In Lettland hat das Parlament mit knapper Mehrheit darüber abgestimmt, wieder aus der erst 2024 ratifizierten Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt auszutreten. Rechtspopulisten behaupteten, die Konvention würde schädliche „Genderideologie“ transportieren. Zwar wurde der Schritt durch ein präsidiales Veto vorerst abgewendet, doch das Ereignis in Lettland weist auf grundlegende Probleme um den Gender-Begriff und die Istanbul-Konvention hin.

Die Saeima - das Parlament Lettlands - in Riga von außen, Symbolbild für Artikel "Lettland will raus aus Istanbul-Konvention"
Die Saeima in der lettischen Hauptstadt Riga (Foto: Ralf Roletschek auf Wikimedia)

9. November 2025 | Till Randolf Amelung

Letzte Woche Donnerstag hat die Saeima, das lettische Parlament, mit einer Mehrheit von 56 der 100 Abgeordneten beschlossen, wieder aus der erst 2024 ratifizierten Istanbul-Konvention auszutreten.  Damit gemeint ist das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, was 2011 nach langjährigen Verhandlungen in der türkischen Metropole am Bosporus verabschiedet wurde.

Die Istanbul-Konvention „ist ein völkerrechtlich bindendes Instrument zur umfassenden Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Dazu gehören Opferschutz, Prävention und Strafverfolgung sowie die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter in den Verfassungen und Rechtssystemen“, heißt es auf der Website von UN Women Deutschland. Bislang haben 38 Nationalstaaten die Konvention ratifiziert und sich damit zu umfassenden Maßnahmen zum Schutz von Frauen und Mädchen verpflichtet – so auch Lettland.

Zwischen „natürlicher“ Familie und Genderideologie

Doch nun will das Land die Ratifizierung wieder zurücknehmen. Angestoßen wurde dies in der Saeima durch einen Antrag der rechtspopulistischen Oppositionspartei Latvija pirmajā vietā („Lettland zuerst“). Ein wesentlicher Vorwurf: Die Konvention würde traditionelle Werte der Nation gefährden. Damit meinen die Rechtspopulisten, anstatt Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, würde dieser völkerrechtlich bindende Vertrag Lettland die gleichgeschlechtliche Ehe oder geschlechterneutrale Toiletten aufzwingen. Laut Tagesspiegel habe deren Parteivorsitzender Ainārs Šlesers die lettische Bevölkerung dazu aufgerufen, sich zwischen einer „natürlichen“ Familie und einer „Gender-Ideologie mit mehreren Geschlechtern“ zu entscheiden.

Eine solche Interpretation wie in Lettland ist kein Einzelfall. Ebensolches war auch aus Polen, Kroatien, Bulgarien oder Ungarn zu vernehmen. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Begriffe „Gender“ und „Gender Identity“ (Geschlechtsidentität). Bereits 2021 beschrieb die Politikwissenschaftlerin Eszter Kováts im Jahrbuch Sexualitäten der IQN, wie „Gender“ als Feindbild der Rechten funktioniert und wie auch ein progressives Geschlechterverständnis mit Fokus auf Identität und Geringschätzung für biologische Evidenz dies befeuert. In Ungarn behauptete zum Beispiel die Fidesz-KDNP-Regierung, die Istanbul-Konvention deshalb nicht ratifizieren zu wollen, weil diese mit einem Konzept von Gender als freie Wählbarkeit des Geschlechts arbeite.

Europarat muss auf Vorwürfe reagieren

Schon 2018 musste der Europarat eigenen Angaben zufolge auf solche Behauptungen reagieren, damals mit Artikeln in der bulgarischen wie auch der kroatischen Ausgabe der Zeitschrift ELLE:

„Um der Vorstellung entgegenzutreten, dass die Istanbul-Konvention den Mitgliedsstaaten eine Art ‚Gender-Ideologie‘ aufzwingen wolle, wird in den Zeitschriftenartikeln der Unterschied zwischen den Begriffen ‚biologisches Geschlecht‘ (englisch ‚Sex) und ‚soziales Geschlecht‘ (englisch ‚Gender‘) erläutert: Der erste Begriff bezieht sich auf die biologischen Merkmale, die einen Menschen als Frau oder Mann definieren, während der zweite Begriff die gesellschaftlich geprägten Rollen, Verhaltensweisen und Tätigkeiten betrifft, die eine bestimmte Gesellschaft als für Frauen und Männer angemessen ansieht.

