Die S2k-Leitlinie zu Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter ist aufgrund ihres vornehmlich affirmativen Ansatzes und der unzureichenden Evidenz ihrer Empfehlungen umstritten. Der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Florian D. Zepf erläutert in seinem Gastbeitrag, wo die größten Schwachstellen liegen und was das für Konsequenzen haben könnte.

Transleitlinie: Ein Stethoskop liegt neben einem Laptop, an dem gerade gearbeitet wird.
Ob die neue S2k-Leitlinie tatsächlich eine breite Anwendung in der Arbeit mit geschlechtsdysphorischen Kindern und Jugendlichen erfahren wird, bleibt zweifelhaft (Foto von National Cancer Institute auf Unsplash).

Redaktionelle Vorbemerkung: Am 7. März 2025 wurde die umstrittene deutsche S2k-Leitlinie für geschlechtsdysphorische Kinder und Jugendliche doch noch veröffentlicht, nachdem 2024 die Kritik in Fachkreisen hierzulande zunahm. Einer der fundiertesten Kritiker ist der Kinder- und Jugendpsychiater Florian D. Zepf – nun kommentiert er das Endergebnis. Zepf war bis November 2022 ebenfalls Mitglied der S2k-Leitlinienkommission und verließ diese auf eigenen Wunsch aufgrund seiner medizinischen und ethischen Bedenken. Der vorliegende Text wurde zuerst am 13. März 2025 auf Englisch im Substack Gender Clinic News des australischen Journalisten Bernard Lane veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung wurde mit DeepL erstellt und wir stellen diese mit freundlicher Genehmigung des Verfassers im IQN-Blog online.

14. März 2025 | Florian D. Zepf

Die neue deutschsprachige S2k-Leitlinie zu Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnose und Behandlung ist fertiggestellt und veröffentlicht worden. Am Entwurf von März 2024 wurden einige Änderungen vorgenommen, die meisten dieser Anpassungen waren jedoch eher geringfügig.

Eine aktuelle Änderung besteht darin, dass die Leitlinie nun vorschlägt, bei Minderjährigen zwischen stabiler „Geschlechtsinkongruenz“ und vorübergehender „Geschlechtslosigkeit“ zu unterscheiden, aber sie gibt keine spezifischen Kriterien an, wie diese beiden Gruppen im Voraus zu unterscheiden sind – und es ist auch nicht klar, mit welcher Validität dies tatsächlich geschehen könnte. Mit dieser neuartigen Unterscheidung geht die neue Leitlinie von einer fehlerhaften Argumentationslinie aus und ignoriert wichtige Erkenntnisse.

Geschlechtsinkongruenz bei vielen Minderjährigen nicht dauerhaft

Aus einer neuen Studie mit Krankenversicherungsdaten wissen wir, dass die Diagnose der Geschlechtsinkongruenz, selbst wenn sie vom Arzt als richtig angesehen wird, in der Mehrzahl der Fälle einige Jahre später nicht mehr fortbesteht. Nach fünf Jahren hatten nur noch 36,4 % eine bestätigte Diagnose, und in allen untersuchten Altersgruppen lag die Diagnosepersistenz unter 50 % (27,3 % bei den 15-19-jährigen Frauen und 49,7 % bei den 20-24-jährigen Männern).

Die gesamte Argumentation, welche Minderjährigen eine Pubertätsblockade und/oder eine Hormongabe erhalten sollten, beruht daher auf einer unklaren Differenzierung, die in der klinischen Praxis nicht anwendbar ist. Es gibt keine gültigen Kriterien, anhand derer man diese besonderen Gruppen im Voraus angemessen identifizieren könnte, und die Geschlechtsinkongruenz als Diagnose bei jungen Menschen ist nicht so stabil, wie in diesen Leitlinien dargestellt.

