Menschen, die ihre Transition bereuen oder nicht stabile Transidentitäten sind im queeren Aktivismus unbeliebte Themen. Ein sachlicher Austausch über die komplexe Gemengelage Themenfeld „Trans“ ist geradezu unerwünscht. Doch international werden Stimmen lauter, die Sprechverbote aufbrechen wollen.
Inhalt
6. Januar 2024 | Till Randolf Amelung
Mit ihrem neuen Jugendroman „Einfach nur Noni“ greift die Autorin Karen-Susan Fessel ein heißes Thema auf: Detransitionen, also Rückgängigmachen und Abbrüche von Geschlechtsangleichungen. Fessel begleitet die 16-jährige Noni in der ländlichen Idylle Brandenburgs durch Höhen und Tiefen auf der Suche nach der eigenen Identität. Noni ist sich sicher, kein Mädchen zu sein. Über Internetrecherchen findet die Romanheldin eine Gruppe für Transjugendliche, in der sie sich zum ersten Mal verstanden fühlt. Schließlich outet sich Noni gegenüber den Eltern als Transjunge und bekommt Unterstützung für ihre Neuidentifikation, später auch durch eine Psychiaterin – und hält schließlich das heiß ersehnte Rezept für Testosterongel in der Hand. Doch so sicher sich Noni zuerst noch war, taucht plötzlich die Frage auf, ob eine Geschlechtsangleichung zum Mann der richtige Weg für sie ist. Vollendet wird Nonis Gefühlschaos, als sie Mirna kennenlernt und sich beide ineinander verlieben.
Mittlerweile, an dieser Stelle ihrer Geschichte, nimmt Noni das Testosterongel nicht mehr regelmäßig und bricht die Einnahme schließlich ganz ab. Mit Hilfe der neuen Freundschaften aus der Transjugendgruppe und der lokalen queeren Community findet Noni schließlich den Mut, aus ihren massiven Zweifeln Konsequenzen zu ziehen und die Transition zumindest vorerst abzubrechen.
Kontroversen rund um Trans
Fessel thematisiert also aktuelle Kontroversen rundum Transitionen im Jugendalter, indem sie umstrittene Begriffe wie ROGD (Rapid Onset Gender Dysphoria), eine plötzliche Transidentität ohne vorherige Anzeichen, und die zahlenmäßige Zunahme unter biologisch weiblichen Teenagern erwähnt. Ebenso fließt in den Roman ein, dass viele Lesben und Schwule retrospektiv von geschlechtsdysphorischen Empfindungen während der Pubertät berichten. Ein im heteronormativen Umfeld entwickeltes Gefühl von „nicht richtig“ sein äußert sich oftmals in Geschlechtsdysphorie. Auch Studien zeigen, dass sich diese Geschlechtsdysphorie bei vielen, sich selbst noch nicht als homosexuell begreifenden, Teenagern in der weiteren Entwicklung häufig wieder auflöst und worauf ein schwules bzw. lesbisches Coming out folgt.
„Einfach nur Noni“ zeigt einen Idealfall, wie man sich den Umgang mit einem jungen Menschen auf der Suche nach der eigenen Identität wünschen möchte. Doch die Realität sieht bisweilen anders aus. Gerade Detransitionier*innen stellen transaktivistische Narrative vom inneren Wissen um sich selbst und damit den trans-affirmativen Behandlungsansatz in Frage. „Gender-affirmativ“ heißt, die Selbstwahrnehmung der Patient*innen unhinterfragt in den Mittelpunkt zu stellen und ihnen auch ohne psychologische Diagnostik möglichst ungehinderten Zugang zu medizinischen Behandlungen im Rahmen einer Geschlechtsangleichung zu gewähren. Bei Minderjährigen ist das oftmals auch mit einem Einsatz von Medikamenten wie sogenannten Pubertätsblockern und mit anschließender Gabe von Östrogen- oder Testosteronpräparaten verbunden.
