Das Selbstbestimmungsgesetz ist ins Stocken geraten – wieder einmal. Im Transaktivismus wächst die Sorge, dass das Gesetz noch auf den letzten Metern scheitern könnte. Zu offensichtlich sind die ungelösten Probleme um dieses Gesetz, auf die gerade die CDU/CSU hinweist.


Abgerissene Kalenderblätter liegen unordentlich auf einem Tisch

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21. Februar 2024 | Till Randolf Amelung

Das Selbstbestimmungsgesetz, eines von mehreren Projekten im Fortschrittsversprechen der Ampel-Regierung, läuft nicht nach Plan. Eigentlich hätte es noch vor dem Jahreswechsel 2023/24 in zweiter und dritter Lesung durch den Bundestag gebracht werden sollen. Als dies nicht passierte, wurden Wartende auf Januar vertröstet und schließlich auf Februar. Nun bleibt ungewiss, wann die Regierungskoalition aus SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP einen Anlauf wagen will. Passiert es noch im März? Oder erst kurz vor der parlamentarischen Sommerpause? Oder gar nicht mehr vor den Bundestagswahlen 2025?

 

Wachsender Pessimismus

Im Transaktivismus wächst die Sorge, dass das ersehnte Gesetz doch noch scheitern könnte. Besonders deutlich wird dies in einem Kommentar von Nora Eckert, Vorständin von TransInterQueer e.V., auf dem Online-Portal queer.de. Darin schreibt Eckert, dass sie wachsenden Pessimismus wahrnehme. Zugleich beschwört sie Gleichgesinnte, nicht aufzugeben: „Dass uns und der Ampelregierung die Zeit davonläuft, ist nicht zu bestreiten. Aber vor der Zeit und auf den letzten Metern etwas verloren geben, was wir dringend brauchen, das wäre fatal.“

Diese Ungewissheit, wie es mit dem Selbstbestimmungsgesetz weitergeht, liegt offenbar an interner Uneinigkeit innerhalb der Bundesregierung. Nach Einschätzung von politischen Korrespondenten verschiedener Medien im Bundestag gebe es innerhalb der regierenden Parteien zwei Lager. Die einen glauben, es wäre an der Zeit, die mutmaßlich nicht über die nächste Bundestagswahl im Herbst 2025 hinaus amtierende Regierung durchstarten zu lassen. Dieses Lager möchte bis dahin so viel an Reformen verabschieden, wie noch möglich ist. Dazu gehören auch die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen (Streichung des § 218) sowie das Gesetz zu „Verantwortungsgemeinschaften“. Die anderen sind dagegen und wollen bis zur Bundestagswahl von diesen Vorhaben nichts mehr umsetzen, weil alle Reformvorhaben nur der AfD und der Union Wahlkampfmunition liefern würden.

Die Nervosität unter Transaktivist_innen ist also berechtigt. Was Nora Eckert in ihrem Kommentar auch beschreibt, ist, dass der Entwurf für ein Selbstbestimmungsgesetz vielen Transaktivist_innen und ihren Verbündeten ohnehin nicht weit genug geht. Eckerts Sicht steht paradigmatisch dafür, wenn sie schreibt „dass etliche Paragrafen sich allein Missbrauchsängsten und Misstrauen“ verdanken. Darin sieht sie erhebliches „Diskriminierungspotential für diejenigen, denen das Gesetz das Leben eigentlich erleichtern soll und sie de facto dadurch nur behindert.“ Als Hindernis sehen Aktivist_innen wie Eckert jede Regelung, die eine rechtsverbindliche Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags allein auf Basis der Selbstaussage in irgendeiner Form einschränken könnten. „Selbstbestimmung“, so heißt es in ihrem Text, „ist ein elementares Freiheitsrecht“.

Zum Ende hin appelliert Eckert noch an die CDU/CSU, dass konservativ sein „ja wohl nicht die Anerkennung von Freiheitsrechten“ ausschließe. Um direkt im Anschluss vorzuwerfen, dass eine kritische Haltung zum Selbstbestimmungsgesetz das Geschäft der AfD betreibe.

