Geplante medizinische Leitlinien für Transkinder erhalten einen geringeren Evidenzgrad

 

Die Evidenzbasis für den Einsatz sogenannter Pubertätsblocker und gegengeschlechtlicher Hormone zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie ist mangelhaft. Im europäischen Ausland weiß man das längst, jetzt kommt die Debatte auch in Deutschland an.


Eine beliebte Parole von Tranaktivist_innen , zumeist für den Einsatz von Pubertätsblockern (Foto von Ehimetalor Akhere Unuabona auf Unsplash)


29. Februar 2024 | Till Randolf Amelung

Der international bemerkbare Paradigmenwechsel beim Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die sich als trans verstehen, erreicht nun offenbar auch Deutschland. Ein gender-affirmativer Ansatz, der eine zügige Bestätigung einer Transidentität und Einsatz von Pubertätsblockern sowie gegengeschlechtlicher Hormone vorsieht, gilt nach Bewertung der Evidenzlage nun als zu unsicher. Vor allem die Pubertätsblocker stehen dabei in der Kritik, weil Langzeitfolgen zu wenig bekannt sind. Deutsche Verfechter_innen dieses Ansatzes, insbesondere der Münsteraner Psychiater Georg Romer, verteidigen deren Einsatz. Romer, der dazu häufiger in Medien Rede und Antwort steht, sagte zum Beispiel noch im Oktober 2023 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Wir halten die biologische Uhr für einen verantwortbaren Zeitraum an, der gut vorgeplant und vorbesprochen sein muss. Wir lindern damit den empfundenen Dauerstress, den für eine betroffene Person die biologische Uhr bedeuten kann.“ Der Psychiater Alexander Korte hingegen widerspricht der Auffassung, es könne einen verantwortungsvollen Einsatz von Pubertätsblockern geben. Er stand in Deutschland jahrelang allein auf weiter Flur, als er zum Beispiel Anfang 2020 beim Deutschen Ethikrat auf die lückenhafte Evidenzbasis und ungeklärte Risiken bei der Gabe von Pubertätsblockern hinwies. Korte musste viel Kritik einstecken, wurde gar in die rechtsextreme Ecke gestellt, wogegen er sich unter Anderem 2022 in einem taz-Gespräch mit IQN-Vorstand Jan Feddersen und seiner taz-Kollegin Kaija Kutter verwahrte.

 

Neue Leitlinien für Kinder und Jugendliche

Zum 31. Dezember 2023 sollte die medizinische Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung“ fertiggestellt werden, die unter der Leitung von Georg Romer erarbeitet wird. In dieser Leitlinie soll festgehalten werden, wie Minderjährige mit Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie gemäß „weitreichender Neuentwicklungen im internationalen medizinischen Fachdiskurs zu geschlechts-nonkonformen Identitäten“ bestmöglich behandelt werden sollten – also die Minderjährigen, die oft als „Transkind“ bezeichnet werden. Mit Geschlechtsinkongruenz ist eine Abweichung zwischen Geschlechtsidentität, -rolle und -körper gemeint, Geschlechtsdysphorie bezeichnet das Leiden darunter. Das Ziel ist laut der Leitlinienbeschreibung eine „umfassende inhaltliche Aktualisierung auf der Basis der konzeptuellen Neufassungen nach ICD-11 und DSM 5“, den Klassifikationssystemen für medizinische und psychiatrische Diagnosen. In der elften Fassung der ICD, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben wird und seit Januar 2022 in den Mitgliedsstaaten in Kraft getreten ist, heißt es nun „Geschlechtsinkongruenz“, statt wie vorher „Transsexualismus“ und „Störungen der Geschlechtsidentität“. Ebenso ist „Geschlechtsinkongruenz“ nicht mehr im Kapitel „Psychische und Persönlichkeitsstörungen“ enthalten. Auch im DSM 5, welches von der American Psychiatric Association (APA) herausgegeben wird, ist längst nicht mehr von „Geschlechtsidentitätsstörung“, sondern von „Geschlechtsdysphorie“ die Rede. All dies soll vor allem nach dem Willen von Transaktivist_innen und ihren Verbündeten in der Medizin und Psychologie dazu beitragen, Trans zu entstigmatisieren.

