Am 7. März 2025 wurde die S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung“ endlich veröffentlicht. Doch statt einer praxistauglichen Leitlinie ist sie zuvörderst ein Dokument ideologischer Borniertheit.

8. März 2025 | Till Randolf Amelung
Nach vielen Verschiebungen war es am gestrigen Freitagnachmittag endlich so weit: Die finale Fassung der S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung“ wurde auf dem Portal der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) e. V. online gestellt. Diese Leitlinie beansprucht, den medizinischen Standard im Behandlungsfeld zu setzen und soll in Deutschland, Österreich sowie der Schweiz Anwendung finden. Doch es ist fraglich, ob sie tatsächlich breite Anwendung finden wird, denn eine wichtige Fachgesellschaft verweigerte ihre Zustimmung und verlangte, dass ihre Kritik mitveröffentlicht wird.
Die richtige Behandlung gerade von Minderjährigen, die sich als Trans verstehen, weil sie unter ihrem biologischen Geschlecht leiden, sorgt für Kontroversen. Besonders dann, wenn es um den Einsatz von Medikamenten zur Pubertätsblockade geht. In den letzten Jahren ist die Zahl an Kindern und Jugendlichen mit einer Transthematik gestiegen. Umso wichtiger wäre daher eine Leitlinie, die ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen auf aktueller Evidenzbasis Orientierung gibt.
Deutsche Leitlinie ist gender-affirmativ
Doch die nun veröffentlichte Leitlinie, an der seit 2017 eine Kommission unter der Leitung des Münsteraner Psychiaters Georg Romer im Auftrag der Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) erarbeitete, ist hochumstritten. Denn: Die Leitlinien-MacherInnen haben sich von Anfang an dem gender-affirmativen Ansatz verpflichtet.
Dieser beinhaltet, dass die geäußerte Geschlechtsidentität von Beginn an bestätigt, also affirmiert wird. Dazu gehören der soziale Rollenwechsel, eine juristische Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag – und auf der medizinischen Ebene eine rasche Verordnung von Pubertätsblockern. Später folgen dann Geschlechtshormone sowie Operationen.
Das Erkunden von anderen möglichen Ursachen für Geschlechtsdysphorie, insbesondere eine konflikthafte homosexuelle Entwicklung, andere Pubertätskrisen oder Begleitumstände wie Autismus wird dabei vernachlässigt – schlimmer noch: in der deutschen Leitlinie wird der Eindruck vermittelt, dies sei ethisch unangemessen. Gerade deshalb wuchs auch unter deutschen MedizinerInnen Kritik.
Vor knapp einem Jahr wurde die fertiggestellte Leitlinie in einer Pressekonferenz vorgestellt und an ausgewählte Kreise zum Review übergeben. Bereits damals hieß es aus der DGKJP, es seien keine inhaltlichen Kommentierungen erwünscht. Dies führte unter ÄrztInnen zu Unmut, 14 Professoren kritisierten die Leitlinie daraufhin in einem Offenen Brief. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN), mit rund 10.000 Mitgliedern die größte medizinische Fachgesellschaft in dem Feld, hatte daher schon 2024 ihre Zustimmung zu der Leitlinie verweigert, ebenso die Schweizerische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (SGKJPP).
Kursänderungen im Ausland
Seit 2019 häufen sich international Erkenntnisse, dass die medizinische Evidenzbasis für das affirmative Vorgehen zu schwach ist. Das bedeutet, es gibt zu wenig Studien, um Nutzen und Risiken sauber abzuwägen, vor allem Langzeitrisiken durch die Behandlung mit Pubertätsblockern sind unklar. Auch in Deutschland nahm Kritik zu. Der Münchener Arzt Alexander Korte trat zunächst als einziger Kritiker an die Öffentlichkeit, später folgten seine Fachkollegen Florian Zepf und Veit Roessner, die gemeinsam mit anderen 2024 eine eigene systematische Übersicht zur Evidenzlage bei Pubertätsblockern veröffentlichten. Korte und Zepf waren ebenfalls Teil der Leitlinienkommission, bis sie jeweils aufgrund nicht auflösbarer Meinungsverschiedenheiten mit den anderen Gremienmitgliedern bezüglich des affirmativen Ansatzes austraten. 2024 gab es auf dem Deutschen Ärztetag Beschlüsse, die ebenfalls Kritik an der affirmativen Leitlinie übten.
