International hat sich seit der Veröffentlichung der Yogyakarta-Prinzipien 2006 ein Geschlechtsverständnis als Paradigma etabliert, das Identität und nicht Biologie als zentral erachtet. Vor allem über internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen, Europäische Union und Europarat wurde dieses Verständnis seit mittlerweile zwanzig Jahren etabliert. ATHENA, ein neugegründeter Think Tank mit der Österreicherin Faika El-Nagashi an der Spitze, kritisiert diese Entwicklungen.

5. Oktober 2025 | Till Randolf Amelung
Faika El-Nagashi, ehemalige österreichische Nationalratsabgeordnete für die Grünen, hat sich wegen unvereinbarer Standpunkte zu Geschlecht und zu Transthemen im Besonderen mit ihrer ehemaligen Partei überworfen. Während auch die österreichischen Grünen wie ihre deutsche Schwesterpartei bei Geschlecht auf die Selbstdefinition qua Identität setzen, gehört El-Nagashi in Österreich zu den wenigen öffentlichen Verteidigerinnen der Relevanz biologischer Tatsachen – vor allem für Frauen. Ebenso warnt sie beständig vor den Risiken gender-affirmativer Behandlungen bei Kindern und Jugendlichen.
Nachdem die österreichische Aktivistin schmerzlich erfahren musste, bei den Grünen mit ihren Standpunkten nicht mehr willkommen zu sein, hat sie nun zusammen mit anderen „ATHENA – a european initiative for sex-based rights, democractic values and political courage“ gegründet. Zu El-Nagashis Mitstreitern gehört auch Kurt Krickler, Mitgründer der HOSI Wien und Veteran der österreichischen Schwulenbewegung. Starthilfe gibt es aus Großbritannien von der Organisation Sex Matters.
EU als Schnittstelle
Zur Premiere von ATHENA legen El-Nagashi und ihre MitstreiterInnen einen Bericht vor, der die Europäische Union als wichtige Schnittstelle für die Verbreitung eines entkörperten und entbiologisierten Geschlechterbegriffs vorstellt. Die EU verstand sich von Beginn an auch als Bündnis für Menschenrechte, wie der Report erklärt:
„Die Europäische Union (EU) wurde nicht nur als Wirtschaftsbündnis gegründet, sondern auch als ein politisches Projekt, das auf den Grundrechten aufbaut. Zu ihren frühesten und am klarsten definierten Rechtsgrundsätzen gehört die Gleichstellung von Frauen und Männern, die erstmals 1957 in den EU-Verträgen verankert wurde, um gleiches Entgelt für beide Geschlechter zu gewährleisten. Im Laufe der Zeit wurde dieser Grundsatz auf die Arbeitsbedingungen, die soziale Sicherheit, den Zugang zu Waren und Dienstleistungen, den Mutterschutz und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ausgeweitet.“
Bezog sich „Geschlecht“ in den Dokumenten der EU zunächst auf das biologische Geschlecht, habe sich dies sukzessive hin zu Geschlechtsidentität geändert, den Entwicklungen in der Menschenrechtspolitik folgend. Ein bedeutender Umstand dafür sei laut El-Nagashi et al. die Übernahme des Begriffs „Gender“ in den 1990er Jahren gewesen. Damals habe sich der Begriff „Gender“ jedoch auf das soziale System ungleicher Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern bezogen, das in veralteten Stereotypen über das erwartete Verhalten von Frauen und Männern wurzelt, und nicht auf eine angeborene Identität, die von der biologischen Realität abweicht.
Ideologischer Begriffswandel
Seit mehr als fünfzehn Jahren habe sich in den europäischen Institutionen ein ernsthafter ideologischer Wandel vollzogen, der sich in einer veränderten Sprache, Konzepten, Politik und institutionellen Ausrichtung niederschlage.
