Die Ereignisse um die queeridentitäre Erweiterung von Artikel 3 des Grundgesetzes sowie Ermittlungen gegen die Berliner Szene-Ikone Jurassica Parka wegen mutmaßlichen Besitzes und Verbreitung von Kinderpornografie holen das Thema zurück auf die Tagesordnung der queeren Community: Pädophilie. Bereits 2020 analysierte der Historiker Jan-Henrik Friedrichs in einer Queer Lecture der IQN die blinden Flecken in der Auseinandersetzung mit Pädosexualität in linken und schwulen Bewegungen.

Ein Billboard Truck in Warschau mit "Stop Pedofili" und homophoben Slogans. Symbolbild für Artikel "Pädo und die queere Szene: Aufarbeitung nicht abgeschlossen"
Homophobe Bewegungen wie hier im polnischen Warschau nutzen das Pädothema, um LGBT insgesamt zu diskreditieren – und lenken dabei von eigenen blinden Flecken ab (Foto: Wikimedia).

27. Oktober 2025 | Till Randolf Amelung

Zwei aktuelle Ereignisse haben wieder mal einen Bereich grell ausgeleuchtet, mit dem sich die queere Szene schwertut: Wie umgehen mit Pädophilie, zumal in den eigenen Reihen? Also mit der Bagatellisierung von sexuellen Praktiken mit Kindern? Konkret: Das eine Ereignis ist die Forderung nach der Erweiterung von Artikel 3 Grundgesetz um „sexuelle Identität“, das andere sind Vorwürfe gegen die bekannte Berliner Drag Queen Jurassica Parka, diese habe sich Kinderpornografie beschafft und verbreitet. Beides weist auf bislang nicht hinreichend bearbeitete Problemstellung um Anliegen wie „sexuelle Befreiung“ sowie „Emanzipation von sexuellen Minderheiten“ in bestimmten Milieus hin, die der Historiker Jan-Henrik Friedrichs bereits im Jahrbuch Sexualitäten 2021 erörtert hat.

Sexuelle Identität ins Grundgesetz?

Die Erweiterung von Artikel 3 um die Nennung von grundsätzlich schützenswerter „sexueller Identität“ wird seit Jahren von queeren Verbänden vorgetragen, aktuell auch von der Queerbeauftragten der Bundesregierung, Sophie Koch. Vor zwei Wochen hat außerdem der Bundesrat diese Forderung aufgegriffen und bejaht. Dieser hat eine Gesetzesinitiative dafür in den Bundestag eingebracht, die nun beraten wird. Ob dies erfolgreich sein wird, ist ungewiss, denn für eine Änderung im Grundgesetz ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich – was angesichts der Fraktionsstärke der mitregierenden Union und der oppositionellen AfD unwahrscheinlich scheint.

Umstritten ist der Begriff der „sexuellen Identität“ deshalb, weil er sich nicht eindeutig eingrenzen lässt, wie KritikerInnen bemängeln. Denn: Könnten nicht auch Pädophile ihr sexuelles Triebschicksal als schützenswerte Identität geltend machen? Rechtswissenschaftler Arnd Diringer kritisierte bereits 2023 in der Welt, durchaus in Übereinstimmung mit entsprechenden Befunden der freudianisch orientierten Sexualwissenschaft:

„Pädophile gehen beispielsweise davon aus, dass auch ihre Neigungen als ‚sexuelle Identität‘ anzusehen sind. Das kann man etwa auf der nach einer Pädophilen-Gruppe benannten Internetseite krumme13.org lesen. Teile der juristischen Literatur lehnen das unter Verweis auf die Strafbarkeit des Verhaltens ab. Das ist, wie Professor Hartmut Oetker im Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht ausführt, aber ‚nicht zweifelsfrei, da das AGG nicht die untersagte Ausübung, sondern die Identität schützt‘. Letztere enthält keine Abgrenzung zu solchen Neigungen. Darauf wurde ebenso bei einer Expertenanhörung des Rechtsausschusses des Bundestags 2010 hingewiesen, als erstmals über die Aufnahme der ‚sexuellen Identität‘ ins Grundgesetz diskutiert wurde.“

Zudem seien LGBT bereits jetzt über das Grundgesetz geschützt, wie Andreas Edmüller, Unternehmensberater und Privatdozent für Philosophie, in seinem Blog erläutert. Er warnt auch davor, dass die explizite Auflistung „ein verfassungsrechtliches Fehlsignal“ sende:

