Jahrbuch-Beitrag befasst sich mit medialer Rezeption von Gender-Nonkonformität in archäologischen Funden

Der Historiker Aaron Gebler setzt sich in seinem Beitrag im Jahrbuch Sexualitäten 2024 mit der Berichterstattung über einen archäologischen Fachartikel auseinander, der die scheinbare Kontinuität nichtbinärer Identitäten von Bronzezeit bis heute möglich erscheinen lässt. Norbert Finzsch lobt in seiner Rede auf der Release-Party Geblers Text für seine präzise Analyse. Wir veröffentlichen die Rede zum Nachlesen im IQN-Blog!

Norbert Finzsch bei der Queer Lecture und Release-Party am 5. Juli 2024 in der taz Kantine (Foto: Screenshot)

25. August 2024 | Norbert Finzsch

Dr. Aaron Gebler ist Akademischer Rat am Seminar für Alte Geschichte der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er ist spezialisiert auf die Geschichte der Demokratie in Athen und Griechenland und die Losverfahren in der Antike. Darüber hinaus beschäftigte er sich mit den Digital Classics und Partizipationsformaten in modernen Demokratien. Sein Beitrag im Jahrbuch mit dem Titel Geschichte als Argument? Zur Rezeption historischer Forschung in der Debatte um Geschlechtsidentitäten stellt den gelungenen Versuch dar, das vielbeschworenen Lernen aus der Geschichte zu thematisieren, in seinen Worten, als Rückgriff auf Geschichte der Sexualität als „Kompass, um gegenwärtige Auseinandersetzungen zu verstehen und aufzulösen.“ „Indem sie [die Geschichte] die historische Kontinuität und Veränderlichkeit von Geschlechtsnormen aufzeigt, trägt sie dazu bei, essentialistische Vorstellungen von Geschlechtsidentitäten zu dekonstruieren.“

Archäologische Forschung in den Medien

Konkret geht es Gebler um die archäologische Funde, die die Archäologinnen Eleonore Pape und Nicola Ialongo 2023 im wissenschaftlich renommierten Cambridge Archaeological Journal veröffentlicht haben und in der als biologisch weiblich gelesene Personen mit als angeblich typisch männlich identifizierten Grabbeigaben nachgewiesen wurden. Dieser Artikel argumentiert vorsichtig und methodisch einwandfrei, indem er die Grenzen der Ergebnisse diskutiert und fand in der nichtwissenschaftlichen Presse breiten und durchweg negativen Nachhall. Dabei wiesen die verschiedensten Artikel auf die scheinbare Kontinuität nichtbinärer Identitäten von Bronzezeit bis heute hin, während der wissenschaftliche Aufsatz, der in der Presse referiert wurde, zu wesentlich vorsichtigeren Einschätzungen kam.

Nicht-binäre Geschlechteridentitäten als Triggerpunkte

Gebler wendet sich der Frage zu, wie die angeblichen Funde in den Diskurs der Gegenwart passen. Er schreibt: „In unserem Fall haben wir es mit einem Argument zu tun, das sein Gewicht durch einen historischen Bezug gewinnt: Da es bereits im prähistorischen Europa nicht-binäre Geschlechtsidentitäten gegeben hat, sind sie keine Erfindung der Gegenwart.“ Er analysiert die Rezeption der Forschungsergebnisse in verschiedenen Organen wie der Achse des Guten, einem rechtspopulistischen Organ, das durch seine hämische Polemik aus dem Rahmen fällt.

Gebler situiert die Angriffe auf den angeblichen Inhalt der vorgelegten Untersuchungen dann auch in den Kontext der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Bundesrepublik und die Frage „ob unterschiedliche Identitäten und Soziokulturen als gleichwertig anerkannt werden.“ Obgleich nicht-binäre Geschlechteridentitäten eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung genießen, gebe es doch Triggerpunkte, die durch Normalitätsverstöße ausgelöst werden können.

Kulturelle Vorstellungen von „Normalität“

Nun ist es kein Geheimnis: Die westlichen Kulturen – damit meine ich die Kulturen der entwickelten kapitalistischen Wirtschaftsordnung auf der Grundlage judäo-christlicher Ethik und einer kolonialen Vergangenheit – vor allem also die Kulturen Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, der USA und Kanadas, basieren auf der Vorstellung der „Normalität“.