Als wichtiges Dokument für die Interpretation hin zur Identität sehen die ATHENA-AutorInnen die Mitte der 1990er Jahre veröffentlichte „International Bill of Gender Rights“, die eine Gruppe US-amerikanischer Transaktivisten verfasst hat. In diesem Dokument plädieren die Aktivisten für die Ersetzung des biologischen Geschlechts durch ein inneres Gefühl der Geschlechtsidentität als Grundlage für rechtliche und soziale Anerkennung. Diese Interpretation habe in den folgenden Jahrzehnten an institutioneller Tragweite gewonnen – auch in der EU.
Für ATHENA ist dies ein fundamentaler Fehler:
„Gender Mainstreaming hat sich von der Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern auf die Förderung der Geschlechtsidentität und des Geschlechtsausdrucks verlagert; Konzepte, die nicht nur vage, sondern letztlich unvereinbar mit der Bedeutung und Funktion des geschlechtsspezifischen Schutzes. Wenn ‚Frau‘ alles bedeuten kann, bedeutet der Begriff letztlich nichts. In dem Maße, wie die Definitionen verschwimmen, verschwimmen auch die Mechanismen, die Frauen schützen sollen. Dienste, die für Frauen und Mädchen gedacht sind, wie z. B. Krisenzentren für Vergewaltigungen oder Sportwettbewerbe, stehen unter dem Druck, Gefühlen Vorrang vor der biologischen Realität einzuräumen.“
Die Institutionen der EU hätten, so ATHENA, LGBTI-Organisationen stark gefördert und ihnen damit eine intensivere Interessensvertretung ermöglicht. In den späten 2000er Jahren begannen transaktivistische Organisationen, den Europarat (CoE) als Anlaufstelle zu nutzen, um Geschlechtsidentität in internationales Recht und Politik einzubinden – mit Erfolg.
Menschenrechte und Geschlechtsidentität
Im Jahr 2008 berief der Menschenrechtskommissar des Europarats, Thomas Hammarberg, ein Expertentreffen mit transaktivistischen Organisationen ein, darunter ILGA-Europe und Press for Change UK. Wichtige Forderungen waren die rechtliche Anerkennung der Selbstidentität, den Zugang zu Dienstleistungen und institutionelle Reformen. Diese Forderungen wurden dann im 2009 veröffentlichten Themenpapier des Kommissars, „Menschenrechte und Geschlechtsidentität“ veröffentlicht und als Prioritäten innerhalb eines internationalen Menschenrechtsrahmens formuliert.
El Nagashi et al. weisen auch darauf hin, dass das maßgebliche Dokument für diese Prioritätensetzung die Yogyakarta-Prinzipien von 2006 sind, die von einer Gruppe international angesehener Menschenrechtsexperten und -expertinnen speziell zur Anwendung des bestehenden Völkerrechts auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität entwickelt wurden. In diesen Prinzipien wurde die Geschlechtsidentität als „eine tief empfundene innere und individuelle Erfahrung des Geschlechts“ definiert und diese Formulierung in den empfohlenen staatlichen Verpflichtungen, dem Verhalten der Medien und den Maßnahmen der Nichtregierungsorganisationen verankert. Im März 2007 wurden die Yogyakarta-Prinzipien auf einer Sitzung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen (UN) offiziell vorgestellt, im November 2017 wurden sie um zehn Punkte erweitert.
Obwohl die Yogyakarta-Prinzipien rechtlich nicht verbindlich sind, haben sie nach ihrer Veröffentlichung im Jahr 2007 schnell an offizieller Bedeutung gewonnen. Sie wurden, wie beabsichtigt, zur leitenden Interpretationshilfe, wie Menschenrechte für LGBTI zu beurteilen sind. Im Jahr 2009 verwies der Menschenrechtskommissar des Europarats im oben erwähnten Themenpapier auf sie und forderte die Mitgliedstaaten des Europarats auf, ihre nationale Gesetzgebung daran anzugleichen.
