Erklärung der Initiative Queer Nations e.V. IQN zur Debatte über die Rehabilitierung der aufgrund von § 175 Verurteilten

Erklärung der Initiative Queer Nations e.V. IQN

Zur Debatte über die Rehabilitierung der nach 1945 aufgrund von § 175 StGB Verurteilten

Über 45.000 Männer wurden von der Justiz der jungen Bundesrepublik in den Jahren bis 1969 aufgrund ihres gleichgeschlechtlichen Liebens und Begehrens verurteilt. Die Initiative Queer Nations e.V. hat schon im Jahr 2007 mit Expertise erste Debatten zur Rehabilitation dieser Opfer antihomosexueller Gesetzgebung im Bundestag ermöglicht. Wir begrüßen das jüngst veröffentlichte Gutachten der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zur juristischen und gesellschaftlichen „Wiedergutmachung“ für die auf nationalsozialistischer Gesetzesgrundlage Verfolgten, Angeklagten und Verurteilten.

Und wir unterstützen deshalb mit Nachdruck den Vorschlag von Bundesjustizminister Heiko Maas, diese zu Unrecht bestraften Menschen zu rehabilitieren und zu entschädigen. Ein solcher Schritt ist überfällig.

Es ist ein historischer Skandal, dass die verschärfte Fassung des § 175 aus dem Jahre 1935, die die Entgrenzung der Homosexuellenverfolgung im „Dritten Reich“ ermöglichte, von offizieller Seite Jahrzehnte lang nicht als nationalsozialistisches Unrecht betrachtet wurde. Stattdessen hielten das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung von 1957 und die Bundesregierung in einem Strafrechtsentwurf von 1962 explizit an diesem NS-Paragrafen fest.

In der DDR kehrte man bereits 1950 zur zwar pönalisierenden, gleichwohl milderen Weimarer Version des § 175 zurück, beendete die Verfolgung ab Mitte der 1950er Jahre weitgehend, entkriminalisierte 1968 homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und schaffte 1988 die strafrechtliche Ungleichbehandlung von Homo- und Heterosexuellen gänzlich ab. In zahlreichen europäischen Ländern kam es in den Jahren nach 1945 zu einer Liberalisierung des Homosexuellenstrafrechts. Westdeutschland (und Österreich) begannen erst sehr spät damit, diese menschenrechtshistorische Entwicklung nachzuvollziehen. Das lag nicht zuletzt am Fortwirken nationalsozialistischer Moralen und am absichtsvoll beförderten Wiedererstarken christlicher Homosexuellenfeindlichkeit. Mit den Strafrechtsreformen von 1969 und 1973 verabschiedete sich die Bundesrepublik schließlich von der NS-Fassung des § 175. Die volle strafrechtliche Gleichstellung von homo- und heterosexuellen Handlungen setzte sich jedoch erst 1994 im Zuge der Angleichung des west- an das ostdeutsche Strafrecht durch.

Seitdem gab es immer wieder Versuche, auf eine Rehabilitierung und Entschädigung der aufgrund von § 175 verurteilten Personen hinzuwirken. Erinnert sei beispielsweise an das im Rahmen der Initiative Sexuelle Vielfalt vom Berliner Senat und vom Berliner Abgeordnetenhaus veranstaltete Fachsymposium am 17. Mai 2011. Es ist ein großes Verdienst der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und des Bundesjustizministers, dass sie dieser so wichtigen Debatte zu neuer Aufmerksamkeit verholfen haben. Die Betroffenen können nun auf eine „Wiedergutmachung“ hoffen. Und dem Rechtsstaat bietet sich die Gelegenheit, kritische Perspektiven auf seine eigene Geschichte zu entwickeln und sich von dem begangenen Unrecht zu distanzieren.

Die Initiative Queer Nations e.V. begrüßt die aktuelle Diskussion ausdrücklich. Vollkommen zu Recht stehen dabei das Leid der verurteilten Männer und deren Rehabilitierung und Entschädigung im Vordergrund. Die negativen Effekte der Homosexuellenverfolgung in den Jahrzehnten nach 1945 beschränken sich allerdings nicht auf deren individuelle Schicksale. Ausgrenzung und Diskriminierung gleichgeschlechtlich liebender Menschen prägen vielmehr zahlreiche gesellschaftliche Bereiche, teilweise bis in die Gegenwart. Rechtspolitisch äußern sie sich in der Weigerung, gleich- und verschiedengeschlechtliche Partnerschaften einander gleichzustellen. Anders als in den USA, in skandinavischen Ländern, in Irland oder in Spanien weigert sich die Mehrheit des Bundestages, gleichgeschlechtliche Partnerschaften als Ehen mit unter den Schutz des Art. 6 Grundgesetz zu stellen.

Die verschleppte Entkriminalisierung der Homosexualität spiegelt sich in Deutschland in vielfältig negativer Hinsicht. Bildungspolitisch zeigen sich homosexuellenfeindliche Haltungen im Protest gegen den Versuch, die Akzeptanz sexueller Vielfalt als Ziel im Schulunterricht zu verankern. Und wissenschaftspolitisch lässt sich schließlich nach wie vor eine Marginalisierung von LSBTI*-Themen in der Forschungslandschaft konstatieren.

An genau diesem Punkt möchte die Initiative Queer Nations mit dem Bau des Elberskirchen-Hirschfeld-Hauses für queere Forschung, Bildung und Kultur in Berlin einen Beitrag leisten zur Aufarbeitung des Unrechts, unter dem gleichgeschlechtlich begehrende Menschen zu leiden hatten und haben. Denn ebenso wie die Rehabilitierung der Opfer steht auch eine gründliche Erforschung der Geschichte homophilen, schwulen und lesbischen Lebens seit 1945 noch aus.

Dabei gilt es zum einen, die vielfältigen Auswirkungen der Verfolgung in den Blick zu nehmen: Menschen, die sich selbst das Leben nahmen, die sich vor Erpressung und gewalttätigen Angriffen fürchteten, die unter psychischen Erkrankungen litten, die in heterosexuellen Ehen Schutz suchten und deren Familien dann häufig ebenfalls darunter zu leiden hatten, dass Mütter oder Väter gezwungen waren, ihre gleichgeschlechtlichen Neigungen zu verbergen und zu verleugnen. Zum anderen sollten solche Untersuchungen gleichzeitig danach fragen, wie es männerliebenden Männern und frauenliebenden Frauen trotz alledem immer wieder gelang, Freiräume für sich selbst und ihr Begehren zu schaffen und zu gestalten. Auch auf diese Weise kann man den Verfolgten zumindest einen Teil ihrer Würde zurückgeben.

Jan Feddersen, Dr. Benno Gammerl, Maria Borowski, Christian Schmelzer, Ulrich Dörrie, Manuel Schubert

Vorstand der Initiative Queer Nations e.V.