Das Plakat für die diesjährige Pride-Parade in Paris sorgt für Aufregung, die Darstellung würde Gewalt verherrlichen. Doch vor allem zeigt sich, wie die queerfeministische Doktrin der Intersektionalität als Anspruch, immer alle Diskriminierungsformen mitzurepräsentieren, de facto lesbische und schwule Sexualität verdrängt. Wofür steht eine solche Pride dann noch?

28. Juni 2025 | Till Randolf Amelung
Am heutigen Samstag marschiert auch durch Paris eine Pride-Parade, „Marche des fiertés LGBT+ de Paris“ heißt sie, doch das Werbeplakat des Veranstalters Inter-LGBT sorgt für Entrüstung. Dem Motiv wird Gewaltverherrlichung vorgeworfen, mehrere Unterstützer und Geldgeber, darunter auch staatliche, haben sich distanziert oder halten zugesagte Gelder nun zurück. In der LGBT-Community sind ebenfalls hitzige Debatten entbrannt. Nicht zuletzt nimmt dies auch der Rassemblement National, die Partei der Rechtspopulistin Marine LePen, zum Anlass, mal wieder gegen LGBT zu hetzen.
Umstrittenes Plakatmotiv
Konkret ist auf dem Plakat folgendes zu sehen: Eine bunte Gruppe von diversen Menschen umringt einen grauen Mann, der bewusstlos am Boden liegt, nachdem ihn der Faustschlag eines in Orange dargestellten, zufrieden grinsenden Mannes getroffen hat. Der graue Mann hat am Hals ein keltisches Kreuz. Dieses Kreuz ist nicht nur ein christliches Symbol, sondern wird auch in rechtsextremen Kreisen verwendet – dort steht es für „White Power“.
Umringt werden der bewusstlose Rechtsextreme und sein Widersacher von bunten Figuren, als Männer und Frauen dargestellt, die ebenfalls mit allerlei Symbolik versehen sind. Ganz links ist eine in Rot gehaltene Frau, die eine Schärpe in den Farben der Transflagge trägt und in der gesamten Aufmachung indisch wirkt. Direkt neben ihr ist ein dunkelblauer Mann, der ein rosa Dreieck mit der Aufschrift „Action = Life“ trägt – der Slogan der „Act up“-Bewegung in der Aids-Krise.
Dann folgt eine Frau in Gelb mit einem rosa Hijab, die zusammen mit einem Mann in Grün ein Schild mit der Aufschrift „Gegen die reaktionäre Internationale“ hochhält. Abgerundet wird die Gruppe mit einer Frau in Lila, die sich auf einen Gehstock stützt, eine Tasche in den Farben der Nationalflaggen von Ungarn und Bulgarien mit der Aufschrift „Free Prides“ über die Schulter hängen hat und eine Vielfalt an weiteren Symbolen an ihrer Jacke trägt. Nicht alle Symbole sind gut zu erkennen. Identifizierbar sind: eine Armbinde mit dem Symbol für Gebärdensprache, ein Pin mit der palästinensischen Flagge, das Symbol der Frauenbewegung, ein rotes Dreieck.
Viele LGBT lehnen Motiv ab
Entworfen hat dieses Motiv die Künstlerin Tola Vart, in deren Instagram-Profil „Comic von und für Transfem“ steht. Aus vielen Richtungen erntet ihr Motiv scharfe Kritik: Eine queere, jüdische Organisation fürchtet, die Bildsprache animiere zu Gewalt. Auch FLAG!, ein LGBTI+ Netzwerk für PolizistInnen und JustizbeamtInnen, lehnt dieses Plakat ab. Die Pariser Verkehrsbetriebe RATP hat als Konsequenz angekündigt, die Zusammenarbeit mit Inter-LGBT zu beenden.
In der französischen Tageszeitung Le Monde kritisierte William Marx, Literaturwissenschaftler am Collège de France, dieses Motiv für „semiotische Verwirrung“ und dass die Farben der klassischen Regenbogenflagge abwesend seien. Das allerdings ist nicht richtig, diese Farben befinden sich immerhin als schmaler Streifen unterhalb des Veranstaltungsnamens, zusammen mit der Inter- und Transflagge sowie einem rosa, braunen und schwarzen Streifen.