 

92 Fragen der Opposition

Die Unionsparteien wiederum haben ihrer Ablehnung gegenüber diesem Selbstbestimmungsgesetz mehrfach Ausdruck verliehen. Kurz vor den Weihnachtsfeiertagen stellte die CDU/CSU-Fraktion in einer Kleinen Anfrage im Bundestag an die Regierung 92 Fragen zu diesem Gesetzesvorhaben und wies schon im Gewitter der Fragezeichensätze auf die vielen Lücken, Widersprüche und unklaren Rechtsfolgen des avisierten Gesetzes hin. So zum Beispiel in Frage Nr. 57: „Sieht die Bundesregierung einen Widerspruch darin, den Geschlechtseintrag vom persönlichen Empfinden abhängig zu machen und rechtliche Folgewirkungen daran anzuknüpfen, obwohl viele rechtliche Regelungen, z.B. die in § 8 SBGG-E, an das biologische Geschlecht anknüpfen?“

Die Antwort der Bundesregierung, die durch den Queerbeauftragten Sven Lehmann (Bündnis90/Die Grünen) erfolgte, bleibt eine Klärung der Frage hier schuldig – auch dies exemplarisch: „Die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität einer Person hat aus Sicht der Bundesregierung mit Blick auf den grundrechtlichen Schutz, der aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG) folgt, eine hohe Bedeutung. § 8 SBGG-E stellt jedoch klar, dass physische Gegebenheiten im Zusammenhang mit der Fortpflanzung unabhängig vom personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrag berücksichtigt werden.“ Ebenso lapidar wurden von der Bundesregierung Fragen behandelt, die sich speziell auf höhere Schutzinteressen von Kindern und Jugendlichen bezogen. So beantwortete Lehmann Fragen nach Gründen für den Verzicht auf verpflichtende Beratungen oder Gutachten für diese Gruppe wie folgt: „Unter den eingegangenen fachmedizinischen Stellungnahmen besteht weitgehend Konsens, keine verpflichtende Beratung oder Begutachtung von Kindern und Jugendlichen zu fordern, bevor diese ihren Geschlechtseintrag ändern dürfen.“ Ignoriert wird dabei, dass die Evidenzbasis für einen gender-affirmativen Ansatz bei Minderjährigen zunehmend als „schwach“ kritisiert wird. „Gender-affirmativ“ bedeutet, die Selbstaussage über die Geschlechtsidentität möglichst unhinterfragt zu bestätigen sowie eine frühzeitige Transition in sozialer, medizinischer, aber auch rechtlicher Hinsicht zu ermöglichen. Eine ausführlichere Exploration möglicher Hintergründe, die andere Ursachen für das Leiden unter dem körperlichen Geschlecht nahelegen würden, wird gerade von Transaktivist_innen als Angriff auf die geschlechtliche Selbstbestimmung verstanden.

 

Kritik am gender-affirmativen Ansatz

Unter den eingegangenen fachlichen Stellungnahmen zum Selbstbestimmungsgesetz gab es auch welche, die auf die Risiken dieses Ansatzes hingewiesen haben, zum Beispiel die des Erziehungswissenschaftlers und Psychoanalytikers Bernd Ahrbeck. Lehmann scheint diese offenbar auszublenden. Im Ausland steht ein gender-affirmativer Ansatz bei Minderjährigen hingegen längst in der Kritik. Andere Länder, vornehmlich in Europa, sind davon bereits abgerückt, nachdem sie die Evidenzbasis prüfen ließen. Die Bundestagsabgeordnete Susanne Hierl (CSU) legte deshalb im Januar 2024 nach und reichte schriftlich die Frage ein, wie die Bundesregierung die Entwicklungen beispielsweise um die britische Tavistockklinik, deren Gender Identity Developement  Service (GIDS) nach einem vernichtenden Untersuchungsbericht in der bisherigen Form abgewickelt wurde, und die wachsenden Zweifel an der Evidenzbasis des „Dutch Protocols“ bewerte. Das „Dutch Protocol“, welches an der Universitätsklinik Amsterdam entwickelt wurde, ist die Grundlage für den gender-affirmativen Ansatz, insbesondere mit der Gabe von sogenannten Pubertätsblockern und der anschließenden Einleitung der gewünschten Pubertät durch gegengeschlechtliche Hormone. Zuletzt hat die konservative Premierministerin der kanadischen Provinz Alberta, Danielle Smith, verkündet, in ihrer Provinz der in Kanada insgesamt sehr weit verbreiteten gender-affirmativen Praxis bei Minderjährigen Grenzen setzen zu wollen. Ab Herbst 2024 sollen in Alberta zum Beispiel Jugendliche unter 15 Jahren keine Pubertätsblocker mehr bekommen dürfen und geschlechtsangleichende chirurgische Eingriffe bei unter 17-jährigen sollen verboten werden.

Der Queerbeauftragte Lehmann entgegnete auf die Frage Hierls lapidar, dass die Bundesregierung „derlei Vorgänge im Ausland“ nicht beurteile und verwies darauf, dass das Selbstbestimmungsgesetz keine medizinischen Behandlungen regele. Damit verschließt die Bundesregierung die Augen davor, dass hinter dem gender-affirmativen Ansatz verschiedene Maßnahmen stehen, bei denen es keinen Sinn ergibt, sie isoliert voneinander zu betrachten. Wer eine rechtswirksame Änderung des Geschlechtseintrags wünscht, beschäftigt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bereits mit medizinischen und sozialen Transitionsschritten. Entsprechend unzufrieden mit den Antworten äußerte sich die Abgeordnete Hierl gegenüber dem Münchener „Merkur“, dass Lehmann alle berechtigten Zweifel ignoriere und stur seine Ideologie vertrete.

