Gegen die Dominanz des Aktuellen!

Zur Queer Lecture „Feministische Forschung, frauenbewegte Archive und Digitalität“ am 19. Mai 2017 im taz-Café

Von Benno Gammerl 

Petra Gehring und Sabine Balke waren maßgeblich daran beteiligt, die deutschsprachigen Frauen- und Lesbenarchive auf einen erfolgreichen Pfad der Digitalisierung und Vernetzung zu bringen. Da hätte frau und man vermuten können, dass die beiden Referentinnen die Gelegenheit ihrer Queer Lecture im gespannt lauschenden taz-Café nutzen, um das hohe Lied von den glänzenden Möglichkeiten des Internet-Zeitalters zu singen. Immerhin ist Sabine Balke nicht nur Geschäftsführerin des Spinnbodens Lesbenarchiv und Bibliothek in Berlin, sondern auch des Digitalen Deutschen Frauenarchivs. Und Petra Gehring wirkt nicht nur als Professorin für Philosophie an der TU Darmstadt, sondern auch als stellvertretende Vorsitzende des Rats für Informationsinfrastrukturen beim Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Zusammen haben beide Frauen mit dafür gesorgt, dass die Bestände der am i.d.a. Dachverband der deutschsprachigen Frauen/Lesbenarchive, -bibiliotheken und -dokumentationsstellen beteiligten 31 Einrichtungen mittlerweile online über den META-Katalog durchsucht werden können.

Zwischen Professionalisierung und Autonomie von lesbisch-feministischen Archiven

Also, wir sind im Internet und alles ist gut? Weit gefehlt. Gehring und Balke verwiesen zwar durchaus auf die Potentiale von Vernetzung und Digitalisierung, auf die größere Sichtbarkeit, die dadurch generiert werden könne, und auf die Chance Archivalien zu nutzen, um online breitere Debatten anzustoßen. Aber, und das war der eigentlich springende Punkt des Abends, beide betonten zugleich die Probleme, die der Trend zur Digitalisierung mit sich bringt. Da wäre zunächst die Notwendigkeit der Professionalisierung, die sich in den einzelnen Einrichtungen oft mit dem ehrenamtlichen Charakter der dort geleisteten Arbeit beißt. Eine allzu weitreichende ‚Einbindung‘ birgt auch die Gefahr, dass den lesbisch-feministischen Archiven ihre Autonomie und ihre gegenöffentliche sowie wissenschaftskritische Verve abhandenkommt. Netz-Piraterie heißt eine weitere Gefahr, wobei die Praxis großer kommerzieller Anbieter, digitalisierte Bilder zu rauben und als ihr Eigentum zu beanspruchen, besonders bedrohlich ist. Daneben äußerten Gehring und Balke auch das Bedenken, dass die Digitalisierung bestimmter Bestände – eine umfassende Digitalisierung wäre schon allein aus technischen Gründen nicht möglich – den nicht-digitalisierten Rest umso unvermeidlicher dem Vergessen ausliefert. Wer macht sich schon die Mühe, ein Archiv aufzusuchen, um bestimmte Dokumente einzusehen, wenn sich andere Materialien einfach per Mausklick auf den heimischen Bildschirm holen lassen?

Das Archiv als „Schatztruhe der Geschichte“

Die Aufgabe von Archiven, daran ließen die beiden Referentinnen keinen Zweifel, besteht nicht darin, das Naheliegende unverzüglich verfügbar zu machen. Vielmehr liegt der Sinn des Archivierens im Aufbewahren, auch und gerade von Dingen, deren Brauchbarkeit sich nicht unmittelbar erschließt. Sabine Balke erwähnte einen Bestand im Spinnboden, den die ursprüngliche Besitzerin mit dem Vermerk versah, dass niemand die darin enthaltenen Stücke betrachten solle. Eine gut gehütete Schatztruhe der Geschichte. Und Petra Gehring betonte, dass Archive sich auf unerwartete und selten gestellte Fragen einstellen müssten. Die Relevanz eines Objekts werde nicht von der Häufigkeit seiner Nutzung bestimmt. Vielmehr sei es die Aufgabe von Archiven, das öffentliche Interesse an Fragen wachzuhalten, die gegenwärtig (noch) niemand formuliert.

„Werft nichts weg!“

Diese Skepsis gegenüber der Dominanz des Aktuellen prägt die Arbeit der Archivarin auch in digitalisierten Zeiten. Indem sie aufbewahrt, setzt sie ein Zeichen gegen die Geschichtsvergessenheit der Gegenwart. Indem die einstigen Akteurinnen ihre Erfahrungen in Interviews oder anderweitig dokumentieren, können sie der Geschichte ihre eigene Stimme und ihren eigenen Sinn zu verleihen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass das Internet genau diese Dauerhaftigkeit und Vielstimmigkeit der Erinnerung aufs Spiel setzt. Wir neigen dazu, das Netz als potentiell unerschöpflichen Speicher zu betrachten, in dem nichts verloren geht. Das Gegenteil ist der Fall. Mit seiner algorithmischen Logik sorgt das Internet dafür, dass gerade die abseitigen Perspektiven und die seltenen Meinungen aus dem Blickfeld verschwinden. Gleichzeitig entziehen sich die im Netz publizierten Inhalte selbst weitgehend der Archivierung. Eine Website ‚einzufrieren‘, so dass es auch in zwanzig Jahren noch möglich sein wird, in Erfahrung zu bringen, was am 19. Mai 2017 hier zu lesen und zu sehen war, ist nicht zuletzt aus technischen Gründen schwierig und aufwändig. Vieles geht auf diese Weise unwiederbringlich verloren.

Umso wichtiger die Aufforderung von Petra Gehring und Sabine Balke: Werft nichts weg! Buttons, Briefe, Plakate, Tagebücher, Flugblätter, Protokolle, Jutebeutel, Fotoalben, Aschenbecher oder andere Materialien, die den Autor_innen dieser Zeilen momentan nicht in den Sinn kommen, wer kann schon wissen, was davon dereinst wichtig und bedeutsam werden wird? Letztlich ist es unmöglich, diese Frage eindeutig zu beantworten. Deswegen hilft nur eines: Aufbewahren!

Benno Gammerl, IQN-Vorstandsmitglied