Intersektionale semiotische Verwirrung
Doch verwirrend ist diese überbordende Symbolik allemal und Marx benennt durchaus wichtige Aspekte, die an der Darstellung zu kritisieren sind:
„Dieses Plakat mit seinen heterogenen Forderungen vergisst das Wesentliche einer Demonstration, die vor 55 Jahren ins Leben gerufen wurde: die Verteidigung der Liebe und das Begehren zwischen zwei Männern oder zwei Frauen. Das Fleischliche und der sexuelle Körper wurden zugunsten einer unverhüllten Verherrlichung der Brutalität aus dem Plakat verbannt. Das ist der neue Puritanismus einer ultralinken Bewegung, die Intersektionalitätstheorien nutzt, um die sexuelle Problematik aufzulösen und fantasielos einen einzigen Feind anzuprangern: die Ultrarechte.“
Das Pariser Plakat ist ein Paradebeispiel für die Überfrachtung, aber auch Inkonsistenz eines Aktivismus, der einen sog. intersektionalen Anspruch formuliert. Mit Intersektionalität will man beschreiben, wie verschiedene Formen von Diskriminierung und Benachteiligung , insbesondere aufgrund von Geschlecht, Rasse, Klasse, sexueller Orientierung und Behinderung, zusammenwirken und sich gegenseitig verstärken können. „Die Sichtbarkeit […] gilt dabei längst nicht mehr Homosexuellen, sondern allen, die irgendwie als ‚anders‘ gelten“, beschreibt der Historiker Vojin Saša Vukadinović diesen aktuellen queeren Aktivismus im eben erschienenen Jahrbuch Sexualitäten 2025.

Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen.
Mit Beiträgen von: Dinçer Güçyeter, Till Randolf Amelung, Ioannis Dimopulos, Karl-Heinz Steinle, Alexander Zinn und vielen anderen.
232 S., 26 farb. Abb., geb., Schutzumschlag, 15 x 22,3 cm, ISBN 978-3-8353-5917-8
€ 34,00 (D) / € 35,00 (A)
Hijab statt sexuelle Befreiung
Homosexuelles Begehren vermittelt die Bildsprache in der Tat nicht, zumal sich auch die Frage stellt, wie sich sexuell befreite Lust mit der Symbolik des islamischen Hijabs verträgt. Die Verhüllung der Frau, um ihre Reize dem männlichen Blick zu entziehen, ist Pflicht in konservativen und fundamentalistischen Islamauslegungen. Eine selbstbestimmte weibliche Sexualität ist hier nicht vorgesehen.
Die Geschlechterbilder von strenggläubigen MuslimInnen und reaktionärer „White Power“-NationalistInnen liegen nicht weit auseinander. Umso ironischer ist es, dass ausgerechnet die Frau mit Kopftuch das Schild gegen die „reaktionäre Internationale“ hochhält. Während also der ultrarechte Reaktionär europäischen Typs „auf die Fresse“ bekommen darf, steht man mit dem islamischen Pendant angeblich auf derselben Seite der Barrikaden. Dabei sieht es in den Straßen vieler europäischer Städte ohnehin anders aus, weil gerade Schwule und Transfrauen häufig von „als muslimisch gelesenen“ jungen Männern verprügelt werden.
Intersektionaler Fiebertraum
Wie wenig der intersektionale Fiebertraum mit der Realität zu tun hat, zeigt allein schon der Kampf der iranischen Frauen unter dem Schlachtruf „Frau, Leben, Freiheit“ gegen das von den Mullahs aufgezwungene Kopftuch. Und: In zwölf Ländern droht immer noch die Todesstrafe für gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen – neun dieser Länder sind muslimisch. Die Frau mit islamischem Kopftuch in diesem Kontext kritisiert auch der Literaturwissenschaftler Marx:
„Nichts deutet darauf hin, dass diese Person etwas anderes verteidigt als die Sache einer Religion, in deren Namen weltweit Tausende von Homosexuellen gefoltert und massakriert werden.“
Eine Pride-Veranstaltung, der für die realen Verhältnisse das Bewusstsein abhandengekommen ist, verfehlt ihren Daseinszweck.
Doch diese Form der Sensibilität gibt es in der queeren Intersektionale nicht. Das verdeutlich auch der Umstand, dass man mit dem Symbol für Gebärdensprache und dem Gehstock symbolisieren will, die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen mitzudenken. Gleichzeitig bezieht man mit der palästinensischen Flagge und dem roten Dreieck eine Position, die jüdische LGBT ausschließt. Seit dem Hamas-Terrormassaker vom 7. Oktober 2023 steht das rote Dreieck für mörderischen Antisemitismus. Hinzu kommt: Während die Palästinaflagge auf einem CSD-Plakat prangt, können LGBT in Gaza oder im Westjordanland nicht offen leben. Wer kann, sucht Schutz in Israel.
Unsichtbare Homosexualität
Viele Reaktionen auf das Pariser Plakat in den Kommentarsektionen beispielsweise in Sozialen Medien zeigen allerdings, dass viele LGBT sich nicht mehr kritiklos alles vorsetzen lassen, was unter dem Buzzword „Intersektionalität“ fabriziert wird. Vor allem an der Verharmlosung des konservativen Islams und seiner Symbole stören sich viele. Möglicherweise spüren immer mehr LGBT das, was William Marx in seiner Kritik an dieser Pride resümiert:
„Indem sie die Frage des Körpers und der Liebe unsichtbar macht, verwirklicht sie objektiv den Traum der Homophoben, denen sie vorgibt, sich zu widersetzen, und spielt letztendlich deren Spiel mit. Das ist die einzige und traurige Annäherung der Kämpfe, die die Organisatoren des Marsches erreicht haben.“
Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.