Anfang September 2019 stellte Dr. Marion Hulverscheidt in einer Queer Lecture die medizinhistorische Geschichte von Karl M. Baer vor, der 1885 als Martha Baer geboren wurde. Thomas Doktor hat die Lecture gesehen und berichtet für queernations.de.

1907 erschien in Berlin unter dem aussagekräftigen Pseudonym N.O. Body der Roman „Aus eines Mannes Mädchenjahren“, in dem ein aus der hessischen Provinz stammender Mensch schildert, wie er als Mädchen aufwuchs und wie es ihm erst als Volljähriger, unterstützt durch Gutachten, u.a. von Magnus Hirschfeld gelang, eine Änderung des Eintrags ihres Geschlechts in der Geburtsurkunde zu bewirken, um fortan als Mann weiter zu leben.

Am 09. September 2019 hielt die Medizinerin Dr. Marion Hulverscheidt auf Einladung der Intiative Queer Nations in der taz Kantine eine Queer Lecture, die das an Wechselfälligkeiten und Schicksalsschlägen überbordende Leben dieses Menschen weniger unter der Menschenrechtsperspektive als vielmehr unter medizinhistorischen Gesichtspunkten beleuchtete. Dr. Marion Hulverscheidt promovierte über weibliche Genitalverstümmelung im deutschsprachigen Raum im 19. Jahrhundert und arbeitet mit Schwerpunkten im medizin- und wissenschaftshistorischen Bereich, verfügt aber auch über Erfahrungen in der Provenienzforschung und der Tropenmedizin.

Moderatorin dieses gut besuchten Abends war Christiane Härdel, Vorständin der Intiative Queer Nations und des Elberskirchen-Hirschfeld-Hauses (E2H). Im Jahr eins nach der Gesetzesänderung zum dritten Geschlechtseintrags im Dezember 2018, spannte die Lecture über das Fallbeispiel aus dem Kaiserreich einen Bogen, der mehr als ein Jahrhundert seit dem Wegfall des „Zwitterparagraphen“ mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahr 1900 und die Einführung der staatlichen Standesregister 1875, die einen Eintrag des Geschlechts – männlich oder weiblich – in die Geburtsurkunde vorschrieben, umfasste.

Wo das binäre Standesdiktat eine operative Geschlechtsangleichung und ihre möglichen traumatisierenden Folgen angezeigt hätte,
unterblieb dies im Falle Martha Baers

Protagonist*in des dramatisch verdichteten Buches „Aus eines Mannes Mädchenjahren“ ist Karl M. Baer, jener Mensch, der im hessischen Arolsen am 20. Mai 1885 als Kind eines jüdischen Kaufmanns geboren wurde und dessen Geburtsurkunde auf ein Kind weiblichen Geschlechts mit dem Namen Martha ausgestellt wurde (obwohl die Hebamme angesichts einer Anomalie der Genitalien dazu geraten hatte, einen Arzt hinzuziehen).

Wo das binäre Standesdiktat eine operative Geschlechtsangleichung und ihre möglichen traumatisierenden Folgen angezeigt hätte, unterblieb dies im Falle Martha Baers, die als Mädchen aufwuchs, allerdings in der Pubertät einen leichten Bartwuchs und den Stimmbruch, aber weder eine Ausprägung der sekundären Geschlechtsmerkmale noch das Einsetzen der Menstruation erlebte. 1904 engagierte sich Martha Baer als begeisterte Zionistin im Kampf für Frauenrechte und -bildung im galizischen Lemberg und verliebte sich dort in eine Frau.

Gerade einmal sechs Wochen erforderte dann mit Erreichen ihrer Volljährigkeit der behördliche Vorgang auf ihren Antrag einer Änderung des Geschlechtseintrags in ihrer Geburtsurkunde und die Änderung ihres Namens in Karl Baer. Auch wenn einzelne Kriterien der medizinischen Gutachten unter anderem das von Magnus Hirschfeld, die etwa den männlichen Gang und die Begeisterung Baers für den deutschen Kaiser ebenso im Sinne des Antrages werten, wie die mangelnde Neigung zur als weiblich apostrophierten Redseligkeit, befremdlich anmuten, so erschließt sich doch ganz unmittelbar der liberal aufklärerische Impetus von Hirschfelds Bemühungen um eine Öffnung des binären Standesrechts hin zur dritten Option.

Keine operativen Eingriffe

Anders als die bisherige Rezeption des Falls von Karl M. Baer konnte Dr. Marion Hulverscheidt glaubhaft machen, dass der „Geschlechtswechsel“ von Martha zu Karl Baer keine operativen Eingriffe umfasste, sondern vermutlich der Tausch des Korsetts gegen einen Anzug sowie ein kurzer Haarschnitt die einzigen notwendigen Operationen waren, die Karl Baer vornahm. (Medizinisch begründet war dies dadurch, dass Karl M. Baer über männliche Genitalien mit einer Harnröhrenanomalie verfügte, die bis heute als oft nicht erfolgreich operabel gilt.)

Der Weg eines jüdischen Mädchens aus der hessischen Provinz Ende des vorletzten Jahrhunderts zum dreifachen Ehemann, der neben dem Tod zweier Ehefrauen auch das Schicksal der Flucht vor dem Holocaust nach Israel erlebte, wo Karl M. Baer 1956 verstarb, beeindruckt zutiefst und lässt darauf hoffen, dass das 20. Jahrhundert einmal als Jahrhundert der Versessenheit auf Binarität milde belächelt werden wird.

Der vollständige Vortrag von Dr. Marion Hulverscheidt wird im kommenden Jahr im „Jahrbuch Sexualiäten“ der Initiative Queer Nations erscheinen. Während die Stummfilmversion von „Eines Mannes Mädchenjahre “ aus dem Jahr 1919, u. a. mit Hans Albers, verschollen ist, wird es ebenfalls im kommenden Jahr eine kommentierte Neuauflage der Autobiografie Karl M(artha) Baers geben.

Thomas Doktor