Sicherlich dürften der DGPPN und anderen KritikerInnen die Entwicklungen im Ausland nicht entgangen sein: Länder wie Finnland, Schweden oder Dänemark haben sich aufgrund der ungenügenden Kenntnis von Risiken längst wieder vom gender-affirmativen Modell verabschiedet und setzen auf eine vorrangig psychotherapeutische Betreuung geschlechtsdysphorischer Kinder und Jugendlicher. In Großbritannien wurde mit dem Cass Report eine besonders umfassende Untersuchung des affirmativen Ansatzes vorgenommen – mit vernichtendem Ergebnis. Seit März 2024 ist die damals einzige Spezialambulanz in der Tavistockklinik geschlossen worden, die Versorgung wird nun umstrukturiert, um eine ganzheitlichere Diagnostik und Begleitung sicherzustellen.
DGPPN verweigert Zustimmung zur Leitlinie
In der jetzt veröffentlichten Leitlinie wird klar: die fachinternen Bedenken der DGPPN am affirmativen Ansatz konnten nicht abgeräumt werden. Offenbar waren es diese, die eine Veröffentlichung bislang verhindert haben. Einen sehr deutlichen Hinweis gibt es zum Abschluss der dieser Leitlinie vorangestellten Präambel:
„Sondervotum der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN): Der Vorstand der DGPPN, deren Mandatsträgerin die Präambel mitkonsentiert hat, teilte mit seinem konsentierenden Votum zur finalen Fassung der Leitlinie mit, dass er die Präambel in der o.g. beschlossenen Form nicht mitträgt. Begründung siehe Anhang.“
Damit eine Veröffentlichung der Leitlinie überhaupt noch stattfinden konnte, scheint sich die DGPPN ausbedungen zu haben, dass ihre Bedenken Teil des Dokuments werden – und diese haben es in sich! Gleich zu Beginn heißt es:
„Aus Sicht der DGPPN bedarf diese Präambel in einigen Punkten der Kommentierung und ist in der Summe der Feststellungen abzulehnen, weil einige unausgewogen sind, wichtige Aspekte fehlen und die Präambel insgesamt der unvoreingenommenen wissenschaftlichen Bewertung der Evidenzlage a priori unangemessene moralische Grenzen setzen.“
Damit ist gemeint: die Leitlinien-VerfasserInnen haben moralische Aspekte überbetont, um von der eklatant schwachen Evidenzlage für das affirmative Modell mit Pubertätsblockern abzulenken. Das wird vor allem darin deutlich, dass Selbstverständlichkeiten wie „Respekt vor der Würde und Selbstbestimmung der Person sowie des Wohltuns und Nicht-Schadens“ in der Präambel aufgeführt sind.
Die DGPPN nimmt das jedoch auseinander:
„Die Orientierung einer medizinischen Leitlinie an allgemein anerkannten berufs- und medizinethischen Grundsätzen ist eine Selbstverständlichkeit. Dies für eine einzelne Leitlinie explizit hervorzuheben und zusätzlich auch noch im Rahmen einer Abstimmung zu konsentieren, erweckt den Eindruck, man habe sich mit den medizinethischen Problemen des Themas besonders eingehend beschäftigt bzw. sich zu Beginn der Leitlinienarbeit darauf verpflichtet. Allerdings wird dieser Anspruch nicht erfüllt. Das Kapitel X („Rechtliche Grundlagen und ethische Maßgaben für die Behandlung Minderjähriger mit Geschlechtsinkongruenz“) behandelt vorwiegend juristische Aspekte der Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger und rekurriert dabei fast ausschließlich auf ein einziges unveröffentlichtes und deshalb auch für die Adressaten unzugängliches Rechtsgutachten, welches im Auftrag des Leitlinienkoordinators Prof. Romer angefertigt wurde. Einige medizinethische Fragen werden zwar aufgeworfen, aber nicht abwägend diskutiert.“
Juristische Streitfragen um Einwilligungsfähigkeit
Offenbar scheint Romer als Leitlinien-Koordinator wichtige Informationen zurückzuhalten und trotzdem Zustimmung der DGPPN erwartet zu haben – ein skandalöser Vorgang! Von jemandem zu erwarten, in einen Vertrag einzuwilligen, ohne Kenntnis des Kleingedruckten, wäre in anderen Kontexten schon kriminell.