Empfehlungen für eine Pubertätsblockade sind nicht evidenzbasiert

Bemerkenswert ist, dass in der neu veröffentlichten Leitlinie einige neuere Literatur zum Einsatz einer Pubertätsblockade und einer Hormongabe bei Minderjährigen mit solchen geschlechtsbezogenen Problemen nun zitiert wird, deren Fehlen in der Vergangenheit ein Kritikpunkt war. Die kritischen Empfehlungen der Leitlinie zum Einsatz dieser pubertätsblockierenden Medikamente und einer Hormongabe bei betroffenen Minderjährigen wurden jedoch in wesentlichen Punkten nicht entsprechend der zitierten Evidenz geändert.

Die Empfehlungen zur Pubertätsblockade und zur Hormongabe bei diesen gefährdeten jungen Menschen spiegeln nicht angemessen wider, dass es immer noch keine klaren Beweise für dauerhafte und wesentliche Verbesserungen bei Minderjährigen mit solchen geschlechtsbezogenen Problemen gibt. Vielmehr wissen wir, dass potenzielle Schäden auftreten können. Daher muss dieser Ansatz, eine Pubertätsblockade und eine Hormongabe bei betroffenen Minderjährigen einzusetzen, zum jetzigen Zeitpunkt als experimentell angesehen werden.

Familienrechtliche Entscheidungen über Kindeswohl auf fragwürdiger Grundlage

Ein weiterer Punkt ist der in den Leitlinien enthaltene Gedanke, dass im Falle einer Meinungsverschiedenheit zwischen Eltern und ihren Kindern über derartige medizinische Eingriffe für das Kind eine unabhängige rechtliche Prüfung darüber entscheiden sollte, welcher Ansatz dem Wohl des Kindes am besten entspricht. In Deutschland könnte dies möglicherweise bedeuten, dass Kinder aus der Obhut ihrer Eltern genommen werden oder dass Eltern das Recht verlieren, medizinische Entscheidungen für ihre Kinder zu treffen, je nach Ergebnis einer solchen Prüfung und den ihr zugrunde liegenden (möglicherweise falschen) Annahmen.

Aus medizinischer Sicht ist jedoch zum jetzigen Zeitpunkt unklar, was das Wohl eines solchen Kindes tatsächlich bedeuten würde, und der weitgehend „pro-affirmative“ Ansatz, wie er in der neuen Leitlinie vorgeschlagen wird, gibt in diesem Zusammenhang Anlass zur Sorge. Insbesondere scheint die Leitlinie auf der Fehlannahme zu beruhen, dass jedes Kind eine allgegenwärtige, ubiquitäre und unveränderliche Geschlechtsidentität hat, die völlig unabhängig vom biologischen Geschlecht ist, und dass diese Identität naturalistisch vorbestimmt ist. Dies ist eine wissenschaftlich unbewiesene Annahme, die außer Acht lässt, dass das Selbstbild von Jugendlichen oft eine Selbstinterpretation ist und eine klare Unterscheidung zwischen solchen Selbstinterpretationen und Identitätsaspekten nicht mit hinreichender Validität getroffen werden kann.

Explorative Psychotherapie ist keine Konversionstherapie

Es ist bekannt, dass sich die Selbstinterpretationen von Minderjährigen oft im Verlauf der Zeit verändern – ein typisches Merkmal der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Dies ist auch der Grund, warum eine explorative Psychotherapie, die diesen jungen Menschen angeboten wird, nicht automatisch als unethische „Konversionstherapie“ bezeichnet werden sollte. Eine solche Psychotherapie zielt darauf ab, die Gründe für solche geschlechtsspezifischen Symptome als Teil eines größeren Bildes bzw. im Sinne eines heterogenen Phänomens ergebnisoffen zu explorieren, das verschiedene Ursprünge haben kann (teilweise auch im Zusammenhang mit potenziell begleitenden Psychopathologien bis hin zu gleichzeitig auftretenden psychiatrischen Störungen).

Ein weiteres Argument gegen den automatischen Vorwurf der Konversionstherapie im Kontext einer solchen ergebnisoffenen Psychotherapie ist, dass dieser Ausdruck impliziert, dass der junge Mensch durch die Psychotherapie von etwas weg konvertiert wird, das unveränderlich, allgegenwärtig und naturalistisch vorbestimmt ist.

