Teil 1 der IQN-Berichterstattung
Dass der selbstzweckhafte Ruf nach Zusammenhalt Teil des antisemitischen Problems der queeren Szene ist, konnte dieses Jahr auf dem elften Dyke* March Berlin gut beobachtet werden. Allein für die lesbische Sichtbarkeit konnte man nicht auf die Straße gehen. Verantwortlich dafür sind die Organisatoren des Dyke* March Berlin selbst, die mit ihrer offen propagierten Israelfeindschaft zur Parteinahme zwangen.
28. Juli 2024 | Chantalle El Helou
Kurz gesagt: Die Okkupation des Dyke* March Berlin durch israelfeindliche Aktivisten war ein voller Erfolg. Mindestens 500 Frauen und Männer – darunter arabische Männer, die sich spontan dem Zug anschlossen – waren mit Kufiya, Transparenten und Palästinaflaggen bestückt und bildeten einen ekstatisch wütenden Mob, der unablässig, also über drei Stunden, antisemitische Slogans an vorderster Front des Dyke* Marches brüllte.
Antisemiten führen die Demo an
Gleich zu Beginn sammelten sich die Aktivisten direkt neben dem roten Transporter des Dyke* March Organisationsteams und läuteten die Demo lautstark mit frenetischen Sprechchören zur Vernichtung Israels ein: „Free free Palestine“ und „Yallah, yallah Intifada, von Berlin bis nach Gaza“. Als eine der Organisatorinnen dann die Demonstrationsordnung vorliest und auf das Verbot zur Bewerbung der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ hinweist, beginnen die Aktivisten wütend zu grölen.
Nach dem Start der Demo reiht sich der immer größer werdende Mob vorn ein. Sie bilden zwar den zweiten Block, sind aber sowohl zahlenmäßig als auch in Sachen Sichtbarkeit dem ersten Block weit überlegen und führen mit ihrer starken Sichtbarkeit faktisch den Dyke* March an. Sie laufen mit einem ihrer größten Frontbanner „No pride in Genocide“ direkt neben dem Dyke* March Transporter, der laut Partymusik abspielt und auf dessen Frontseite das Banner mit dem diesjährigen Slogan „DYKES* united – against fascism “ steht.
Antizionistische Slogans
Eingerahmt wird der Block von großen Seitenbannern und den Slogans „generation after generation/ until total liberation“, „Dykes 4 palestine/ our pride ist the resistance“ und „no pride in apartheid“. Neben den „Dykes for palestine“ ist auch die „Alliance of Internationalist Feminists“ mit dabei, die „Our Revolution is Coming“ androht. Dass der Antizionismus Vehikel eigener Befindlichkeiten ist, wurde offensichtlich bei „Yeah I’m into BDSM/ Boycott, Divest, Sanction, Movement “, „We are all palestinians/ up with love, down with zionism“, „FLINTIFADA“ und „Made the Middle-East non-binary again!“ (gekennzeichnet mit einer Wassermelone und Magen David).
Der wohl krasseste Fall vereinnahmt eines der bedeutendsten Symbole der Schwulenbewegung: Der rosa Winkel der Act Up-Bewegung und ihres Slogans „Silence = Death“ befindet sich auf dem Schild eines Aktivisten. Der rosa Winkel zeigt mit der Spitze nach unten und imitiert somit ein Hamas-Dreieck. Unter „Silence = death“ steht „Zionism = Racism“.
Zum Vergleich: Dem riesigen, wütend israelfeindlichen Mob, der in den Straßen Neuköllns Pogromstimmung verbreitete, setzten sich sichtbar nur eine winzige israelsolidarische Gruppe (ca. 20 Personen) entgegen, die mit Davidstern auf Regenbogen nach Block vier, also ans mittlere Ende des Dyke* March verlegt wurden.