Gerade die Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger ist eine heikle Frage. In Großbritannien hat der von der Detransitioniererin Keira Bell angestoßene Prozess gegen die ehemalige Genderambulanz der Tavistockklinik zur richterlichen Beurteilung geführt, der affirmative Ansatz mit Pubertätsblockern sei so experimentiell, dass unter-16-Jährige höchstwahrscheinlich die Konsequenzen einer solchen Behandlung für sich nicht richtig einschätzen könnten.
2024 wurde dies durch geleakte Äußerungen von ÄrztInnen noch bestätigt, die sie auf einer internen Austauschplattform der World Professsional Association for Transgender Health (WPATH) getätigt haben – einer aktivistischen Organisation, die für den affirmativen Ansatz eintritt. So schrieben beispielsweise EndokrinologInnen (FachärztInnen für den Hormonstoffwechsel), sie könnten genauso gut mit einer Wand reden, wenn sie ihren jungen PatientInnen die negativen Konsequenzen einer Einnahme von Pubertätsblockern und Geschlechtshormonen auf die Fruchtbarkeit erklären. Später seien viele dieser PatientInnen als junge Erwachsene zurückgekommen und hätten mit dem unerfüllbaren Kinderwunsch gehadert.
Doch während Meldungen wie diese oder der Cass Report bei der DGPPN wohl schwerwiegende Bedenken gegen den affirmativen Ansatz forciert haben könnten, ließen sich Romer und seine Verbündeten offensichtlich nicht beirren und weigerten sich, von affirmativen Grundsätzen abzurücken.
Fraglich ist, ob die affirmative Herangehensweise im Ernstfall vor einem Gericht Bestand hätte – das von Romer bisher zurückgehaltene Rechtsgutachten könnte womöglich Aufschluss geben. Das Zurückhalten nicht genehmer Fakten ist aber unter gender-affirmativ behandelnden ÄrztInnen und TherapeutInnen kein Einzelfall – zuletzt wurde solches von der US-amerikanische Ärztin Johanna Olson-Kennedy berichtet, die aus Steuermitteln finanzierte Studienergebnisse zurückhielt, weil diese den affirmativen Ansatz nicht so stark unterstützen, wie erhofft.
Olson-Kennedy wiederum, wurde letztes Jahr selbst von der ehemaligen Patientin Clementine Breen, die inzwischen detransitioniert, wegen Falschbehandlung verklagt. Breen sagte, frühe Traumata und psychische Begleiterkrankungen seien vor einer Behandlung mit Pubertätsblockern und Testosteron erst gar nicht diagnostiziert und für die weitere Behandlung berücksichtigt worden.
