Kein Jahrbuch Sexualitäten ohne Miniaturen, den gleichermaßen persönlichen wie engagierten Auseinandersetzungen mit aktuellen Themen der queeren Welt.



Das Jahrbuch Sexualitäten 2022 widmet gleich zwei Miniaturen dem Streit in nicht-heterosexuellen Communitys – damals und heute. Patsy L’amour LaLove, Vojin Saša Vukadinović und Till Randolf Amelung blicken in ihrer Miniatur „’Ich habe es nicht gelesen, aber …‘ – Fünf Jahre ‚Beißreflexe’“ gemeinsam auf die letzten fünf Jahre Rezeptionsgeschichte des viel diskutierten Sachbuchs „Beißreflexe“ zurück.

Und Jan Feddersen nimmt die „Beißreflexe“ in seinem Text „Bissige Intervention gegen Queerreligiöses – Gegen wen sich ‚Beißreflexe‘ richtete – und warum es als Buch Furore machte“ zum Anlass, den Blick auf frühere und ebenso prägende wie streit-trächtige Vorläufer zu weiten, nämlich auf den 1975 erschienenen Sammelband „Tuntenstreit“ und den 1997 erschienenen Essay „Schöne Schwule Welt“ des Autors Werner Hinzpeters.

Emily Lau hat beide Miniaturen aus dem Jahrbuch Sexualitäten 2022 gelesen und für queernations.de, gleichsam als Patin, eine Besprechung der Texte vorgenommen. Emily Lau, vom Alter her in den frühesten Zwanzigern, ist Studentin an der Sigmund Freud Privatuniversität Berlin, Westberlinerin und, so darf man sie vorstellen, eine „junge Lesbe alter Schule“. Sie versteht sich Aktivistin für antifaschistische Belange. Sie wird im kommenden Frühjahr 2023 eine Queer Lecture zu Auswegen aus der queeren Krise halten.

Lesen Sie nachfolgend ihre Besprechung von „’Ich habe es nicht gelesen, aber …‘ – Fünf Jahre ‚Beißreflexe’“ und „Bissige Intervention gegen Queerreligiöses – Gegen wen sich ‚Beißreflexe‘ richtete – und warum es als Buch Furore machte“.


Kreisch – damals und heute

Von Emily Lau

Ich bin heute glückliche Patin zweier Miniaturen im Jahrbuch, die sich um eines der wohl umstrittensten Bücher der letzten fünf Jahre drehen. Es geht natürlich um „Beißreflexe“. Die Autor*innen der beiden Texte, für die ich hier kleine Trailer gebe, haben es sich nicht nehmen lassen, zur Ochsenhochzeit des 2017 herausgegebenen Sammelbandes nochmal in die Vergangenheit zu blicken und zu überlegen, warum in der identitätspolitischen Debatte immer noch so viel falsch läuft.

Der erste Beitrag ist gleich von drei Autor*innen, die auch allesamt in „Beißreflexe“ mitwirkten: erstens von Patsy L’amour LaLove, Herausgeberin des Buches, so charmante wie streitlustige Polittunte und Schönheitsmodell. Dann von Vojin Saša Vukadinović, Historiker, Geschlechterforscher sowie Forscher zu Antisemitismus und Rassismus und zwar auch zu jenem in linken Kreisen. Außerdem Till Randolf Amelung, freiberuflicher Autor, Kritiker von Missständen in Politik und (queerfeministischem) Aktivismus und selbst Aktivist für transgeschlechtliche Belange.

In dem gemeinsam verfassten Beitrag wird die sehr spannende fünfjährige Rezeptionsgeschichte von „Beißreflexe“ reflektiert – dem Band, der sich stolz zur sogenannten „Kreischreihe“ des Berliner Querverlags zählen darf. Der Titel lautet: „Ich habe es nicht gelesen, aber…“ und verweist damit schon auf die Wurzel allen Übels: Dass nämlich der bloße Eindruck, es könne sich um eine Kritik an der Bewegung schlechthin handeln, dazu führte, dass viele sich gar nicht mehr die Mühe machten, das Buch überhaupt zu lesen. Kritik an der Bewegung gilt offenbar als Verrat und mit Verrätern will niemand etwas zu tun haben. Das geht, wie die Autor*innen berichten, soweit, dass das bloße Mitwirken am „Beißreflexe“-Projekt zum Risiko wurde: Beteiligte mussten um ihre Stipendien und ihren (akademischen) Arbeitsplatz fürchten, weil „Beißreflexe“-Kritiker*innen sich dafür einsetzten, die Autor*innen als (politisch) Rechte zu markieren.

