Die Regierungskoalition aus SPD, Grüne und FDP ist Geschichte. Kritiker*innen sehen trotz Selbstbestimmungsgesetz und Aufhebung des Blutspendeverbots für schwule Männer viele queerpolitische Ziele nicht erreicht. Wie geht es damit weiter?
10. November 2024 | Till Randolf Amelung
Nun also ist es passiert: am Mittwochabend entließ Bundeskanzler Olaf Scholz Finanzminister Christian Lindner und besiegelte so das Aus der Ampelkoalition aus SPD, Grüne und FDP. Am selben Tag wurde außerdem bekannt, dass Donald Trump die US-Wahlen gewonnen hat und ein zweites Mal ins Weiße Haus einziehen wird. Für den Politanalysten Marc Saxer sind beide Ereignisse eng miteinander verknüpft. Denn eine erneute Präsidentschaft Trumps bedeutet auch, dass vor allem europäische Länder wie Deutschland künftig mehr finanziellen Einsatz für die Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland aufbringen müssen. Im Streit zwischen Lindner und Scholz ging es um die Aussetzung der Schuldenbremse, die Scholz verlangte und Lindner ablehnte.
Differenzen der Ampelparteien angesichts der Krisen zu groß
Die Ampelkoalition wurde zwar unter dem Eindruck der Coronakrise gewählt, aber noch vor dem Ukrainekrieg. Nach 16 Jahren verpasster Reformen und Investitionen unter CDU-geführter Bundesregierungen wollten viele Menschen einen Aufbruch, der ökologische, soziale und wirtschaftliche Innovationen miteinander verbindet. Unter den Krisen zerbröselte diese Stimmung, insbesondere da die drei Parteien zu unterschiedliche Ansichten hatten, wie darauf zu reagieren sei und es daher ständig zu öffentlich inszenierten Streitigkeiten kam.
Der Bruch nun, ist daher keine besonders große Überraschung. Vielmehr zeichnete er sich längst ab. Wie der Journalist Stefan Laurin im Ruhrbarone-Blog feststellt, kommt nicht nur die Ampelkoalition an ihr Ende, sondern auch ein Zeitgeist, der „grün“, „woke“ und postmaterialistisch geprägt ist. Ausdruck dieses Zeitgeistes war auch ein verstärktes Interesse an LGBTI-Belangen, die sich in den letzten Jahren vor allem um mehr Sichtbarkeit und mehr Geldbedarf drehten. Was heißt der Bruch nun also für queerpolitische Vorhaben?
Erfolgreich bei Selbstbestimmungsgesetz und Blutspenden
Bei all ihrer Zerstrittenheit haben die Ampelparteien das umstrittene Selbstbestimmungsgesetz gegen jedwede Vernunft durchgeboxt und die Diskriminierung von Schwulen bei der Blutspende beendet. Andere Vorhaben, insbesondere die Reform des Abstammungsrechts, die Erweiterung von Artikel 3 des Grundgesetzes und die Umsetzung des Aktionsplans „Queer Leben“ mit dafür von den Grünen versprochenen siebzig Millionen Euro werden hingegen unwahrscheinlicher.
Bereits im September gab es Kritik am Queerbeauftragten der Bundesregierung, Sven Lehmann (Bündnis 90/Die Grünen), der die Koordination des Aktionsplans verantwortet. Kathrin Vogler (Linksfraktion) kritisierte, dass keiner der in einem intensiven Beteiligungsprozess queerer Interessensvertretungen seit 2022 erarbeiteten Empfehlungen bindend sei. Die Haushaltslage und die innerkoalitionären Spannungen um das Thema ließen auch daran zweifeln, dass es zur jährlichen Finanzierung in Millionenhöhe kommen würde. Vogler sagte damals gegenüber SCHWULISSIMO: „Ich fürchte, hier hat die Community viel Zeit und Herzblut in die Erarbeitung von Empfehlungen gesteckt, ohne dass diese dann auch umgesetzt werden.“
Eine neue Bundesregierung sollte jedoch die Empfehlungen noch einmal sorgfältig prüfen, anstatt sich alle Inhalte umstandslos zu eigen zu machen, denn so manches Detail hat es in sich: So heißt es zum Beispiel im Empfehlungspapier der Arbeitsgruppe Gesundheit zum Punkt „Medizinische Leitlinien“ für trans- intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen, dass das „Selbstbestimmungsrecht der Behandlungssuchenden gestärkt werden soll („Informed Consent“-Modell als Grundlage)“. In diesem Kontext meint „Informed Consent“, dass bitte keinerlei Anamnese und Diagnostik stattzufinden habe, ob eine gewollte Behandlung auch aus medizinischer Sicht geeignet ist. Das wird von einschlägigen Aktivist*innen verantwortungsloserweise als „Gatekeeping“ geschmäht.