Ausführliche Diagnostik unerwünscht
Es ist zu befürchten, dass dies in der neuen affirmativen Leitlinie von Romer et al. ebenfalls zu kurz kommen wird. In Punkt 7 der Präambel heißt es:
„Psychotherapeutische Unterstützung soll Behandlungssuchenden zur Begleitung z.B. einer ergebnisoffenen Selbstfindung, zur Stärkung des Selbstvertrauens, zur Bewältigung von Diskriminierungserfahrungen oder zur psychischen Vor- und Nachbereitung von Schritten im Prozess einer Transition niedrigschwellig angeboten und verfügbar gemacht werden. Eine Verpflichtung zu Psychotherapie als Bedingung für den Zugang zu medizinischer Behandlung ist aus Gründen des Respekts vor der Würde und Selbstbestimmung der Person ethisch nicht gerechtfertigt.“
Die DGPPN kritisiert dies:
„Auch hier gilt, dass selbstverständlich niemand zu einer Behandlung gezwungen werden darf und speziell zu einer Psychotherapie auch nicht gezwungen werden kann, weil diese Mitarbeit erfordert. Selbstverständlich ist aber auch, dass für komorbide Störungen eine umfassende psychiatrische Behandlung angeboten und verfügbar gemacht werden muss. Tatsächlich kann eine solche Behandlung auch notwendige Voraussetzung für den Zugang zu körpermodifizierenden Behandlungen sein. Es ist in der gesamten Medizin ein Standardverfahren, dass die fachgerechte Indikation zur Durchführung bestimmter Maßnahmen die Durchführungen anderer vorbereitender diagnostischer bzw. therapeutischer Maßnahmen voraussetzen kann. Es ist also durchaus in Abhängigkeit von der wissenschaftlichen Evidenz denkbar und keinesfalls a priori mit dem Hinweis auf den „Respekt vor der Würde und Selbstbestimmung der Person“ als „ethisch nicht gerechtfertigt“ zu betrachten, dass Hormonbehandlungen oder körpermodifizierende Behandlungen erst nach einer vorherigen psychotherapeutischen Behandlung durchgeführt werden sollten. Deshalb müsste in dieser Leitlinie die Evidenz für und gegen eine solche vorausgehende psychotherapeutische und ggf. pharmakologische Behandlung (z.B. assoziierter psychiatrischer Erkrankungen) gegeneinander abgewogen werden. Dies geschieht nicht und stattdessen wird schon in der Präambel eine nicht wissenschaftlich begründbare „Leitplanke“ gesetzt, die die weitere objektive Abwägung für moralisch unzulässig erklärt.“
Eine im Februar 2025 veröffentlichte Studie aus den USA zeigt, dass diese Kritik der DGPPN am affirmativen Ansatz gerechtfertigt ist: Die Analyse von 107.583 Patientendaten aus dem Zeitraum 2014 bis 2024 offenbarte, dass diejenigen, die sich einem chirurgischen Eingriff unterzogen, ein deutlich höheres Risiko für Depressionen, Angstzustände, Suizidgedanken und Substanzkonsumstörungen aufwiesen als diejenigen, die keinen chirurgischen Eingriff vornehmen ließen.
Solche Daten legen nahe, dass es auch nach Eingriffen im Rahmen einer Transition eine gute psychotherapeutische Begleitung brauchen kann. Da in den USA aber in den letzten 10 Jahren das affirmative Modell besonders um sich gegriffen hat, könnte man auch zu dem Schluss kommen, dass der Verzicht auf eine sorgfältige Anamnese von Begleiterkrankungen in Verbindung mit einer Behandlung dieser letztlich zum langfristigen Schaden vieler Transpersonen ist.
Leitlinie ist vertane Chance
Die jetzt veröffentlichte deutsche Leitlinie will jeden Zweifel am affirmativen Modell von sich weisen – das tut sie zum Beispiel, indem sie gleich auf das Deckblatt die Logos aller beteiligten und zustimmenden Fachgesellschaften eingefügt hat, obwohl es im Innenteil ohnehin eine Auflistung aller beteiligten Fachgesellschaften und ihrer entsandten VertreterInnen gibt.
Doch eine Mehrheit liegt nicht automatisch richtig. Die Kritikpunkte der DGPPN, die zur Verweigerung der Zustimmung führten, sind so fundamental und spiegeln außerdem exakt die internationalen Entwicklungen um dieses Thema wider. Unverständlich ist, warum die affirmative Fraktion nicht in der Lage scheint, aus den Entwicklungen im Ausland die angemessenen Schlüsse zu ziehen. Denn: Auch ein Leitliniendokument mit vielen bunten Logos auf dem Deckblatt wird im Ernstfall nicht vor möglichen Gerichtsprozessen wegen Behandlungsfehlern schützen.
So jedenfalls muss diese Leitlinie als verpasste Chance betrachtet werden, eine nachhaltige und solide Grundlage für den medizinischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen zu geben, die fundamental mit ihrem Geschlecht hadern. In Deutschland muss man offenbar jeden Fehler, den andere bereits gemacht haben, selbst machen. Niemand, der oder die klar bei Verstand ist, kann eine Leitlinie, die ihren fundamentalen Verriss gleich im Anhang mitliefert, als Grundlage für die klinische und therapeutische Arbeit nehmen. Das wäre glatter Selbstmord.
Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.