Demzufolge bedingt das soziale Geschlecht die Rollen, die von Frauen und Männern erwartet werden. Diese Rollen sind allzu oft von überholten Stereotypen geprägt. Diese Klischees können dazu führen, dass Gewalt gegen Frauen, Einschüchterungen und Angst ‚akzeptabel‘ werden. Beide Artikel betonen daher, dass sich das Übereinkommen per se nicht gegen traditionelle Geschlechterrollen richtet. Wenn Frauen als Mütter zu Hause bleiben möchten, während der Ehemann arbeitet, spricht sich die Istanbul-Konvention nicht dagegen aus, da sie nicht darauf abzielt, Frauen oder Männer zu einer bestimmten Lebensweise zu zwingen.“

Außerdem wies der Europarat damals schon Vorwürfe zurück, die Istanbul-Konvention würde die Staaten zur Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Ehen und eines dritten Geschlechts oder zu Schulunterricht über sexuelle Ausrichtung und Geschlechtsidentität verpflichten. Doch solche Vorwürfe von Rechtspopulisten gegen die Istanbul-Konvention verstummen nicht.

Geschlechtsidentität sorgt für Konflikte

Es ist in der Tat iso, dass der Begriff „Geschlechtsidentität“ kein Bestandteil des Haupttextes der Konvention ist. Allerdings taucht er, laut dem Think Tank „Athena Forum“, in der Nichtdiskriminierungsklausel auf. Dies geht auf das Engagement des queeraktivistischen Dachverbands ILGA-Europe zurück, der sich erfolgreich in die Verhandlungen der Konvention einschaltete. Der 2025 neu gegründete genderkritische Think Tank „Athena Forum“ kritisiert daran, dass „Geschlechtsidentität“ weder eine klare Definition noch einen klaren Rechtsstatus habe. Trotzdem sei auf diese Weise der Begriff in das Völkerrecht gelangt – ohne klare Definition und ohne Konsens. Diesen Umstand der Unklarheit würden nun Rechtspopulisten international ausnutzen, um lebensrettenden Frauenschutz zu sabotieren.

In Lettland ist der Ausstieg aus der Istanbul-Konvention noch keine vollendete Tatsache. Denn Edgars Rinkēvičs, Präsident des baltischen Staats, machte von seinem Vetorecht Gebrauch und schickte das Gesetz über den Ausstieg zu einer neuen Prüfung an die Saeima zurück, die wohl erst in der nächsten Legislaturperiode geschehen wird. In anderen Ländern hat der unklare Begriff der Geschlechtsidentität laut „Athena Forum“ jedoch bewirkt, dass die Konvention nicht ratifiziert wurde: In Bulgarien entschied das Verfassungsgericht 2018, dass die Konvention aufgrund ihrer unbestimmten Terminologie verfassungswidrig sei. In der Slowakei und in Ungarn lehnte man 2020 die Ratifizierung aus denselben Gründen ab.

„Athena Forum“ fordert deshalb:

„Es ist an der Zeit, neu zu überdenken, wie Rahmenwerke für die Menschenrechte von Frauen ausgehandelt werden, wessen Interessen sie prägen und wie sichergestellt werden kann, dass keine politische Ideologie – wie gut sie auch gemeint sein mag – die Sicherheit und Würde aller Frauen und Mädchen untergräbt.“

Auch Politikwissenschaftlerin Kováts plädierte 2021 in ihrem Essay:

„Wenn man aber sogar die Ambition hat, zu verstehen, warum Feminismus, LSBTI und Gender als negative Projektionsflächen in der Gesellschaft funktionieren, dann muss man sich kritische Fragen stellen und darf Konflikte nicht scheuen.“

Die Konflikte, die sich hier zum Verständnis von Geschlecht zeigen, gehen über bloße Gegensätze zwischen konservativen und progressiven Gesellschaftsentwürfen hinaus.  International breit etablierte Instrumente wie die 2008 veröffentlichten Yogyakarta-Prinzipien oder das Positionspapier „Human Rights and Gender Identity“ des Europarats von 2009 weisen in die Richtung, dass der Identität unabhängig von biologischen Gegebenheiten die Priorität eingeräumt werden soll.

Dagegen wächst ebenso international der Widerstand, insbesondere unter Frauen. Um hier Rechtspopulisten global die Nahrung für ihre insgesamt ja auch antihomosexuelle Propaganda wegzunehmen, aus der sie politische Energie ziehen können, wäre es wichtig, Begrifflichkeiten rund um Geschlecht noch einmal zu überarbeiten und für Kohärenz zu sorgen. Am Ende sollte beides möglich sein: Schutz für Frauen und Mädchen im Sinne des biologischen Geschlechts sowie auch Schutz für LGBTI.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.