 

Aus S3 wurde S2k

Aktualisierte medizinische Leitlinien für Transpersonen sollen diesen Veränderungen Rechnung tragen, so auch die für Kinder und Jugendliche. Geplant war bei der Anmeldung 2020, dass die neuen Leitlinien dem höchsten Evidenzgrad der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) entsprechen sollen. Dieser lautet „S3“, was folgendes bedeutet: „Bei S3-Leitlinien werden im Rahmen der formalen Konsensfindung zur Verabschiedung der Empfehlungen die methodisch aufbereitete Evidenz unter klinischen Gesichtspunkten gewertet und die Empfehlungen auf dieser Grundlage diskutiert.“

Doch wer sich Ende Februar 2024 über den Stand bei der geplanten Leitlinie für Kinder und Jugendliche informieren will, stellt mit einer gewissen Verwunderung fest, dass diese nun auf „S2k“ heruntergestuft wurde. Dies bedeutet: „Bei konsensbasierten Leitlinien (S2k) erfolgt die Verabschiedung und Feststellung der Stärke der Empfehlungen im formalen Konsensusverfahren, jedoch ist die Angabe von schematischen Empfehlungsgraden oder Evidenzgraden nicht vorgesehen, da keine systematische Aufbereitung der Evidenz zugrunde liegt. Der Grad einer Empfehlung wird sprachlich ausgedrückt.“ Derzeit befindet sich das Leitlinien-Manuskript laut Website der AWMF in der Begutachtung.

 

Evidenzbasis mangelhaft

Passend zu diesen Entwicklungen ist am 27. Februar der Artikel „Beyond NICE: Aktualisierte systematische Übersicht zur Evidenzlage der Pubertätsblockade und Hormongabe bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie“ erschienen, den eine Gruppe deutscher Psychiater_innen gemeinsam veröffentlicht hat. In diesem setzen sie sich kritisch mit der vorhandenen Evidenzbasis für die Anwendung von Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie auseinander. Grundlage sind zwei systematische Untersuchungen des britischen National Institute for Clinical Excellence (NICE) und seitdem hinzugekommene Studien. Die Studienlage bewerten die Autor_innen als „mangelhaft“ und begründen dies unter anderem so: „Die derzeitige Studienlage zu einer PB- und/oder CSH-Gabe bei Kindern und Jugendlichen ist sehr begrenzt und basiert auf wenigen Studien mit meist unzureichender Methodik aus wenigen Zentren. Die Ergebnisse der in der vorliegenden Arbeit zusammengetragenen und vorgestellten Studien, welche die Auswirkungen auf die Reduktion oder das Sistieren einer GD bzw. auf die Verbesserung der psychischen Gesundheit (sog. kritischen Endpunkte), der Körperzufriedenheit und der globalen und psychosozialen Funktionsfähigkeit (sog. wichtige Endpunkte)[sic] bei Kindern und Jugendlichen mit GD untersuchten, sind demnach von niedriger Qualität; das klinisch-wissenschaftliche Vertrauen in die berichteten (oft unspezifischen) Effekte ist gering.

Bei allen Studien, die in den beiden NICE-Übersichtsarbeiten (NICE, 2020a, 2020b) und in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt werden, handelt es sich um Beobachtungsstudien, die dem Risiko für Verzerrungen und dem Einfluss weiterer nicht erfasster Faktoren unterliegen. Die Dokumentation und Kontrolle des Einflusses psychischer und somatischer Komorbidität sowie von Begleitbehandlungen war in allen Studien unzureichend.“

 

Abkehr vom gender-affirmativen Ansatz im Ausland

Während man in Deutschland noch im Vogel-Strauß-Modus verharrte, setzte in mehreren europäischen Ländern eine Kehrtwende ein: Nachdem Probleme mit steigenden Patienten_innenzahlen und zunehmenden Berichten von Detransitionen zur Überprüfung der Evidenzbasis des Behandlungskonzepts mit Pubertätsblockade und anschließender Gabe gegengeschlechtlicher Hormone führten, änderten Finnland, Schweden, Großbritannien und Dänemark ihre Konzepte. Nun soll geschlechtsdysphorischen Minderjährigen wieder vorrangig mit psychotherapeutischen Methoden begegnet werden. Die WHO hat nun ebenfalls erklärt, die Evidenzbasis für geschlechtsangleichende Behandlungen bei Minderjährigen sei zu dünn, und daher soll dieser Bereich bei geplanten Leitlinien der WHO ausgeklammert werden. Zuvor gab es international Proteste gegen die Pläne der WHO, eine Leitlinienkommission mit ausschließlich trans-affirmativen Fachleuten und Aktivist_innen zu besetzen, worüber auch im IQN-Blog berichtet wurde.

Nun scheint sich auch in Deutschland etwas zu ändern. Vielleicht wäre es zudem bald an der Zeit, sich bei jahrelang so zu Unrecht geschmähten Personen wie Alexander Korte zu entschuldigen.

 


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Texte von ihm, insbesondere zu politischen, transaktivistischen Zielen, sind auch im Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze) erschienen. Darin hat er ebenfalls auf die Mängel beim gender-affirmativen Ansatz und die Entwicklungen im Ausland hingewiesen.