Fehlender Diskurs als Risiko
In den letzten Jahren meldeten sich immer mehr Frauen und Männer, die eine Geschlechtsangleichung vollzogen haben, aber diesen Schritt nach einigen Jahren zu bereuen begannen. Bislang fehlt es an einem offenen und sachlichen Diskurs über diese Fälle – sowohl im queeren Transaktivismus, der Politik als auch in der Fachwelt. Dies hat negative Auswirkungen auf die Patient*innensicherheit und es werden Stimmen lauter, die den fehlenden Diskurs einfordern.
Die britische Journalistin Hannah Barnes berichtet in ihrem 2023 erschienenen Buch „Time to think. The Inside Story of the Collapse of the Tavistock’s Gender Service for Children“ über die Entwicklungen, die in Großbritannien zur Neustrukturierung der Versorgung für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie führten. Über viele Jahre war der Gender Identity Developement Service (GIDS) landesweit die einzige Anlaufstelle für geschlechtsdysphorische Minderjährige im staatlichen Gesundheitssystem, dem NHS. Doch Ende 2020 kam es zu einem weltweit beachteten Gerichtsurteil gegen den GIDS. Die damals 22-jährige Britin Keira Bell klagte, weil sie im Alter von 15 Jahren dort wegen Geschlechtsdysphorie Hilfe suchte und sich im Nachhinein zu schnell auf einen medizinischen Weg mit Pubertätsblockern, Testosteron und einer Mastektomie gesetzt sah. Später bereute sie diese Entscheidung und ließ vor Gericht feststellen, dass die gender-affirmative Behandlung noch zu experimentell ist und Minderjährige gar nicht oder nur eingeschränkt in der Lage seien, deren langfristigen Folgen einschätzen zu können. So wurde Bell zu einem prominenten Gesicht, insbesondere für biologische Frauen, die zunächst eine Angleichung an das männliche Geschlecht vollzogen, dies aber später wieder rückgängig machen wollten. Der NHS beauftragte schließlich eine unabhängige Untersuchung durch die Pädiaterin Hilary Cass, deren Ergebnisse letztlich die Neustrukturierung der Versorgung und ein Abrücken vom gender-affirmativen Ansatz zur Folge hatten.
Für ihr Buch führte Barnes auch intensive Gespräche mit ehemaligen Psychotherapeut*innen und Ärzt*innen des GIDS. Diese berichteten unter anderen, dass differenzierte Fallbesprechungen nicht möglich gewesen seien, ebenso wenig eine Abwägung, ob der Geschlechtsdysphorie vielleicht nicht Transsexualität, sondern eine andere Ursache zugrunde liegen könnte. Auch über Detransitionen konnte offenbar gemäß den Aussagen einiger ehemaliger Behandler*innen intern nicht fachlich angemessen gesprochen werden. So sagte zum Beispiel Anastassis Spiliadis, ein ehemals im GIDS tätiger Arzt, gegenüber Barnes, dass Diskussionen über Detransitionen nicht erwünscht gewesen seien. Begriffe wie dieser sollten gar nicht erst verwendet werden. Auch die Frage zu stellen, wie viele der jungen Patient*innen sich doch wieder umentscheiden, war nicht gewollt. Die Leitung des GIDS habe Sorge gehabt, als „transphob“ zu gelten, wenn öffentlich bekannt würde, dass solche Fragestellungen thematisiert würden.
Der GIDS der Tavistock-Klinik ist bei dem Umgang mit dem Thema „Detransition“ oder auch der mehrfach festgestellten unzureichenden medizinischen Evidenz für den gender-affirmativen Ansatz leider keine unrühmliche Ausnahme. Unlängst beschwerten sich in der Schweiz Ärzte über eine national wichtige medizinische Fachzeitschrift, weil diese Zeitschrift kritische Leserbriefe zu zwei Artikeln nicht abdrucken wollte, die zu unkritisch den gender-affirmativen Ansatz bei Minderjährigen behandeln würden.