Antisemitische Vereinnahmung des Dyke March
Es muss hier klargemacht werden: Das hätte nicht zugelassen werden dürfen und es gibt nur zwei Erklärungen wie es dazu kommen konnte, dass der Dyke* March Berlin – keine Provinzveranstaltung, sondern der, der den Dyke March nach Deutschland brachte – zum Hort des Judenhasses werden konnte.
Entweder die Dyke* March Organisation steht hinter den Vernichtungswünschen gegen Israel, dann sind sie selbst antisemitisch. Oder die Dyke* March Organisation steht nicht dahinter, dann sind sie Kollaborateure der Antisemiten und zu rückgratlos, um die notwendigen Schritte einzuleiten. Sich nicht vereinnahmen zu lassen, hätte in diesem Fall bedeuten müssen, die Demo vorher abzusagen, während dessen abzubrechen oder den Block abzuspalten.
Dass das geht, bewies der Dyke* March von vor zwei Jahren. Eine kleine Gruppe von Frauen präsentierte ihr Lesbischsein als transexklusiv und wurde vom Orgateam sowohl auf dem March selbst als auch hinterher schwer verurteilt. Eine kleine Gruppe von Lesben, die nicht mit Männern schlafen wollen, sind auf dem Dyke* March Berlin ein Skandal, ein riesiger Mob von Antisemiten, die an vorderster Front des Zugs offen die Vernichtung Israels skandieren, sind hingegen völlig tolerierbar.
Ideologisch überzeugtes Orgateam
Die Medien-Präsenz des Dyke* March bestätigt den Eindruck, dass man nicht nur rückgratlos, sondern selbst ideologisch tief engagiert ist. Ende Juni rief der Dyke* March auf Instagram unter seinem Motto „Love Dykes* – Fight Fascism“ seine Teilnahme am globalen Kampf gegen Israel aus: Man sei nicht nur gegen Rechts, Rassismus und Antisemitismus, dieser Reihe wurde auch „settler colonialism, genocide and apartheid“ und drei Wassermelonen-Emojis angefügt. Dieser Kommentar wurde später gelöscht und durch insgesamt zwei Statements und einem Interview ersetzt, in dem die antiisraelische Haltung ebenso stark zum Ausdruck kommt.
Im ersten Statement behauptet man, sich weder vereinnahmen lassen zu wollen noch eindeutige Positionen zu vertreten. Diese Beteuerung hält jedoch nicht mal ein Statement lang, denn in einem Punkt ist man sich dann doch einig: „So verurteilen wir die derzeitigen Genozide in Palästina und anderen Teilen der Welt.“
Im zweiten Statement wird das bestärkt: „Antizionismus ist nicht Antisemitismus. Wir lehnen den rassistischen und islamophoben Diskurs ab, der Anschuldigungen des Antisemitismus nutzt, um Solidarität mit Palästina zu unterbinden“.
Mit der Verteidigung des Antizionismus hat man sich einer Haltung angeschlossen, die Israel das Existenzrecht abspricht und wiederholt das sogar ein zweites Mal im Interview mit Siegessäule. Dort freut sich eine der Organisatorinnen darüber, dass sich die Zahl der vernünftigen Homos, nämlich jene, die an der israelsolidarischen East Pride teilnahmen, auf lediglich 500 Personen beschränkte. Dass auf dem East Pride nur so wenige anzutreffen waren, ist weniger ein Armutszeugnis für die Veranstaltung, denn für die queere Szene und unterstreicht die Notwendigkeit und Legitimität des israelsolidarischen Anliegens.
Zusammenhalt um jeden Preis
Es war der Dyke* March selbst, der Israel zuerst und immer wieder zum Thema gemacht und offen Partei gegen den Zionismus ergriffen hat. Obwohl er damit alle Lesben, die am Dyke* March teilnehmen wollten, zwang, unter der Lüge des Genozidvorwurfs zu laufen, werden die Stifter des Unfriedens in der kleinen Gruppe an Israelsolidarischen gesehen, die offen Haltung am Soli-Abend in der Bar Möbel Olfe zeigten.