Wie Georges Canguilhem, in seiner Studie Le normal et le pathologique argumentierte ist „[…] der Begriff normal [… seit dem 18. Jahrhundert] in die Volkssprache eingegangen und hat sich dort aus den spezifischen Vokabularen zweier Institutionen eingebürgert, der pädagogischen Institution und der Institution des Gesundheitswesens, deren Reformen, zumindest was Frankreich betrifft, unter der Wirkung einer gleichen Ursache, der Französischen Revolution, zusammenfielen. „‚Normal‘ ist der Begriff, mit dem das 19. Jahrhundert den schulischen Prototyp und den organischen Gesundheitszustand bezeichnen wird“, schrieb Canguilhem.

Medientheoretische Vermittelbarkeit

Interessanterweise sind es in der Reaktion auf den Aufsatz Eleonore Papes und Nicola Ialongos die Wissenschaftlerinnen, deren angeblich nicht-normales Verhalten durch Kopfschütteln oder Invektive geahndet wird. Anders als Aaron Gebler sehe ich die Verantwortung für den Diskurs über den Normalitätsverstoß hier auf Seiten der Medien und nicht so sehr bei den Akteur*innen des Wissenschaftssystems. Die beiden Archäologinnen, die in der Presse verspottet und beleidigt wurden, haben alles Erdenkliche getan, um den Geltungsbereich und die Grenzen ihrer Forschung darzustellen.

Aaron Geblers Verdienst ist es, noch einmal auf die besondere Aufgabe von Wissenschaftler*innen in den Gender- und Sexualitätsstudien hingewiesen zu haben, ihre Ergebnisse so aufzubereiten, dass Normalitätsverstöße medientheoretisch vermittelbar sind. Wie schwer das sein kann, weiß ich aus eigener Erfahrung. Aaron Gebler hat das noch einmal ins Bewusstsein gehoben und dafür gesorgt, dass das Baby der Sexualitätsgeschichte nicht mit dem Badewasser des radikalen Essentialismus ausgeschüttet wird.

Der Redebeitrag zum Nachhören:


Norbert Finzsch, geboren 1951 in Köln, ist ein Sozial- und Kulturhistoriker, der in Köln, Bordeaux, Berkeley, Canberra, Hamburg und Berlin geforscht und gelehrt hat. Er hatte den Lehrstuhl für Nordamerikanische Geschichte in Hamburg (1992-2001) und Köln (2001-2016) inne. Seit 2020 lehrt er Kulturgeschichte der Psychotherapie an der Sigmund Freud Privatuniversität in Berlin. Er publiziert zur Geschichte des Körpers und der Sexualitäten.


Über das Jahrbuch Sexualitäten 2024

294 S., 22 z.T. farb. Abb., geb., Schutzumschlag, 15 x 22,3 cm, ISBN 978-3-8353-5725-9

Preis: € 34,00 (D) / € 35,00 (A)

Das Jahrbuch Sexualitäten ist ein jährlich im Wallstein-Verlag erscheinendes Periodikum, das Fragen des Sexuellen in einem weiten Sinne thematisiert – unter anderem in den Bereichen des Gesellschaftlichen, Politischen, Kulturellen, Historischen und Juristischen, in der Medizin und den Naturwissenschaften, in Religion, Pädagogik und Psychologie.

Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen.

Mit Beiträgen von Marko Martin, Thomas Großbölting, Vojin Saša Vukadinović, Blake Smith, Tae Ho Kim, Björn Koll, Martina Lenzen-Schulte, Chantalle El Helou, Aaron Gebler, Sigi Lieb, Joey Horsley, Luise F. Pusch, Jan Feddersen, Clemens Schneider, Manuel Schubert, Meike Lauggas, Michael Wunder, Till Randolf Amelung, Adrian Daub, Marion Hulverscheidt, Wiebke Hoogklimmer, Richard F. Wetzell, Thomas Weber, Norbert Finzsch, Norman Domeier und Ketil Slagstad.

Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.