Wichtige Erfolge dieser transaktivistischen Bemühungen sind Gesetzesänderungen in mehreren EU-Mitgliedsstaaten ab 2014, die Änderungen des Vornamens und Geschlechtseintrags rein per Selbstdefinition und ohne medizinische Nachweise ermöglichen. Doch auch in weitere Felder sei laut ATHENA hineingetragen worden, „Geschlecht“ über Identität und nicht Biologie zu definieren, zum Beispiel in die Entwicklungshilfe, wo die EU einer der größten Mittelgeber weltweit ist.
Unterstützung für gender-affirmative Behandlungen
Doch nicht nur bei rechtlichen Aspekten, sondern auch in medizinischen Fragen wollen europäische Institutionen Einfluss nehmen. Das Papier „Human Rights and Gender Identity and Gender Expression“ des Europarats von 2024 beinhaltete eine Verteidigung geschlechtsangleichender Behandlungen von Minderjährigen inklusive Pubertätsblocker. In den vergangenen sechs Jahren wurde international zunehmend sichtbar, dass die medizinische Evidenz für diesen Ansatz unzureichend ist und damit schwerwiegende gesundheitliche Risiken nicht ausgeschlossen werden können. Besonders gründlich wurde dies für Großbritannien im Report von Hilary Cass dokumentiert – dessen Abschlussbericht ebenfalls 2024 vorgelegt wurde.
Doch dies ficht den Europarat nicht an, das Papier spricht sich eindeutig für den affirmativen Ansatz bei Minderjährigen aus, inklusive Verweis auf die niederländische Pilotstudie von 2011:
„Tatsächlich haben Ärzte beispielsweise in den Niederlanden berichtet, dass transsexuelle Jugendliche bei der Entscheidung, ob und wann sie bestimmte Behandlungsformen in Anspruch nehmen, vorsichtig sind. In mehreren Staaten wurden auch Bedenken geäußert, dass die Betroffenen die Eingriffe später bereuen könnten. Zwar kann das Bedauern über jede Art von medizinischer Behandlung generell ein berechtigtes Anliegen sein, doch gibt es keinen Grund, transspezifische Gesundheitsentscheidungen anders oder mit größerer Besorgnis zu behandeln.“
Dabei sind die Ergebnisse aus den Niederlanden nur begrenzt übertragbar, wie KritikerInnen bemängeln. So hat sich in den vergangenen 10 Jahren das Patientenprofil in den Gender-Ambulanzen deutlich verändert und die Studienergebnisse konnten in anderen Ländern so nicht wiederholt und damit auch nicht bestätigt werden. Politische Parteinahmen für einen medizinischen Ansatz wie vom Europarat bewirken jedoch, dass die wissenschaftliche Diskussion über die Entwicklung nicht offen und sachlich stattfinden kann.
Debatte unerwünscht
In Deutschland wurde dies zuletzt rund um eine Konferenz der Organisation SEGM sichtbar, die von Transaktivisten als „transfeindlich“ diffamiert wurde, weil auf dieser Konferenz die Risiken des gender-affirmativen Modells im Zentrum standen. Beteiligte Ärzte wurden von Aktivisten auf Instagram gar zu Feinden stilisiert, was die Bundesärztekammer nun als „inakzeptabel“ und „Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit“ verurteilte.
Die von Faika El-Nagashi mitbegründete Initiative ist angetreten, diesen Entwicklungen etwas entgegenzusetzen und sie überhaupt erst einmal einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Denn auch das ist bemerkenswert: Über all diese Entwicklungen blieb eine öffentliche und konstruktive Debatte bislang aus – insbesondere fehlt eine Rechtsfolgenabschätzung über den Shift von Biologie zu Identität beim Geschlechterbegriff. Ebenso ist in der Medizin eine differenzierte Auseinandersetzung mit den jüngsten Erkenntnissen wie im Cass-Report dringend erforderlich.
Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.