LSVD fordert queerpolitischen Krisenplan
Der Verband Queere Vielfalt (LSVD*) fordert einen „queerpolitischen Krisenplan“. Wenn es nach diesem Verband geht, soll noch vor Weihnachten zum Beispiel das Abstammungsrecht reformiert werden. Besonders für lesbische Paare mit Kindern sei das ein wichtiges Thema. Nach dem jetzt noch geltenden Recht ist für die Anerkennung der nicht-biologischen Mutter ein aufwendiges Verfahren der Stiefkindadoption notwendig.
Weitere Forderungen des Verbandes, die vor einer Neuwahl noch umgesetzt werden sollen, sind: Ein Aufnahmeprogramm für Afghanistan und „die umgehende Ergänzung von Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes um den expliziten Schutz von LSBTIQ*“.
All diese Forderungen werden sich als unrealistisch erweisen, denn keines dieser Themen wird jetzt noch oben auf der Agenda stehen. Zudem wird die Billigung der Union benötigt. Gerade für die Änderung des Grundgesetzes ist das aber unwahrscheinlich, da CDU/CSU diese nicht für erforderlich halten, um LGBTI zu schützen. Außerdem sind – siehe Selbstbestimmungsgesetz – einige queerpolitisch grünlinke Projekte auch politisch nicht hilfreich für eine CDU/CSU im Wahlkampfmodus.
Künftige Förderung für LGBTI?
In den vergangenen Jahren bestanden queere Projekte oft daraus, Sichtbarkeit mit immer mehr Flaggenhissungen und Aktionstagen in den Fokus zu rücken, queere Zentren in Kleinkleckersdörfern zu errichten und Aufklärungsinhalte zu pushen, die inhaltlich kontrovers sind. Vor allem, wenn es um Geschlecht im Allgemeinen und Trans im Besonderen geht. Zunehmend gibt es dafür Gegenwind und Kritik.
Fraglich ist, ob die Unterstützung solcher Projekte noch eine selbstverständliche Zustimmung vieler LGBTI-Wähler*innen jenseits der Verbände sichern kann. Denn am Ende wollen auch diese, wie der Rest der Bevölkerung, von einer Regierung Klarheit über aktuelle gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die Aussicht auf und Sicherung des Wohlstands sowie Sicherheit. Da zählt dann weniger das Schwenken von Regenbogenflaggen als beispielsweise die nötige personelle und technische Ausstattung des Sicherheitsapparates oder wirtschaftliche Absicherung durch einen Arbeitsplatz mit Perspektive.
Zudem gibt es auch lesbischwule Gruppen und Einzelpersonen, die öffentlich Unzufriedenheit mit der Queerpolitik der Ampelparteien äußern, insbesondere bezüglich des Umgangs mit Kritik am Selbstbestimmungsgesetz. Kernpunkt ist, dass bei der Reduktion von Geschlecht allein auf Identität nicht mehr sinnvoll über Homosexualität gesprochen werden könne.
Man wird sehen, wie sich die Förderung von Unterstützungsstrukturen sowie Projekten für LGBTI nach einer Neuwahl gestaltet. Angesichts der großen strukturellen Probleme in Deutschland, die eine künftige Bundesregierung bewältigen muss, sollte man aber eher mit weniger, als mit mehr Geld vom Staat rechnen.
Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.