 

Konfliktpotenzial mit Ansage: eine Klassenfahrt

Dabei ist längst auch jenseits medizinischer Behandlungen absehbar, dass es zu Konflikten kommt, wenn wir keinen gemeinsamen Referenzrahmen, also Verständnis von Geschlecht haben. Ebenso, wenn wir Kindern und Jugendlichen die gleiche Entscheidungsfähigkeit zuerkennen wie Erwachsenen. Auf X war neulich anonymisiert zu lesen, wie eine Lehrerin daran scheiterte, eine Klassenfahrt durchführen zu können: Zwei 16-jährige biologisch männliche Jugendliche in der Klasse hätten sich erst kürzlich zu Mädchen erklärt. Nun bestünden sie darauf, als Mädchen behandelt und gemeinsam mit ihren Klassenkameradinnen im Zimmer untergebracht zu werden und auch mit ihnen die Gemeinschaftsduschen zu nutzen. Kompromissvorschläge, wie separate Duschzeiten und ein Zweibettzimmer für die beiden Jugendlichen seien von diesen abgelehnt worden. Sie seien schließlich Mädchen, so heißt es auf X. Daraufhin hätten mehrere muslimische Eltern ihre Töchter von der Klassenfahrt wieder abgemeldet. Auch andere Mädchen hätten nicht mehr mitgewollt. Die Schule habe die betreffende Lehrerin mit der Situation allein gelassen, sodass diese die Fahrt schließlich absagte. Soweit die Geschichte auf X. Nachfragen mit der Bitte um Verifizierung blieben bisher unbeantwortet.

In der Konstellation und Darstellung aber sind diese Schilderungen exemplarisch für die Konflikte, die sich daraus ergeben, wenn die Aussage über das eigene Geschlecht ausschließlich der Selbstbestimmung überlassen wird. Selbstbestimmung kann überdies nicht als einseitig gewährtes Prinzip funktionieren, ohne den gesellschaftlichen Frieden zu gefährden. Im Hinblick auf mehrheitlich eher konservativere Muslime wird sich so manches queeraktivistische Vielfalts-Wimmelbild als romantische Phantasie entpuppen, welche mit der Realität wenig zu tun hat. Ein Bekannter schrieb mir neulich zudem, dass einige türkische Familien in seinem Umfeld nun auch die Debatten um das Selbstbestimmungsgesetz mitbekämen und dies für verrückt hielten.

 

Selbstbestimmungsgesetz als Urnengift?

Möglicherweise bemerken es auch zunehmend mehr Abgeordnete der Ampel-Koalition, dass Geschlecht als etwas rein Selbstbestimmtes gegenüber vielen Wähler_innen stark erklärungsbedürftig ist. Vielleicht sogar, dass unter diesen Abgeordneten selbst enthusiastische Zustimmung abhandengekommen ist oder ihnen erst jetzt zu Bewusstsein dringt, welche Dimensionen dieses Vorhaben hat. Die konfliktgeladene Stimmung in der Ampel-Koalition sowie bereits im Herbst dieses Jahres anstehende Landtagswahlen könnten die Bereitschaft, Risiken mit gewagten Reformprojekten einzugehen, negativ beeinflussen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Reform wie das Selbstbestimmungsgesetz in der derzeitigen gesellschaftspolitischen Atmosphäre für SPD, Grüne und FDP zum Urnengift wird, ist hoch.

Doch wer stellt sich nun hin und macht dies transparent? Das Eingeständnis des Scheiterns beim Selbstbestimmungsgesetz scheint unumgänglich, damit anschließend Wege gefunden werden können, das Transsexuellengesetz zu reformieren. Radikale Ideolog_innen müssen nun abtreten und an Realos übergeben, wenn nach dieser Hängepartie überhaupt noch etwas herauskommen soll. Moralische Erpressung und jegliche Kritik als „AfD-nah“ zu beschmieren, sind dabei allerdings kontraproduktiv.

 


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Texte von ihm, insbesondere zu politischen, transaktivistischen Zielen sind auch im Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze) erschienen. Zum Selbstbestimmungsgesetz äußerte er sich in diesem Blog bereits: Wird der Bademeister zum Gutachter? und Der Gesetzesentwurf, mit dem kaum jemand glücklich ist.

Transparenzhinweis: Zum Selbstbestimmungsgesetz wurde er im Familienausschuss des Bundestages als Sachverständiger auf Einladung der CDU/CSU angehört. Ein Auszug wurde hier veröffentlicht.