Die Reaktion der queeren Szene auf die israelsolidarische Aktion in der Möbel Olfe zeigte den dortigen Antisemitismus wirksam auf. Für die Dyke* March-Orga ist aber klar: Nicht die schlechte Nachricht, sondern der Überbringer schlechter Nachricht ist das eigentliche Problem. Sie finden nicht den Antisemitismus ihrer Szene verächtlich, sondern dessen Thematisierung.
Die Täter-Opfer-Umkehr, die man im Gaza-Krieg vornimmt, überträgt man gern auf sich selbst: Die gezeigte Israelsolidarität hatte aus Sicht des Dyke* March „nur eine Motivation: Provokation und Spaltung.“ In dieser Formulierung steckt selbst antisemitisches Ressentiment – nämlich der Vorwurf an Juden und Zionisten, eine eigentlich gute Welt – hier die eigentlich harmonische Welt des Dyke* March – künstlich zu spalten, Schaden um des Schadens willen anzurichten.
Kritiker des Antisemitismus sind Nestbeschmutzer
Als der Dyke* March am Oranienplatz zu seinem Ende kommt, spricht noch einmal Manuela Kay – die Initiatorin des Dyke* March Berlin – zu den Teilnehmern. Sie ruft erneut zu Zusammenhalt und gegen Spaltung auf.
Wenn eine große, sehr laute Zahl der Demonstranten Antisemiten sind und die Mehrheit der anderen Demonstranten dazu schweigen, dann ist der Aufruf zu Solidarität und Zusammenhalt zwangsläufig ein Aufruf zur Kollaboration mit dem antisemitischen Konsens und schlägt notwendig in die Diffamierung der wenigen Kritiker um. Der Nestbeschmutzer ist niemals die judenhassende Mehrheit, sondern immer der Kritiker.
Das beweist auch die Aktion einer Organisatorin des Dyke* March auf der After Show Party im „Ritter Butzke“. Dort konnte beobachtet werden, wie sie eine der Frauen, die sich auf dem Soliabend in der „Möbel Olfe“ israelsolidarisch zeigten, wegen „Diffamierung“ durch die Security von der Party entfernen ließ. Die zahlreichen Kufiya-Träger durften aber weiterhin ungestört feiern.
Einsicht in die Notwendigkeit des Zionismus
Der Dyke* March zeigt exemplarisch die Notwendigkeit des Zionismus: Wer, außer die Juden selbst, soll sich für ihr Wohl einsetzten? Etwa Menschen vom Schlage des Dyke* March Orgateams, die selbst nach dem Terroranschlag der Hamas auf Israel an ihrer Route über die Sonnenallee festhalten? Wohl wissend, dass es für sichtbare Juden dort nicht sicher ist?
Juden sind eben nur so lange erträglich wie sie keine Energie kosten. Aber Juden, die die Ohnmacht der Diaspora und damit die Auslieferung an ihre leidenschaftlichen Feinde und leidenschaftslosen Freunde nicht hinnehmen wollen und darum Zionisten sind, erklärt man zum Feind schlechthin.
Der Dyke* March und seine Organisatoren sind nicht nur zu Kollaborateuren des israelfeindlichen Mobs geworden, sondern haben für ihn durch ihre eindeutigen Statements die Arme ausgebreitet.
Was die Bewegung spaltet, soll die Ideologie nicht zusammenführen: Wenn Zusammenhalt nur um den Preis des Antisemitismus oder der Kollaboration mit ihm zu haben ist, kann man nicht nur, sondern muss man sogar die Spaltung wählen.
Chantalle El Helou, geb. 2000, B.A. in Politikwissenschaft, zurzeit Masterstudium in Gesellschaftstheorie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; auf Ideologiekritik fokussiert, Publikationen zur Kritik an Prostitution, Queertheorie und Antizionismus, engagiert im lesbischen Nachtleben Berlins.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.