„Es könnte der Eindruck entstehen, dass unser Grundgesetz tatsächlich nur Personen oder Gruppen schützt, die ausdrücklich genannt werden. Das wiederum würde eine Schwächung des allgemeinen und umfassenden Schutzprinzips bedeuten, das auf dem Würdegedanken beruht.“

BefürworterInnen wie der LSVD* hingegen sehen es als Makel an, dass homo- und bisexuelle Männer und Frauen als einzige Verfolgtengruppe unter dem Nationalsozialismus noch nicht explizit im Grundgesetz aufgenommen seien – wobei in dieser Perspektive historisch ungenau behauptet wird, lesbische Frauen seien vom nationalsozialistischen Regime ebenso systematisch verfolgt worden, wie schwule Männer.

Bei der Debatte zur ersten Lesung des Bundesratsantrags im Bundestag am 9. Oktober sagte die Grünen-Abgeordnete Nyke Slawik, dass der Bundestag in den vergangenen Jahren viele Gesetze erlassen habe, die die Lebenssituation von LSBTIQ-Personen verbessert hätten, sich diese Fortschritte aber bis heute nicht in unserer Verfassung widerspiegelten. Es gehe hier nicht um eine parteipolitische Debatte, sondern um Haltung für Demokratie und um Menschlichkeit.

Ob das mit dem Begriff „sexuelle Identität“ im Grundgesetz tatsächlich zielführend ist? Der Jurist Diringer bewertete dies schon 2023 nicht als sehr wahrscheinlich:

„Da der Begriff notwendige Abgrenzungen nicht ermöglicht, begibt man sich mit einer Verfassungsänderung auf gefährliches Terrain. Die Rechte lesbischer, schwuler, bisexueller, asexueller und pansexueller Menschen würden dadurch nicht gestärkt.“

Kinderpornografie bei Jurassica Parka?

Vorigen Donnerstag erschütterte die Meldung über eine Hausdurchsuchung bei der Berliner Drag Queen und Szene-Ikone Jurassica Parka (bürgerlich Mario O.) die queere Öffentlichkeit. Es geht um den Verdacht des Besitzes und der Verbreitung von Kinderpornografie. Den Hinweis bekamen die deutschen Ermittlungsbehörden aus den USA. In einem eigenen Statement auf Instagram sprach der Künstler Mario O. hierzu von Kontrollverlust, Substanzkonsum und einem Ermittlungsverfahren, weshalb er sich erstmal aus der Öffentlichkeit zurückziehen wolle.

Noch am selben Tag berichtete das Berliner Szenemagazin Siegessäule exklusiv, dass O. bereits 2023 wegen des Besitzes und der Verbreitung von Kinderpornografie rechtskräftig verurteilt wurde. Besonders heikel ist daran, dass O. nach dieser Verurteilung in seiner Rolle als Jurassica Parka an Drag-Veranstaltungen auch mit Kindern beteiligt war. Dies wird nun von Medien aus dem rechten Spektrum ausgeschlachtet, die ohnehin Veranstaltungen mit Drag Queens für Kinder regelmäßig als „Frühsexualisierung“ schmähen.

Trotz solcher Dämonisierungen müssen sich Organisatoren der Drag-Kinderveranstaltungen mit Beteiligung von Mario O. kritische Fragen nach dem Vorhandensein von Schutzkonzepten gefallen lassen. Zum Beispiel, ob überhaupt von allen Künstlern im Vorfeld erweiterte Führungszeugnisse eingefordert wurden. Gesetzlich vorgeschriebene Pflicht ist ein solches Führungszeugnis für alle Personen vorzulegen, die hauptamtlich Umgang mit Kindern haben, bei ehrenamtlichen und nebenberuflichen Tätigkeiten liegt es im Ermessen des Trägers. Wie verschiedentlich auf Social-Media-Plattformen nachzulesen ist, gibt es Träger, die dies von sechzigjährigen Lesepatinnen oder Köchinnen, die einmal jährlich für Sternsinger in ihrer Gemeinde kochen, verlangen. Warum sollte man dann nicht auch in queeren Kontexten diesen Weg gehen?

In der queeren Szene ist man nun gespalten: Während die einen nun vor allem wilde Verdächtigungen über Verrat gegen Mario O.‘s langjährige Bühnenpartnerin Margot Schlönzke in den Äther blasen, fürchten andere vor allem die Reaktionen des politisch rechten Lagers. Um die eigentlichen Opfer, die geschädigten Kinder, geht es nicht mehr.