Aus diesen Gründen hat die neue S2k-Leitlinie das Potenzial, vulnerablen Kindern und Jugendlichen mit solchen geschlechtsspezifischen Problemen erheblich zu schaden. Viele der Empfehlungen in der Leitlinie sind nicht evidenzbasiert, stehen auf wackligen Füßen und können daher bei vulnerablen Minderjährigen großen Schaden anrichten.

Experten zeigen Schwächen auf

Als Gruppe von 15 deutschen Professorinnen und Professoren aus dem Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie haben wir kürzlich eine ausführliche gemeinsame Kommentierung des Leitlinienentwurfs vom März 2024 veröffentlicht, und auch die Society for Evidence-based Gender Medicine (SEGM) hat eine gründliche Prüfung des Entwurfs vorgenommen und wichtige methodische Schwächen aufgezeigt.

Die gemeinsame Kommentierung der 15-köpfigen Gruppe zur Leitlinie enthält auf 111 Seiten eine genaue Stellungnahme zu allen Aspekten des betreffenden Dokuments, und wurde der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) sowie der jeweiligen Leitliniengruppe vorgelegt. Dies bedeutet, dass der Leitliniengruppe diese Mängel bekannt waren und dennoch die Entscheidung getroffen wurde, das endgültige, aber unzureichend angepasste finale Leitliniendokument zu veröffentlichen. Insbesondere spiegeln die vorgenommenen Anpassungen nicht den insgesamt schwachen Stand der aktuellen Evidenzlage wider.

Es wird schwierig sein, diese Maßnahmen in Zukunft zu verteidigen, da alle Argumente und Kritiken öffentlich zugänglich waren. Wir hoffen, dass unsere gemeinsame Kommentierung vulnerable Minderjährige und ihre Familien mit wichtigen Informationen versorgen kann, falls sie Opfer von Schäden werden, die durch Interventionen entstanden sind, die mithilfe dieser Leitlinie gefördert wurden.

Neue Leitlinie hat offensichtliche Mängel

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Ärzte, Familien und junge Menschen, die von den hier betreffenden geschlechtsspezifischen Problemen betroffen sind, sich darüber im Klaren sein müssen, dass die neue deutschsprachige Leitlinie erhebliche Mängel aufweist und Empfehlungen enthält, die potenziell zu Schäden führen können. In Deutschland und auch international gibt es eine heftige und hitzige Debatte darüber, wie diese vulnerablen Kinder und Jugendlichen am besten unterstützt werden können.

Die vorliegende neue Leitlinie entspricht nicht den notwendigen evidenzbasierten Standards, um junge Menschen angemessen zu unterstützen. Zahlreiche Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten und andere Kliniker im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie sowie verwandter Berufsgruppen in Deutschland halten diese Leitlinien für höchst problematisch, und werden sie wahrscheinlich nicht übernehmen.

Noch ist es nicht zu spät, diese Leitlinie zurückzuziehen und sie im Lichte der aktuellen tatsächlichen medizinischen Erkenntnislage zu überarbeiten. Die Verantwortung für die Behebung dieser schwerwiegenden Mängel und die Wahrung des grundlegenden medizinischen Prinzips „Primum non nocere“ („Erstens nicht schaden“) liegt bei denjenigen, die diese äußerst problematische Leitlinie entwickelt und verabschiedet haben.


Univ.-Prof. Dr. med. Florian D.  Zepf ist Lehrstuhlinhaber und Klinischer Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Jena. Er war von Mitte 2020 bis November 2022 Mitglied der S2k-Leitliniengruppe und verließ diese auf eigenen Wunsch aufgrund seiner beruflichen und ethischen Bedenken. Professor Zepf ist Erstautor der gemeinsamen Kommentierung der Gruppe der o.g. 15 Professoren und ferner Erstautor einer aktualisierten systematischen Übersicht zum Einsatz einer Pubertätsblockade und einer Hormongabe bei Minderjährigen mit Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.