Trans als Kulturkampf
Solche Kritik gibt es auch in den USA, wo sich zum Beispiel Psychotherapeutinnen wie Erica Anderson oder Laura Edwards-Leeper gegen die Ablehnung von sorgfältiger psychologischer Diagnostik und Begleitung aussprechen. In den USA sind Fragen um Detransitionen und der richtige Umgang mit Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen ein Schlachtfeld des politischen Kulturkampfs geworden. Gegenüber der Los Angeles Times sagte Anderson im April 2022: “Die Menschen auf der rechte Seite … und auf der linken sehen sich selbst nicht als extrem. Aber diejenigen von uns, die alle Nuancen sehen, die können sehen, dass es ein falscher Gegensatz ist: alles ohne eine Methode passieren lassen oder niemanden durchlassen. Beides ist falsch.“
Elf Detransitionierer*innen in den USA suchen nun die Klärung vor Gericht. Möglicherweise wird dort über die Zukunft des gender-affirmativen Ansatzes entschieden. Bereits jetzt haben eventuell drohende Schadensersatzforderungen Auswirkungen auf Anbieter von geschlechtsangleichenden Behandlungen. Kleinere Kliniken haben erhebliche Schwierigkeiten, die inzwischen drastisch gestiegenen Versicherungsprämien für Haftpflichtversicherungen zu finanzieren oder überhaupt eine Versicherung zu finden. Einige Anbieter schließen inzwischen die Haftung für gender-affirmative Behandlungen von Minderjährigen im Kleingedruckten sogar ganz aus.
WHO ignoriert Entwicklungen
Neben Großbritannien haben auch alle skandinavischen Länder nach Bewertung der medizinischen Evidenz und ungeklärten Risiken ihre Haltung zum gender-affirmativen Ansatz speziell bei Minderjährigen geändert. Diese aktuellen Entwicklungen scheinen die Weltgesundheitsorganisation (WHO) jedoch nicht zu beeindrucken. Am 18. Dezember 2023 verkündete die WHO, dass sie Leitlinien für die Gesundheit von trans und genderdiversen Menschen entwickeln will. Ebenso wurden die Namen der 21 Mitglieder der Kommission veröffentlicht, die diese Leitlinien erarbeiten sollen. Auch ein Termin für die Sitzung im Hauptquartier der WHO im Schweizerischen Genf vom 19. bis 21. Februar 2024 wurde bereits anberaumt. Zu dieser Ankündigung wurde auch ein kurzes Zeitfenster für öffentliche Rückmeldungen geöffnet – bis zum 8. Januar 2024. All diese Ankündigungen und Fristen trafen auf einen Zeitpunkt, an dem sich die meisten Menschen in vielen Ländern in die Feiertage verabschiedet haben. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Zudem ist das Panel für die Erarbeitung der Leitlinien sehr einseitig besetzt, ausschließlich mit Befürworter*innen des gender-affirmativen Ansatzes. Darunter ist auch die kanadische Transfrau und Bioethikerin Florence Ashley, die alles andere, als den gender-affirmativen Ansatz als „Konversionstherapie“ diffamiert. Doch dieses Vorhaben blieb nicht unbemerkt und einige Ärzt*innen lancierten eine Petition, die in der Kürze der Zeit über 7000 Personen unterzeichnet wurde. Die Unterzeichner*innen fordern, dass dieses Leitlinienvorhaben so nicht weitergeführt wird.
2024 könnte das Jahr werden, in dem die extrem einseitige und aktivistisch motivierte Diskursführung über Transthemen endgültig überwunden wird. Bücher wie dies von Fessel können hierzu einen Beitrag leisten, denn bis auf die deutsche Übersetzung des Romans „Detransition, Baby“ von Torrey Peters, ist das Thema auf dem deutschen Buchmarkt bislang nicht präsent.
Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem gender-affirmativen Ansatz siehe auch folgende Texte von ihm aus dem Jahrbuch Sexualitäten: „Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar?“ (2022) und „Politische Hybris“ (2021).