Im Gespräch mit Anette Detering und Wolfgang Beyer

Anette Detering und Wolfgang Beyer vom EAST PRIDE BERLIN erläutern, was sie politisch bewegt – nämlich der Kampf für Emanzipation und Sichtbarkeit. Und aktuell: Solidarität mit Israel. Außerdem sprechen sie über das Erbe der queeren Bewegung der DDR. IQN-Vorstand Jan Feddersen hat mit beiden gesprochen.

Anette Detering und Wolfgang Beyer tragen das Banner des diesjährigen East Pride Berlin (Foto: Privat).

14. August 2024 | Jan Feddersen

Ihr als „East Pride Berlin“, die eine Pride Demo als Solidaritätsgeste mit Israel veranstaltet habt, werdet in der queeren Community als jene mit der „umstrittenen“ Parade bezeichnet. Was meint ihr dazu? Was könnte das „Umstrittene“ sein?

Wolfgang Beyer: Als „umstritten“ wurde der EAST PRIDE BERLIN in seiner nun vierjährigen Geschichte in diesem Jahr erstmals bezeichnet. Ganz offensichtlich gilt eine solidarische Haltung, bezogen auf den einzigen jüdischen Staat, Israel eben, als keinesfalls konsensfähig innerhalb der Berliner Szene.

Anette Detering: Eigentlich halten wir es für selbstverständlich, dass Pride-Demonstrationen Streit provozieren wollen. Der EAST PRIDE BERLIN hat schon mit seinem ersten Motto „Homophobie ist Sünde“ provoziert, und wir tun dies auch gerne weiterhin.

Ihr habt Euch dieses Jahr dem Thema Israel gewidmet. Welche Motti waren in den vergangenen Jahren die Eurigen?

Anette Detering: Der EAST PRIDE BERLIN hat seine Wurzeln in der unabhängigen Lesben- und Schwulenbewegung nicht „der“ DDR, sondern „in“ der DDR. Das Besondere an dieser Bewegung in einer sozialistischen Diktatur war gar nicht allein die Frage nach der Homosexualität, sondern das Organisieren und Herstellen von Öffentlichkeit durch selbstbestimmte Gruppen. Die DDR hat immer behauptet, es gäbe keine antihomosexuelle Diskriminierung im Sozialismus und hat damit für sich in Anspruch genommen, für Homosexuelle sprechen zu können. Als dann Homosexuelle in den 1980er Jahren anfingen, eben selber für sich zu sprechen und sich selbst zu organisieren begannen, war eben diese Gruppenbildung.

Das hat dem DDR-Regime gar nicht gefallen

Anette Detering: Das hat die Bewegung politisiert und auch zu einer Opposition zur SED gemacht. Das haben wir 2021 thematisiert – mit der Überschrift „Für eure und unsere Freiheit“.

Wolfgang Beyer: 2022 hat der russische Präsident Wladimir Putin deutlich das antihomosexuelle Motiv seiner Kriegsführung ausgesprochen. Es ginge nicht allein um Territorien, sondern auch um einen Kampf gegen die sogenannte Regenbogenideologie. Wir wollten genau dieses Motiv pointiert zum Ausdruck bringen: „Homophobie führt zu Krieg“ war dann unser Motto vor zwei Jahren. Im folgenden Jahr 2023 begann die Welle queerfeindlicher Verfolgungen und antihomosexueller Gesetzgebung auf dem afrikanischen Kontinent mit dem „Anti-Homosexuality Act“ in Uganda. Durch persönlichen Kontakt zu einer Queeren Kirche in Kampala haben wir Einblick in die zerstörerischen Folgen dieses Gesetzes bekommen. Die negative Betroffenheit der gesamtgesellschaftlichen Lebensumstände haben wir mit unserem Motto ins Positive gewendet und von der befreienden Kraft homosexueller Liebe und Lust für alle Menschen gesprochen: „Homosexuality is for everyone“.

Und das Motto dieses Jahres?

Wolfgang Beyer: Auch für unser Motto „Homos sagen Ja zu Israel“ war die Frage nach dem Umgang mit Homosexualität und Antihomosexualität leitend. Das Massaker der Hamas-Terroristen und ihrer Freunde aus dem Gazastreifen an der wehrlosen israelischen Zivilbevölkerung vom 7. Oktober 2023 war zunächst ein Angriff auf alle Menschen in Israel, gleichzeitig aber auch Ausdruck eines Vernichtungswillens gegen selbstbestimmtes homosexuelles Leben.