Neue dogmatische Bewegung

Wie konnte es nur so weit kommen? „Beißreflexe“ war das Forum, in dem sich linke, queere Intellektuelle erstmals gebündelt trauten, Kritik gegenüber dem vermuteten Aufkeimen eines links-queeren Autoritarismus zu äußern. Genauer werden in „Beißreflexe“ aus Amerika importierte Phänomene wie z.B. Critical Whiteness, Vielfaltsausverkauf und Cultural Appropriation kritisch untersucht – die oftmals mehr auf Pose als auf progressive Wirkmacht aus seien. Aber auch der Antizionismus der Linken wird unter die Lupe genommen. Vor allem macht „Beißreflexe“ aufmerksam auf Queer im Sinne einer neuen dogmatischen Bewegung, die regressive Opferkonkurrenz betreibe, Sprechverbote erhebe und keinen Dissens akzeptiere.

Was als Nächstes geschah… Als Reaktion auf die Veröffentlichung des Buches seien laut Vukadinović, Amelung und LaLove klassisch queere Register gezogen worden. Man habe ein „Wir“ gegen ein „Die“ konstruiert. Ein Queer gegen die „Beißreflexe“-Autor*innenschaft – obwohl, wenn man das Buch gelesen hat, klar wird, dass die Autor*innen sich untereinander gar nicht unbedingt einig sind. Beteiligte des Sammelbandes wurden jedenfalls in weiten Teilen als TERFiges Rassistenpack bezeichnet – eine substanzielle Begründung steht bis heute aus. Selbst von bekannten Autorinnen wie Sabine Hark und Judith Butler, die sich im Feuilleton der „Zeit“ zum Buch äußerten, kam nichts als reine Formkritik, Verteufelung der Autor*innen und die Äußerung persönlicher Verletztheit.

Ich will nicht zu viel verraten, aber so viel will gesagt sein: Vukadinović, Amelung und LaLove kommen zu keiner rosigen Bilanz: „Queer“ verzeichne in allen gesellschaftlichen Bereiche, für die sie sich interessieren, strukturelle Terraingewinne und sorge dafür, dass jeglicher Raum für eine Diskussionskultur schwindet. Das hat mich an den umstrittenen HU-Vortrag zur biologischen Zweigeschlechtlichkeit von Marie-Luise Vollbrecht im Sommer 2022 erinnert.

Marie-Luise Vollbrecht

Ein paar Freundinnen und ich besuchten die nachgeholte Live-Veranstaltung am 14. Juli 2022, um uns nochmal eine eigene Meinung zu bilden. Schnell stellten wir fest, dass der Raum bis auf uns mit Vollbrecht-Enthusiast*innen gefüllt war. Am Anfang ihres Vortrags war sie im tosenden Applaus kaum zu verstehen. Der gegnerische Rest blökte draußen auf der Gegendemo rum, ohne sich eine potentiell spannende, weil kontroverse Debatte zu liefern. Für mich war das ein akkurates Abbild dafür, wie es momentan in weiten Teilen um die queere Diskussionsbereitschaft steht.

Es sieht also so aus, als lebten wir in einer Zeit, in der queerer Aktivismus sich in Wortklaubereien erschöpft. Eine Zeit, in der der Genderstern als Dreschflegel operiert, der die rechte Spreu vom linken Weizen trennt. Der Beitrag der „Beißreflexe“-Autor*innen ist aber auch hoffnungsvoll, weil er zeigt, dass innerlinke Debattenkultur doch nicht den eigenen Verletzungen erliegen muss. Die Autor*innen setzten sich nämlich auf Augenhöhe mit der Kritik am „Kreisch“-Band bzw. an ihnen selbst auseinander, obwohl sie oft unter die Gürtellinie gegangen war.

Vor allem aber ist der Beitrag ein erneuter Aufruf, doch bitte endlich das gottverdammte Buch zu lesen!

Die zweite Miniatur ist von Jan Feddersen. Er ist taz-Redakteur und strenger Analytiker queeren Zeitgeschehens. Der Beitrag gibt eine rare Perspektive auf die untererzählte Geschichte der Schwulen in Deutschland. Er schlägt sehr raffinierte Brücken zwischen zu feiernden Reformen und der Dynamik der Bewegung. In seinem Beitrag zeichnet er außerdem eine Chronologie dreier literarischer Unruhestifter, die mit ihren Thesen die Bewegung aufmischten. Jan Feddersen geht es zudem auch immer um die Frage der Emanzipation.

