Rehabilitierung und Entschädigung der nach dem § 175 und analoger Strafrechtsbestimmungen in Deutschland zwischen 1949 und 1994 verfolgten homosexuellen Menschen.
Bis zur Reform des Paragraphen 175 StGB im Jahre 1969 wurden homosexuelle Männer in der Bundesrepublik Deutschland verfolgt, selbst wenn sie als Erwachsene einvernehmliche Beziehungen miteinander hatten. Aus heutiger Sicht – aber auch an den Maßstäben der damaligen Zeit gemessen – ist diese Strafverfolgung als skandalös und als klares Unrecht zu bezeichnen, zumal die Bundesrepublik zwischen 1949 und 1969 die erheblich verschärfte NS-Fassung des Paragraphen 175 aus dem Jahr 1935 beibehielt und auch drakonisch anwendete. Dass es auch anders ging, machte ausgerechnet die in der DDR herrschende (und ansonsten oft alles andere als rechtsstaatlich agierende) SED-Diktatur deutlich, die bereits um 1950 die NS-Fassung des Paragraphen 175 außer Kraft besetzt hatte, um zur weniger repressiven Fassung von 1871 zurückzukehren und die darauf basierende Strafverfolgung bereits Ende der 1950er Jahre nahezu einzustellen – zur selben Zeit, als diese Strafverfolgung in der Bundesrepublik ihren Höchststand erreichte und in einem einzigen Jahr mehrere Tausend homosexuelle Männer verurteilt wurden. Man muss daran erinnern, dass – abgesehen von der noch ungleich schärferen Verfolgung unter der NS-Diktatur – in der frühen Bundesrepublik weitaus mehr Menschen auf Basis des Paragraphen 175 angeklagt und verurteilt worden sind als im Kaiserreich oder in der Weimarer Republik. Der Wirkzusammenhang mit der vorangegangenen NS-Herrschaft ist sowohl ideell (im Sinne einer aggressiven Verteidigung einer heteronormativen Gesellschaftsstruktur) als auch personell (mit zahlreichen Kontinuitäten unter den Beamten von Polizei und Justiz) nicht zu bestreiten.
Zehntausenden Menschen wurde dadurch ihr Leben von Staats wegen ruiniert, eine bürgerliche Existenz unmöglich oder sehr schwer gemacht, berufliche Karrieren verhindert oder zerstört. Hinzu kamen zahlreiche durch die Strafverfolgung ausgelöste Tragödien im Familien- und Freundeskreis der betroffenen Menschen. Auch Selbstmorde oder Selbstmordversuche aus Verzweiflung kamen im Angesicht drohender Strafverfolgung vor. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik zwischen 1949 und 1994 rund 64.000 Menschen nach Paragraph 175 bzw. 175a verurteilt worden sind – davon die große Mehrheit von 50.000 in der Frühphase der westdeutschen Demokratie bis 1969. Hinzu treten etwa 4.300 Verurteilungen in der DDR, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Hierzu zählt auch der Umstand, dass zwischen 1968 und 1989 in der DDR homosexuelle Frauen in die damals gültige Strafandrohung einbezogen wurden.
Auch nach 1968/69 – als zuerst die DDR und wenig später die Bundesrepublik die einvernehmliche Sexualität unter erwachsenen homosexuellen Männern endlich entkriminalisierten – war somit die Existenz eines diskriminierenden Sonderstrafrechts für Homosexuelle längst noch nicht beendet. Statt denberechtigten Schutz von minderjährigen Jugendlichen oder beruflich Abhängigen in allgemeiner Weise zu regeln, führte die 1968/69 erfolgte Abschaffung des solche Fragen betreffenden, überhaupt erst vom NS-Regime 1935 eingeführten Spezialparagraphen 175a sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland zu Neufassungen, die entsprechende homosexuelle Straftaten weiterhin härter bestraften als vergleichbare heterosexuelle. Dieses Sonderstrafrecht bestand in der DDR bis 1988/89, als noch die SED-Diktatur es ersatzlos abschaffte – was in der vereinigten Bundesrepublik für deren westdeutschen Teil erst 1994 erfolgen sollte. Erst damit wurde der Schandparagraph 175 endgültig Vergangenheit.
Letzteres gilt freilich nicht für die auf der Grundlage dieses Sonderstrafrechts Verurteilten, die bis heute als vorbestraft gelten müssen. Die nunmehr vom Bundesminister der Justiz kundgegebene Absicht der Bundesregierung, ausdrücklich alle Verurteilungen zwischen 1949 und 1994 mit Blick auf Rehabilitation überprüfen zu wollen, ist daher nachdrücklich zu begrüßen. Diese Überprüfung muss aus Sicht des Fachbeirats der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld in der überwiegenden Zahl dieser nahezu 70.000 Fälle in Deutschland unbedingt zu einer Rehabilitierung führen – nämlich in all jenen Fällen, deren Tatbestände nicht auch nach heute geltendem Recht als strafwürdig zu bewerten wären.
Der Fachbeirat der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld hält es für längst überfällig, das damals gegen Zehntausende von Menschen gerichtete strafrechtliche Unrecht offen beim Namen zu nennen, die Verfolgten dieses Sonderstrafrechts für Homosexuelle juristisch umfassend zu rehabilitieren und ihnen eine angemessene Entschädigung zu zahlen. Da viele verfolgte Menschen inzwischen verstorben sind, andere heute noch lebende Verfolgte die juristische und soziale Stigmatisierung nicht überwunden haben, sollte zu dieser dringend gebotenen individuellen Entschädigung auch eine kollektive Entschädigung in Form einer deutlich besseren und dauerhaft tragfähigen Ausstattung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld treten. Damit wäre in Erinnerungspolitik, Bildung und Forschung jene heute noch unabdingbare Aufklärungsarbeit zu leisten, damit sich nicht nur solches Unrecht, sondern auch die diesem Unrecht zu Grunde liegende gesellschaftliche Abwertung und Diskriminierung in Deutschland niemals wiederholen können.
Berlin, im Juni 2016
Der Fachbeirat der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld
Sabine Balke, Soziologin, Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek Berlin
Prof. Dr. Andrea Bieler, Theologin, Kirchliche Hochschule Wuppertal-Bethel
Prof. em. Dr. Martin Dannecker, Soziologe, Dt. Gesellschaft für Sexualforschung
Prof. Dr. Nina Degele, Soziologin, Universität Freiburg/Br.
Dr. Norman Domeier, Historiker, Universität Stuttgart
Ralf Dose M.A., Historiker, Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V., Berlin
Gudrun Held, Bundesverband der Eltern, Freunde u. Angehörigen v. Homosexuellen
Benjamin Kinkel, Politikwissenschaftler, Landeskoordinator SchLAu NRW
Dr. Rainer Marbach, Theologe. Stiftung Akademie Waldschlösschen, Reinhausen
Dr. Klaus Müller, Soziologe, Berlin
Uwe Neumärker, Direktor Stiftung Denkmal f. die ermordeten Juden Europas, Berlin
Prof. Dr. Rainer Nicolaysen, Historiker, Universität Hamburg
Prof. Dr. Michael Schwartz, Historiker, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin
Dr. Beate Tyralla, Medizinerin, Wirtschaftsweiber e.V.
Lucie Veith, Doz. für Gestaltung, Intersexuelle Menschen e.V.