Anette Detering: Es geht um Solidarität mit Menschen aus Israel, mit Jüdinnen und Juden in Berlin, aber auch um ein ureigenes Interesse von LGBTIQ. Israel ist eine demokratische Gesellschaft und ein Rechtsstaat, der unsere Lebensformen schützt und verteidigen wird.

Wolfgang Beyer: Wir erleben gegenwärtig mit der grundsätzlichen Infragestellung des Existenzrechtes des Staates Israel auch einen neuen antiemanzipatorischen Ton innerhalb der queeren Community. Immer mehr habe ich den Eindruck, dass Israelfeindlichkeit Hand in Hand geht mit unreflektierter Homophobie. Das heißt, sämtliche Aspekte antihomosexueller Gewalt in den Gesellschaften des Nahen Ostens können nicht thematisiert werden, weil sie von den Protagonisten der sogenannten „Queers for Palestine“-Bewegung selbst tief verinnerlicht wurden. Die Identifikation mit dem Mythos „Palestine“ kommt da geradezu wie eine Kompensation der eigenen nicht wirklich politisch reflektierten Homosexualität daher.

Zu Euren Wurzeln, ihr positioniert Euch als ostisch. Ist der Osten der Bundesrepublik, den ihr ja mit „East Pride“ repräsentiert, homophober als der Westen? Stimmt es, dass man im Osten als schwuler Mann, als lesbische Frau oder als unideologischer Transmensch auch ein zufriedenes Leben führen kann?

Anette Detering: Wir sind als Initiatoren des EAST PRIDE BERLIN keine Sozialwissenschaftler. Daher können wir nur aus unserer Erfahrung sprechen. Und nach dieser ist der Osten nicht weniger oder mehr homophob als der Westen. Allerdings kann über Homophobie nicht im luftleeren Raum ohne andere politische Kontexte gesprochen werden.

Wolfgang Beyer: Menschen aus dem Osten, aus der ehemaligen DDR oder dem Ostblock, tragen die Erfahrung von Diktatur und Demütigung in sich. Ganz ähnlich wie beim Phänomen der „Queers for Palestine“ sehe ich so etwas wie eine Identifikation mit dem Aggressor als einen Ausweg, mit dieser Demütigung umzugehen. Tragisch ist dabei aber, dass es in ganz Deutschland – bei Ossis und Wessis – nicht gelingt, den damit verbundenen Drang aufzulösen, anderen die Schuld und die Verantwortung für die eigene Situation zuzuschreiben. Das gilt sowohl für das Ost-West-Deutsche Verhältnis als auch etwa für die Frage nach der überfälligen Gestaltung einer Einwanderungsgesellschaft. Die Einwanderungs- und damit auch Kulturtransformationsfrage – und um die geht es auch schon im Ost-West-Verhältnis – ähnelt dem, womit Homosexuelle es zu tun haben. Homosexuelle stehen nämlich vor der Aufgabe, als Homosexuelle in einer heteronormativen Gesellschaft ein positives homosexuelles Selbstbewusstsein zu entwickeln. Voraussetzung eines gelingenden Prozesses wäre so etwas wie Selbsterfahrung und dann Emanzipation. Und das fehlt im Osten – aber eben auch in ganz Deutschland.  

Anette Detering: Das lässt sich hier nur anreißen. Aber ich erlebe, dass Ostdeutsche häufig ein schwieriges Verhältnis zu ihrem Ostdeutschsein haben, manchmal auch gar keins. Westdeutsche hingegen halten sich selbst schlicht für deutsch, also irgendwie für das Ganze. Als wir den ersten EAST PRIDE BERLIN organisiert haben, war es schwierig, Aktivisten aus der ehemaligen DDR noch einmal in Bewegung zu setzen und auch zum Sprechen zu bringen. Die Menschen, die einst mutig und risikobereit in der SED-Diktatur politische Homosexuellen-Gruppen gegründet haben, erschienen uns nun in mindestens zweierlei Hinsicht bedeutungslos geworden zu sein. Einerseits stellten wir fest, dass bei vielen gar kein Bewusstsein mehr vorhanden war für die Bedeutung dessen, was sie damals in der DDR geleistet haben. Andererseits waren die Personen selbst in er gegenwärtigen Gesellschaft faktisch bedeutungslos geworden. Wer weiß schon noch, dass der LSVD aus der unabhängigen Lesben- und Schwulenbewegung in der DDR erwachsen ist? Wer kennt die Geschichte von der Abschaffung des §151 StBG-DDR?