Die leidenden Schwulen

Die drei prägenden Werke sind der Sammelband „Tuntenstreit“ von 1975, Werner Hinzpeters Essay „Schöne Schwule Welt“ von 1997, und als letzter Radaubruder, wenn man das so formulieren darf, tritt 2017 dann schließlich „Beißreflexe“ auf die Bühne. Im „Tuntenstreit“ ging es darum, ob sich „schwul“ ins kapitalistische System integrieren ließe oder ob man sich, akzeptiere man dies, damit an den Unterdrücker verrate. Die autonomen standen den bürgerrechtlichen Schwulen gegenüber. Spätestens nach der Aidskrise waren die Schwulen aber längst in die medizinischen und sozialen Institutionen vorgedrungen, standen nicht mehr draußen, weil man ohne sie die Krise gar nicht hätte bewältigen können.

Der Aufschrei war groß, als der Autor Werner Hinzpeter 1997 gegen das „Bild vom leidenden Schwulen“ zu Felde zog. Hinzpeter zufolge sei spätestens nach der Abschaffung des antihomosexuellen Paragraphen 175 bereits eine hinreichende schwule Infrastruktur installiert worden. In Reaktion auf Hinzpeter konnte sich die gespaltene schwule Bewegung einigen, dass keineswegs paradiesische Zustände erreicht waren und es sehr wohl noch Gründe gab, auf die Straße zu gehen. Trotzdem trennte sich die Bewegung letzten Endes wieder über dem Thema der sogenannten „Ehe für Alle“. Man teilte das Ziel der Emanzipation, aber verheiratete Schwule waren für die einen eben doch wieder Verrat, während es für die anderen ein Meilenstein der Befreiung war.

„Beißreflexe“, jüngster Unruhe-Stifter, setzt sich nun kritisch mit den Charakteristika der neuen queeren Bewegung auseinander. Jan Feddersen sieht in den queeren Anhänger*innen der Gender Studies Menschen, die sich nicht mehr an den wesentlichen Kämpfen beteiligen, sondern einen Haufen Utopisten, der sich mit dem Scheitern der eigenen Visionen auf Trab hält und die Forschung indoktriniert. Laut Feddersen könne man sich jetzt überhaupt nur auf diese ideellen Themen stürzen, weil die frühere Schwulen- und später auch Lesbenbewegung in den letzten 50 Jahren die Erfolge errungen hat, auf denen sich die queere Bewegung im Grunde nur noch ausruht.

Utopisten gegen Reformisten

Hier würde ich die Neuen gerne ein wenig in Schutz nehmen, denn der Fakt, dass in universitären Institutionen nach wie vor wichtige Impulse für gesellschaftliche Reformen gesendet werden, wie etwa die Arbeit von Juristinnen aus den Legal Gender Studies, die bis in das Bundesverfassungsgericht hineinwirken und deren Arbeit sich den bürgerrechtlichen Kämpfen verschrieben hat, scheint mir nicht zum Vorwurf Jan Feddersens zu passen, man habe es mit einer wie auf blind gestellten „queer people-orientierten Wissenschaft“ zu tun, die sich den akuten Fragen nicht stellen würde.

Nach dieser sehr spannungsreichen Leseerfahrung bleiben ein paar brennende Fragen: Geht es heute, wie damals, wirklich noch um den Grabenkampf zwischen den Utopisten gegen die Reformisten? Inwiefern schließt sich Queer an die Geschichte der Schwulen- (und Lesben-)Bewegung an? Sind die Helden und Heldinnen von gestern wirklich die Schimpfwörter von heute? Und wer schuldet hier eigentlich wem die Solidarität?

Am Ende bleibt vielleicht doch noch ein Funken Hoffnung, dass es sich bei der Entwicklung der autoritären Front des queeren Mainstreams um eine Art Übergangsphase handelt. Bei dem Satz “Es ist vielleicht nur eine Phase” werden sich bei vielen die Nackenhaare aufstellen. Aber vielleicht hat man es bei Queer einfach noch mit einer neueren Religion mit vielen jungen Konvertiten zu tun. Und bekanntermaßen sind ja die frisch Konvertierten immer die Fundamentalisten. Man denke an den Weiberrat der 68er: Erst skandierten sie “Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen”, bevor man sich wieder beruhigte und sich auch ohne Tomaten-Munition respektvoll gegenübertrat. Und das wünsche ich uns auch!

Diese Besprechung wurde Anlässlich der Premierenlesung des Jahrbuchs Sexualitäten 2022 Mitte Juli 2022 verfasst. Das Jahrbuch Sexualitäten ist im Wallstein Verlag Göttingen erschienen und im Handel (bspw. Prinz Eisenherz, Berlin) erhältlich, sowie in vielen universitären Bibliotheken abrufbar. Emily Lau auf Twitter: https://twitter.com/granatanongrata


(c) Titelbild: Unsplash/Jorik Kleen