Warum wurde in den „Pädophiliedebatten“ der 1970ern bis 90er den betroffenen Kindern der Opferstatus systematisch vorenthalten und warum konnten Täter mit ihren Forderungen und Strategien so lange reüssieren? In einer bemerkenswerten Queer Lecture analysierte Dr. Jan-Henrik Friedrichs die dunklen Flecken westdeutscher Emanzipationsbewegungen seit 1968.


Ja, es gab sie im Publikum dieser Queer Lecture, eine kleine Zahl von Zuhörern, die die Fragestellung, ob Pädosexualität ein eigenständiges sexuelles Triebschicksal ist (so wie Hetero- und Homosexualität), wahrscheinlich bejahen würden. Doch sie blieben die ausdrückliche Minderheit. Das große Mehrheit der Anwesenden dürfte eher den Terminologien der Sexualwissenschaft folgen und Pädosexualität als Störung einordnen.

Doch wer nun glaubte, in dieser erste Queer Lecture des Jahres 2020 unter dem Titel „Pädophilie: Verbrechen ohne Opfer?“ ginge es um jene Frage, irrte erheblich. Diese Fragestellung stand überhaupt nicht zur Debatte, wie Referent Dr. Jan-Henrik Friedrichs deutlich klarstellte: er sei kein Sexualwissenschaftler, er könne und wolle nichts dazu sagen.

Sein Thema sei der sozialwissenschaftliche Diskurs um Pädophilie in den siebziger bis neunziger Jahren: Wie konnte es dazu kommen, dass die Perspektive der Opfer – Kinder, Heranwachsende – in jenen Jahren in der Debatte um die Aufhebung der Altersgrenzen zum Schutz von Minderjährigen ignoriert wurde und gar das populäre Magazin „betrifft: erziehung“ pädosexuelle Handlungen als „opferlos“ schilderte?

Auf welche Weise konnten die Perspektiven von (allermeist) Männern gewichtig genommen werden, doch die von Kindern und Heranwachsenden nicht? Gesellschaftliche Machtverhältnisse, etwa zwischen den Generationen, wurden hier ignoriert und trugen zugleich dazu bei, dass Kindern der Opferstatus systematisch vorenthalten wurde. Dies betraf vor allem Mädchen sowie Kinder aus armen Verhältnissen und aus dem globalen Süden, so Friedrichs.

Faktisch bagatellisierende Strategien

Moderiert von Prof. Juliane Jacobi, einst Professorin für Historische Sozialisationsforschung an der Universität Potdam, hörte das Publikum dem Referenten gebannt zu: Friedrichs umriss eine Zeit, in der auch die Sexual- und Erziehungswissenschaften – nicht nur die Partei der Grünen – sich den Anliegen von Pädosexuellen und ihren Verbänden gegenüber mehr als nur offen zeigten.

Friedrich monierte, dass die Akteure der klassischen Schwulenbewegung der siebziger bis frühen neunziger Jahre bis heute nicht hinlänglich über ihre faktisch bagatellisierenden Strategien zur sexuellen Gewalt wider Kinder und Heranwachsende in den Diskurs getreten sind.

Was die Pädo-„Aktivisten“ am Mittwochabend zu hören bekamen, dürfte ihnen nicht gefallen haben

Die Queer Lecture war sehr gut besucht, mehr als 60 Menschen hörten Friedrichs, der seinen Forschungen an der Universität Hildesheim bei Prof. Meike Baader nachging, zu. Unter den Zuhörenden auch Dr. Christine Bergmann, einst in rotgrünen Zeiten Familienministerin, später Opferbeauftragte der Bundesregierung zur sexuellen Gewalt an Kindern. Ebenso im Publikum Menschen, die sich um die Opfer des „übersehenen“ Gewaltkomplexes kümmern, etwa der „Eckige Tisch“. Und eben auch jene Personen, die zum pädosexuellen Lobbykreis mit zu zählen sind. Um diesen kein Forum zu bieten, wurden Co-Referate strikt unterbunden und für den Fall der Missachtung der Verweis aus der Veranstaltung angedroht.

Die Queer Lecture im Konferenzraum des taz Naubaus, welcher freundlicherweise von Verlag der taz zur Verfügung gestellt wurde, lebte in ihrer Lebendigkeit auch von einer erstmals praktizierten Reißverschluss-Fragestunde nach dem Vortrag: jeweils zwei Fragen, je eine Frau und ein Mann, keine Statements oder Co-Referate etwa selbstpromotioneller Art.

Irriges im AfD-Twitter

Freilich, die sog. AfD twitterte hernach aus ihren Reihen im Berliner Abgeordnetenhaus in üblicher Manier – irrig bis lügnerisch. Wörtlich heißt es da etwa: An der Queer Lecture „teilgenommen hatte auch der bekennende Päderast Dieter Gieseking vom Pädonetzwerk Krumme13. Die Veranstalter hatten diese im Internet angekündigte Provokation kommentarlos hingenommen. Das ist eine unglaubliche Zumutung für Opfer, die deswegen vor der Tür blieben. Es ist ein Skandal, dass taz-Journalist Feddersen nicht einschritt und Gieseking mit seinen Pro-Missbrauch-Kumpanen zur Veranstaltung zuließ. Die Moderatorin der Veranstaltung erteilt den Missbrauchsleugnern und pädosexuellen Aktivisten sogar das Wort: In ihren Äußerungen relativierten sie anschließend den Kindesmissbrauch. (…)“

Diese Darstellung trifft nicht zu: Niemand blieb vor der Tür aus Protest, auch erteilte die Moderatorin Juliane Jacobi weder Gieseking noch anderen bekannten pädosexuellen Aktivisten das Wort. Relativierenden Andeutungen wurde entschieden widersprochen. Was diese „Aktivisten“ am Mittwochabend zu hören bekamen, dürfte ihnen nicht gefallen haben.

Der Abend lebte atmosphärisch vom Gegenteil dessen, was beim Gründungsparteitag der Grünen im Januar 1980 in puncto Indianerkommune der Fall war: Ein falsches, opferbelastendes Verständnis von dem, was Pädophile wünschen oder für wünschbar halten. Jan-Henrik Friedrichs wusste die Zeit nach dem angeblich magischen „1968“ smart zu dekonstruieren: auch eine Ära der Bagatellisierung von Gewalt gegen Minderjährige, gerade im sexuellen Bereich.

Damals, so Friedrichs, sei es wissenschaftlich nicht üblich gewesen, Fragen von „race“ und „class“ zu stellen: Gerade in dieser Hinsicht, lässt sich nach Friedrichs Ausführungen resümieren, haben Pädophile propagandistisch ihre Anliegen verbrämt – etwa mit Werbung für Ferien in maghrebinischen Ländern oder für Betreuungsverhältnisse mit proletarischen Jugendlichen.

Diese Queer Lecture, so die Reaktion vieler Zuhörender, war eine der im besten Sinne bürgerlichen Selbstaufklärung: Friedrichs hinterließ ein nachdenkliches Publikum, für viele aus diesem mit einem starken Bündel an Stoff zum Weiterdenken.

IQN, Berlin, 18.01.2020


Titelbild: Andrew Neel/Unsplash (Symbolbild)