Wolfgang Beyer: Um es kurz zu machen: Es könnte eigentlich anders sein, aber es gibt einen Mangel an positivem Selbstbewusstsein im Osten. Und das verursacht Aggressionen oder übersteigertes, negatives Selbstbewusstsein. Die Widerstandsgeschichte von Homosexuellen in der DDR böte eine Möglichkeit, positives Selbstbewusstsein zu entwickeln.

Wie?

Wolfgang Beyer: Durch Erinnerung und Nacherzählung. In vielem war dieser Widerstand seiner Zeit und auch den vielen anderen Gruppen weit voraus und hatte eine Art Schlüsselrolle. So hat etwa der Druck dieses Netzwerkes zur Abschaffung des antihomosexuellen Paragraphen 151 StGB-DDR geführt. Das ist nach meinem Wissen einzigartig in der Geschichte der DDR.

Anette Detering: Schwule Männer, lesbische Frauen oder auch „unideologische Transmenschen“ können immer und überall ein ruhiges und zufriedenes Leben führen, wenn sie brav und angepasst sind – in der DDR und in heutigen Verhältnissen auch!

Wie schätzt ihr den CSD ein, wie seht ihr insbesondere die queerfeministische Szene, die etwa ihre Hochburgen in den staatlich alimentierten Szenen hat – und gastronomisch im Kreuzberger Möbel Olfe und im Südblock?

Anette Detering: Ich halte es für wichtig, dass LGBTIQ* in der Metropole Berlin mit einer möglichst großen Demonstration an den Aufstand von Homosexuellen 1969 in New York erinnern.   Dazu bietet der CSD jedes Jahr immer wieder Möglichkeiten. Wir beide halten den Streit um die Kommerzfrage für völlig sinnlos.

So kritisierten linke Queers den klassischen Berliner CSD traditionell – und veranstalteten selbst ihre Paraden, die auch kommerziell waren, nur nicht so wahrgenommen werden sollten.

Anette Detering: Der Raum, politisch sichtbar zu werden wird doch beim klassischen geschaffen. Es käme darauf an, ihn dann auch zu füllen mit Inhalten. Deshalb rufen wir in diesem Jahr als EAST PRIDE BERLIN dazu auf, bei uns in der Laufgruppe „Homos sagen Ja zu Israel“ auf dem CSD mitzulaufen, Flagge zu zeigen und die Demo politisch zu machen.

Wolfgang Beyer: Wenn Queerfeminismus endlich einmal die Situation von Queers und von Frauen in Palästina oder anderen islamischen Staaten kritisch thematisieren würde, hätten wir gar nichts gegen diese „Szene“. Langfristig halten wir es allerdings für einen Fehler, sich von staatlichen Finanzierungen und auch Inhalten abhängig zu machen …

… wie dies in der queerfeministischen Szene üblich ist: Vom Staat finanziert werden und politisch nichts bewegt zu bekommen.

Wolfgang Beyer: Das ist einer der Gründe, weshalb der EAST PRIDE BERLIN bisher seinen Weg ohne staatliche Gelder geht. Hätten wir uns bei all unseren Mottos angefangen von „Homophobie ist Sünde“ bis zum „Ja“ zu Israel auf diese Strukturen – nicht nur auf die staatlichen Gelder, sondern auch auf das Queere Establishment – eingelassen, dann würde der EAST PRIDE BERLIN mit Sicherheit einen völlig anderen, vermutlich unauffälligen Namen tragen – und wäre sicher zu dem geworden, was die queerfeministische Szene dem CSD heute vorwirft: eine Kommerzveranstaltung mit Musikkapelle!    


Zu den Personen

Wolfgang Beyer, Jahrgang 1980, wuchs auf in Ost-Berlin von Beruf Buchhändler, ehrenamtlich Pastor bei der GayChurch Berlin, hatte sein Coming-out mit 16 Jahren und lernte in dieser Zeit Christian Pulz, den Schwulenaktivisten aus der früheren DDR kennen. Beyer gründete 2019 die GayChurch Berlin und initiierte zusammen mit Christian Pulz und Anette Detering 2021 den East Pride Berlin.

Anette Detering, Jahrgang1966, wuchs in der Nähe von Stralsund, DDR, auf, ist diplomierte Mathematikerin und arbeitet heute in der politischen Bildung. Ihr Coming-out datiert auf das Jahr 1989, seitdem lebt sie in Berlin, damals auch die erste Begegnung mit Christian Pulz; von 1991 bis 1995 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses für das Bündnis 90/Die Grünen, 1993 deren Fraktionsvorsitzende, außerdem Mitinitiatorin der Gaychurch Berlin und des East Pride Berlin


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.