Paradigmenwechsel in den Niederlanden?

Auch in den Niederlanden scheint es in der Transfrage einen Kurswechsel zu geben: Anfang April 2024 wurde bekannt, dass die politische Zustimmung zu einem Selbstbestimmungsgesetz schwindet. Und das hat mit einer neuen Studie zu tun, die zeigt, dass Verunsicherungen mit der eigenen Geschlechtsidentität im Teenageralter häufiger sind als bisher bekannt.


Blick vom Binnenhof auf das niederländische Parlamentsgebäude in Den Haag.

Blick vom Binnenhof auf das niederländische Parlamentsgebäude in Den Haag (Foto von Marjoline Delahaye auf Unsplash)


7. April 2024 | Till Randolf Amelung

Unser Nachbar die Niederlande, hat den Ruf, in vielen gesellschaftspolitischen Fragen liberaler als die deutsche Gesellschaft zu sein. Zum Beispiel war Homosexualität dort schon im frühen 20. Jahrhundert weitgehend straffrei. Doch nun berichtete das niederländische Nachrichtenportal „AD“ am 3. April 2024, dass es wohl kein Selbstbestimmungsgesetz in den Niederlanden geben wird.  Die Partei Nieuw Sociaal Contract (NSC) möchte einen Antrag im Parlament für die (transaktivistisch motivierte) Änderung der niederländischen Version des Transsexuellengesetz (TSG) zurückziehen. Mit der Gesetzesänderung wollte man die Transpersonen die Änderung des Vornamens und amtlichen Geschlechtseintrags erleichtern. Wäre der Plan aufgegangen, hätte jeder ab 16 Jahren gegenüber den Behörden erklären können, dass er männlich oder weiblich ist, ohne ein ärztliches Attest vorlegen zu müssen. Nach den derzeitigen Regelungen ist ein ärztliches Attest noch Pflicht. Minderjährige unter 16 Jahren hätten mit der geplanten Reform für die Änderung ihres Geschlechtseintrags die Erlaubnis eines Gerichts gebraucht.

 

Abkehr von Self-ID

Der jetzige Rückzug der NSC von diesem Reformvorhaben ist durchaus bemerkenswert, immerhin stand diese Partei einem Selbstbestimmungsgesetz mal positiv gegenüber. Nach den letzten Parlamentswahlen gibt es keine Mehrheit mehr für eine Reform. Abgeordnete in der NSC sind auch nicht mehr von einer Lösung nach dem Selbstbestimmungsprinzip überzeugt. „Wir sind absolut nicht gegen eine Geschlechtsangleichung“, sagte die Abgeordnete Nicolien van Vroonhoven gegenüber „AD“. „Aber es sollte auch nicht zu einfach sein. Es gibt reale Risiken für die Sicherheit von Frauen. In England zum Beispiel sieht man, dass Männer plötzlich Zugang zu Frauengefängnissen bekommen. Das sollten wir nicht wollen.“

Kritiker*innen halten dies für Schauermärchen. „Das Repräsentantenhaus könnte eine konservative Wende einschlagen“, sagte der D66-Abgeordnete Joost Sneller laut „AD“, „und das Streben nach individueller Freiheit, das für die Niederlande charakteristisch ist, aufgeben. Anscheinend sind die Rechte aller niederländischen Bürger nicht mehr garantiert.“

 

Das „Dutch Protocol“ in der Kritik

Nicht nur in Bezug auf ein Selbstbestimmungsgesetz hat sich die Lage in den Niederlanden geändert. Es gibt auch zunehmend Kritik an einem Behandlungskonzept für Minderjährige mit Geschlechtsdysphorie, also einem tiefgreifenden und andauernden Unbehagen mit den körperlichen Geschlechtsmerkmalen, welches seinen Ursprung in der Amsterdamer Universitätsklinik hat. Dieses Konzept, was als „Dutch Protocol“ bekannt ist, sieht nach gesicherter Diagnostik, dass ein junger Mensch mit hoher Wahrscheinlichkeit Trans ist, den Einsatz von Pubertätsblockern und Geschlechtshormonen vor. Damit soll ihnen Leid durch eine als falsch empfundene Pubertät erspart und ein reibungsloseres Leben im Identitätsgeschlecht ermöglicht werden. Doch das „Dutch Protocol“ steht in der Kritik. In mehreren Ländern haben Untersuchungen gezeigt, dass die medizinische Evidenzbasis schwach ist und Risiken ungeklärt sind. Transaktivist_innen befürworten das „Dutch Protocol“ und verbinden mit diesem einen gender-affirmativen Ansatz. „Gender-affirmativ“ meint, dass die Äußerung eines Kindes oder Jugendlichen über die eigene Geschlechtsidentität von Beginn an bestätigt und nicht hinterfragt wird.

 

Unbehagen mit dem Geschlecht

Nun wurde im Februar dieses Jahres eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass Verunsicherung mit der eigenen Geschlechtsidentität unter Jungen und Mädchen in der Pubertät häufig vorkommt – besonders oft bei Heranwachsenden, die nicht homosexuell sein wollen. Ein Team von Psycholog*innen der Universität Groningen untersuchte die Entwicklung der Unzufriedenheit mit dem Geschlecht, von der frühen Adoleszenz bis zum jungen Erwachsenenalter, und deren Zusammenhang mit Selbstkonzept, Verhaltens- und emotionalen Problemen sowie der sexuellen Orientierung. In die Studie wurden Daten von 2772 Jugendlichen einbezogen, davon waren 53 Prozent biologisch männlichen Geschlechts.

Wichtige Erkenntnisse aus dieser Studie: Personen mit einer zunehmenden geschlechtsspezifischen Unzufriedenheit waren häufiger weiblich und sowohl eine zunehmende als auch eine abnehmende Entwicklung war mit einem geringeren Selbstwertgefühl, mehr Verhaltens- und emotionalen Problemen und einer nicht-heterosexuellen sexuellen Orientierung verbunden. Während die Unzufriedenheit mit dem Geschlecht im frühen Jugendalter häufig vorkommt, nimmt sie im Allgemeinen mit zunehmendem Alter ab und scheint mit einem schlechteren Selbstbild und einer schlechteren psychischen Gesundheit während der gesamten Entwicklung verbunden zu sein.

Die Daten legen nahe, dass Unbehagen/Unzufriedenheit mit dem eigenen biologischen Geschlecht in der Pubertät durchaus häufiger auftritt, weshalb Medikamente wie Pubertätsblocker kein Mittel der ersten Wahl sein sollte. Auch sollte das Unbehagen zunächst ergründet werden, am besten mit kompetenter psychotherapeutischer Begleitung. Dies dürfte gerade Transaktivist_innen sehr missfallen, da sie jedes Hinterfragen als „Konversionstherapie“ und „Gatekeeping“ abkanzeln.

 


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations.