Offener Brief einer in Berlin lebenden israelischen Lesbe an das Orga-Team

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Redaktioneller Vorspann: Die antisemitisch motivierte Aggression gegen eine kleine jüdische Gruppe auf der Soli-Party des Dyke March am 8. Juli 2024 in der „Möbel Olfe“ erschüttert jüdische Queers.  Dieser Vorfall steht jedoch in einer Reihe mit seit dem 7. Oktober 2023 sprunghaft angestiegenen offen bekundeten Antisemitismus – auch in linksprogressiven Kreisen. Nahezu alle größeren queeren Organisationen und Medien schweigen weiterhin zu der bedenklichen Entwicklung, die ebenso in queeren Communities sichtbar wird. Die Initiative Queer Nations will das nicht hinnehmen und dokumentiert deshalb den Offenen Brief von An, einer seit über 10 Jahren in Berlin lebenden israelischen Lesbe. Aus Angst vor Anfeindungen will sie anonym bleiben.


24. Juli 2024 | An

Hallo, Dyke March Team,

mein Name ist An und ich bin eine israelische und jüdische Lesbe, die in Berlin lebt. Ich weiß, dass Ihr vielleicht sagt, dass Euer kleines Team von Freiwilligen kein Interesse oder keine Kapazität hat, sich damit zu befassen, aber ich muss meine Meinung zu Euren jüngsten Aussagen sagen.

Dieses Jahr war mir klar, dass ich beim Dyke March nicht willkommen sein würde. Ihr habt das Thema der diesjährigen Veranstaltung als Widerstand gegen „Siedlerkolonialismus, Völkermord und Apartheid“ beschrieben und mit Wassermelonen und Bildern von der „Möbel Olfe“, wo die Dreiecke auf dem Schild rot eingefärbt waren, weitergeführt. Das rote Dreieck als Symbol für die Unterstützung der Hamas ist seit Monaten höchst umstritten und in Berlin inzwischen verboten.

95 Prozent meiner Familie wurden im Holocaust ausgelöscht, und die verbleibende Handvoll, die nicht ermordet wurde, beschloss 1951, nach Israel zu ziehen, weil Europa nicht sicher war und sie nirgendwo anders hinwollte. Das macht mich also zur Zionistin.

Meine Großeltern waren es gewohnt, Zeichen und Symbole zu sehen, die ihnen sagten, dass Juden nicht willkommen waren, aber wir schreiben das Jahr 2024. Die Hamas hat bei zahlreichen Gelegenheiten gesagt, dass sie den 7. Oktober immer wiederholen wird, wenn sie die Möglichkeit dazu hat.

In Berlin gibt es über 5000 Stolpersteine. Habt Ihr eine Ahnung, wie es sich anfühlt, im Massengrab meines Volkes zu leben und zu sehen, wie diejenigen, die angeblich Verbündete sind, ihre Veranstaltungen mit Symbolen der Judenvernichtung bewerben? Eure Behauptung, gegen Antisemitismus zu sein, ist hohl.

Ich möchte keine Palästinenser töten. Ich wünsche mir keinen weiteren Krieg. Ich bete täglich dafür, dass Netanjahu seinen Sitz aufgibt und dass Israelis und Palästinenser endlich Frieden miteinander schließen.

In Israel leben seit Jahrtausenden immer wieder Juden neben anderen Gruppen, wir sprechen eine semitische Sprache, die Archäologie und unsere DNA verbinden uns mit der Levante. Das ist kein Siedlerkolonialismus. Es gibt 152 Moscheen in Israel, und es gibt arabische Mitglieder der Knesset, so wie es sie seit 1949 immer gegeben hat. Es gibt viel zu verbessern, aber dies ist kein Apartheidstaat. Einer meiner ältesten besten Freunde in Tel Aviv ist ein schwuler Palästinenser, der aus seinem Dorf fliehen musste, um nicht geköpft zu werden. Bis heute lebt er mit seinem israelischen Freund friedlich in Tel Aviv.

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat nicht festgestellt, dass im Gazastreifen ein Völkermord stattfindet, er hat Israel lediglich geraten, sich zu bemühen, einen solchen zu vermeiden, was es auch tun sollte. Welche andere Armee ist verpflichtet, den Feind zu versorgen, der 120 seiner Leute als Geiseln hält und die letzten 17 Jahre damit verbracht hat, zivile Gebiete zu bombardieren? Ich habe unzählige Kriege und zwei Intifada miterlebt. Die meisten von Euch haben noch nie einen Krieg erlebt und behaupten aus der Ferne, sie wüssten es irgendwie besser als der IStGH. Ihr konntet Euch nicht einmal die Mühe machen, die Geiseln in Eurem Beitrag zu erwähnen.

Der Dyke March und viele andere Berliner Institutionen haben beschlossen, mich und andere Israelis, Juden und Verbündete mit diesen falschen Behauptungen auszustoßen, von denen keine notwendig war, um Unterstützung für palästinensische Queers zu zeigen. Aber anscheinend ist der Davidstern jetzt eine Provokation. Und wenn Eure Unterstützer von „Möbel Olfe“ uns physisch einschüchtern und sagen, wir seien „zionistische Schweine“, dann beschwert Ihr Euch, dass Ihr selbst angegriffen werdet. Wenn wir fragen, ob der Marsch für uns sicher sein wird, bezeichnet Ihr das als Manipulation – Eure wahre Antwort ist nur zu deutlich. Er ist nicht sicher für Juden.

Was mich wirklich erstaunt, ist das Ausmaß an Gewalt, das die Queer-Community anderen Queers in diesen Tagen zufügt. Man hat wirklich das Gefühl, dass wir zu Feinden geworden sind. Wir bekämpfen uns gegenseitig, anstatt einen Diskurs zu führen und uns für den Frieden einzusetzen. Die Geschichte war nicht freundlich zu Queers, die Antisemitismus über Verbündet sein stellten, und Ihr habt die Wahl, etwas anderes zu tun, wenn Ihr Euch traut.

Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.