Eszter Kováts‘ Essay aus dem Jahrbuch Sexualitäten 2021 ist online

Mit der Phrase „Das spielt nur den Rechten in die Hände!“ wird im linksprogressiven Lager jede Diskussion abgebügelt, die Kritik an populären Zielen und Konzepten übt. Wie zum Beispiel an einem Geschlechterverständnis, das von wissenschaftlicher Evidenz entkoppelt ist. Die Politikwissenschaftlerin Eszter Kováts fragt, ob das wirklich hilfreich für eine linke Politik ist. Wir bieten diesen Essay kostenlos zum Download an.

Das heteronormative Geschlechter- und Familienideal von Rechtspopulisten (Foto von Sandy Millar auf Unsplash).

28. August 2024 | Redaktion

In den letzten Wochen hat gerade die Debatte um unfaire Vorteile von zwei Teilnehmenden am olympischen Frauenboxen vor Augen geführt, wie wenig ein queeraktivistisch geprägtes Geschlechterverständnis in vielen Teilen der Bevölkerung mehrheitsfähig ist. Es ist mehr als deutlich wahrnehmbar, dass die Ablehnung von klaren, wissenschaftsbasierten Grenzen für die Teilnahme am Frauensport irritiert. Daraus können vor allem reaktionäre und illiberale Kräfte Honig saugen, was sie unter Schlagworten wie „Gender-Gaga“ bereits ausgiebig tun.

Dieses queeraktivistische Geschlechtsverständnis will die Selbstdefinition der Identität über körperliche Materialität stellen, gar von einer Relevanz dieser leiblichen Materialität nichts mehr wissen. Das sorgte auch bei einem weiteren Thema für Kontroversen – der Ersetzung des Transsexuellengesetzes durch ein Selbstbestimmungsgesetz. Trotz schwerwiegender Bedenken, die seitens der Union aus der Opposition und von Frauengruppen vorgebracht wurden, überhaupt nicht mehr zu prüfen, ob eine abgegebene Selbsterklärung eine gewisse Plausibilität hat, haben sich die regierenden Ampel-Parteien nicht beirren lassen. Nun tritt das Gesetz zum 1. November 2024 in Kraft.

Die Entleibung des Geschlechts ist fester Bestandteil des linksprogressiven Kanons. Kritikerinnen und Kritiker an den Folgen eines so aus politischer Motivation heraus veränderten Geschlechterverständnis werden oft pauschal bezichtigt, reaktionär, rechts, gar „Nazi“ zu sein. Die so Beschimpften mögen dann zwar öffentlich eingeschüchtert schweigen, doch es ist zu bezweifeln, ob sie ihre Position deshalb ändern – wir als Initiative Queer Nations haben uns diesen Sprechverboten immer widersetzt.

Die Politikwissenschaftlerin Eszer Kováts plädierte schon 2021 in ihrem „Jahrbuch Sexualitäten“-Beitrag dafür, sich im progressiven Lager selbstkritisch die Frage zu stellen, an welchen Punkten der vorgebrachten Kritik und Ablehnung doch etwas bedenkenswert sein könnte.

So schreibt sie: „Homophob, frauenfeindlich, regressiv, reaktionär, im Mittelalter geblieben – solche Bezeichnungen werden tagtäglich in den Medien über die gegen das Feindbild der sogenannten Genderideologie mobilisierenden Akteure bzw. ihre UnterstützerInnen wiederholt. Aber diese Bezeichnungen verschleiern mehr als sie aufdecken und dienen eher politischen als analytischen Zwecken. Dieser Beitrag geht einigen Aspekten nach, die in den Interpretationen der sogenannten Anti-Gender-Bewegungen zu kurz kommen. Es reicht nicht, entweder nur die Angebotsseite (Diskurse, Netzwerke, Finanzierung der Rechten) zu analysieren oder die Nachfrageseite auf eine psychologische Ebene zu reduzieren und damit jeglichen Widerstand als Phobie und Feindlichkeit fehlgeleiteter oder unmoderner Menschen abzutun. Stattdessen sollte man sich vielmehr mit den strukturellen Gründen der Nachfrage befassen.“

Ein solcher struktureller Grund kann eben sein, dass in progressiven Konzepten „der Wurm drinsteckt“ – wie eben bei einem Geschlechterverständnis, was von biologischen Gegebenheiten nichts mehr wissen will.

Kováts zeigt auf, wie illiberale Kräfte das für sich zu nutzen wissen und damit auch wichtige Anliegen verhindern. So behauptete zum Beispiel die rechtspopulistische Fidesz-KDNP-Regierung Ungarns, die Istanbul-Konvention deshalb nicht ratifizieren zu wollen, weil diese mit einem Konzept von Gender als freie Wählbarkeit des Geschlechts arbeite. Bei der Istanbul-Konvention handelt es sich um das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.

In den ostdeutschen Bundesländern stehen Landtagswahlen vor der Tür, die in Teilen rechtsextreme AfD hat hohe Zustimmungswerte. Diese Partei weiß auch die Konflikte rund um Geschlecht für sich zu nutzen, zuletzt sah man das in den Auseinandersetzungen um das Selbstbestimmungsgesetz.  Anstatt im progressiven Lager jedwede kritische Diskussion mit dem Verweis „Das spielt nur den Rechten in die Hände!“ abzuwehren, sollte man sich fragen, ob es klug ist, an dieser Strategie weiter festzuhalten.

In diesem Sinne ist Eszter Kováts‘ Essay auch noch drei Jahre später lesenswert und kann wichtige Impulse geben, um nicht nur Selbstkritik zu üben, sondern dem rechtspopulistischen Trend etwas mit tatsächlich sinnvollen Konzepten entgegenzusetzen.

Zum Essaythema gab es auch eine Queer Lecture mit Eszter am 12. Mai 2021, die Aufzeichnung kann auf YouTube angesehen werden:

Jahrbuch Sexualitäten 2021

Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Melanie Babenhauserheide, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf.

Mit Beiträgen von Janin Afken, Till Randolf Amelung, Marco Ebert, Jan Feddersen, Uwe Friedrich, Jan-Henrik Friedrichs, Benno Gammerl, Antoine Idier, Jane Clare Jones, Marco Kamholz, Eszter Kováts, Aaron Lahl, Rainer Nicolaysen, Peter Obstfelder, Monty Ott, Peter Rausch, Hedwig Richter, Manuel Schubert, Detlef Siegfried, Vojin Saša Vukadinović, Götz Wienold, Benedikt Wolf und Mesaoo Wrede.

304 S., 15 Abb., geb., Schutzumschlag, 15 x 22,3 cm, ISBN 978-3-8353-5023-6

Preis: € 34,90 (D) / € 35,90 (A)

Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.