, manchmal trägt er auch schwere Einkaufstaschen nach oben. Dass er schwul ist, wurde ihm selbst vor sehr vielen Jahren nicht übel genommen. Es heißt, wie eine Bekannte aus dem Nachbarhaus mir mal versicherte: „Ach, der B., der bringt immer so verschiedene Herren nach Hause mit – der kann sich wohl nicht für den Richtigen entscheiden.“ Beziehungsweise: „Der B., der hat ja viele Nachhilfeschüler.“

Schwules Leben unter muslimischen Männern

Nein, der kann sich weder für einen Schüler noch für eine Bekanntschaft – gängige Vokabel unter nicht mehr so jungen Ureinwohnern für Bratkartoffelverhältnisse, falls jemand dieses Wort noch kennt – entscheiden. Und so fragte ich ihn: „Sag mal, B., über meine Sonnenallee will ich nur Gutes schreiben, die Leute dort haben es nicht einfach, viel Rufschädigung ist im Spiel, denn sie können ja nichts für die vielen bonsaigroßen Demos, die an ihnen weitgehend vorbeiparadieren. Also: Wie steht’s ums schwule Leben unter unseren muslimischen Bürgern?“
Kneipen gibt es ja nicht, die meisten haben kein Geld, um ins nahe SchwuZ im Rollbergkiez einzukehren. Und so wie einige es im Tiergarten hielten, Flüchtlinge viele, die sich auf dem botanisch umrankten Strich n Euro verdienten: Das ist ja alles nicht von dieser Alltagswelt.

Eine Millisekunde zu lang

„Tja“, sagt B. mit seinen letzten Resten an bosnischem Akzent, sein Deutsch ist tadellos, aber er hat immer einen leichten Nachhall in der Sprache, der mich an Bata Illic erinnert. Zieht an seiner vierten Zigarette auf dem Stuhl vor dem „Le Brot“ und sagt: „Ich hörte vom wunderschönen Stadtbad Neukölln, da in den Duschen der Herren … .“ Aber da, so B., ziehe es ihn nicht hin, er mag den ganzen Aufwand nicht, hingehen, Eintritt bezahlen, umziehen und so weiter und so fort. Lieber habe er den spontanen Augenkontakt, dieser um eine Millisekunde zu lange Blick zwischen zweien … Ein Blick, der nicht checkend Aggression prüft, sondern, nun ja, Interesse. Und dann sehe man eben weiter.

„Wie“, insistiere ich, „siehst du weiter?“ „Na, entweder begleitet man sich beim Schaufenstergucken, ob der andere das ernst gemeint habe – und wenn es denn es dann safe sei, dass dieser akkurat winzig zu lang-interessierte Blick in einem anbahnenden Sinne gemeint sei, dann … .“ Tja, dann gehe man nach oben, treffe sich. Er wolle mir in einer Woche mehr erzählen, weil er ersichtlich mit den echten Details nicht einverstanden ist. Besser: Die genaueren Umstände doch ziemlich undeutlich geblieben sind.

Coming-Out total verboten

B. hat jetzt seine fünfte Zigarette geraucht, den dritten Kaffee intus und verrät nur noch dies: „Wenn zehn arabische Männer zusammenstehen, kann es sein, dass die alle mal was miteinander hatten – aber sie würden es sich niemals anmerken lassen.“ Ja, B. nun fasziniert von seiner eigenen Beobachtung: „Dass sie es sogar vergessen haben könnten. Wie jeder mal unerzählbare Begebenheit vergisst.“

Wahr ist jedenfalls, dass es unter arabischen Bürgern jede Menge schwule Exemplare geben muss. Wie überall und in allen Gruppen. Aber sie tauchen nicht in den wenigen noch verbliebenen schwulen Kneipen im Nollendorfkiez auf, sie mischen sich nicht in die üblichen Homomittelschichtsevents ein. Sie sind einfach, wie alle auch, erotisch interessiert. Als modernes Coming-Out und Going Public aber, ist genau das unter eben eingewanderten Bürgern ganz und gar total verboten: eine erotische No-Go-Area. Bei Strafe des Familienausschlusses – und diesen will, ja, darf niemand riskieren. Also ist es diskret, und das wird es gewiss auch bleiben.

B. fragt: „Noch nicht zufrieden mit der Aufklärungsstunde?“ Herzlichen Dank, nein. „Bald erzähle ich dir mehr“, verspricht er, „du wirst dich wundern.“


Jan Feddersen lebt in Berlin-Neukölln, seine bisher erschienenen Notizen „Meine Sonnenallee“ kann man auf Facebook finden. Außerdem ist er Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.