Blinde Flecken in der Pädodebatte – bis heute

Sowohl die Beratungsresistenz bei Grundgesetzänderungen als auch die Reaktionen auf die Ermittlungen gegen Drag Queen Jurassica Parka weisen auf den Umstand hin, dass vergangene Verstrickungen links-alternativer und schwulenbewegter Milieus mit Pädosexualität bisher nur ungenügend aufgearbeitet wurden. Dem Historiker Jan-Henrik Friedrichs zufolge ist seit Jahrzehnten dem gesamten Umgang mit dem Thema immanent: Die Ausblendung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen.

In seinem immer noch aktuellen und lesenswerten Beitrag „‚Verbrechen ohne Opfer‘? Die ‚Pädophiliedebatte‘ der 1970er Jahre in Sozialwissenschaft und Schwulenbewegung aus machttheoretischer Perspektive“ im Jahrbuch Sexualitäten 2021 schreibt er:

„Neben dem für das links-alternative Milieu und die Schwulenbewegung prägenden Diskurs um ‚Befreiung‘ der Sexualität und sexueller Minderheiten beeinflussten, so meine These, sexual- und erziehungswissenschaftliche Diskursstränge und innerdisziplinäre Logiken die Debatte um eine Legalisierung pädosexueller Handlungen. Darüber hinaus trafen die Argumente der Apologeten der Pädophilie vor allem deshalb auf Verständnis, so meine zweite These, weil gesellschaftliche Machtverhältnisse in der Debatte konsequent ausgeblendet wurden. Dies betraf das Generationenverhältnis, berührte aber auch Fragen von Sexismus, Klassismus und Rassismus.“

Mit einem gesamtgesellschaftlich steigenden Bewusstsein für die Geschädigten wurde das Thema in queeren Kreisen dann stillschweigend unter den Teppich gekehrt:

„So verweist die Nicht-Thematisierung der Pädophiliedebatte etwa bei Jeffrey Weeks möglicherweise auf die Schwierigkeit, diese in eine Erfolgsgeschichte homosexueller Emanzipation zu integrieren.“

Der Historiker Friedrichs zeigt, wie die Diskussion um Pädophilie auch ein Ausdruck der gesellschaftlichen Macht von Männern ist:

„Für ein Verständnis der historischen Vorgänge ist es aber auch nötig, den Blick umzukehren und ihn statt auf die sexistisch, ökonomisch oder rassistisch Marginalisierten auf ihr Gegenstück zu richten: weiße hegemoniale Männlichkeit. Tatsächlich wurde die Debatte um Pädophilie fast ausschließlich von Männern und aus einer männlichen Perspektive geführt. Zumeist ging es dabei um einen als selbstverständlich erachteten männlichen Anspruch auf Erfüllung sexueller Bedürfnisse.“

Um die notwendige Debatte zu unterstützen, stellt die IQN Friedrichs‘ Essay „‚Verbrechen ohne Opfer‘? Die ‚Pädophiliedebatte‘ der 1970er Jahre in Sozialwissenschaft und Schwulenbewegung aus machttheoretischer Perspektive“ jetzt kostenfrei online zur Verfügung:

Hinweis: Eine Weiterverbreitung ist nur mit Angabe der jeweiligen Quelle, also der entsprechenden Jahrbuch-Ausgabe, zulässig. Ebenso ist eine Verwendung für kommerzielle Zwecke ohne Genehmigung untersagt.


304 S., 15 Abb., geb., ISBN 978-3-8353-5023-6, Preis: € 34,90 (D) / € 35,90 (A)

Jahrbuch Sexualitäten 2021

Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Melanie Babenhauserheide, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf.

Mit Beiträgen von Janin Afken, Till Randolf Amelung, Marco Ebert, Jan Feddersen, Uwe Friedrich, Jan-Henrik Friedrichs, Benno Gammerl, Antoine Idier, Jane Clare Jones, Marco Kamholz, Eszter Kováts, Aaron Lahl, Rainer Nicolaysen, Peter Obstfelder, Monty Ott, Peter Rausch, Hedwig Richter, Manuel Schubert, Detlef Siegfried, Vojin Saša Vukadinović, Götz Wienold, Benedikt Wolf und Mesaoo Wrede.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.