Jacques Schuster, Chefredakteur der Welt am Sonntag und bekennender Liberaler, äußert sich in einem Kommentar seiner Zeitung entnervt über die Formel „LGBTQ“ – und wünscht es sich „ein wenig leiser“. Das darf zurückgewiesen werden, klar. Aber was an seiner Klage könnte triftig sein? Über die Tyrannei der Diskretion.

Teilnehmende auf dem CSD Zürich 2023. Eine Person hält ein Schild hoch, mit der Aufschrift "We exist everywhere". Symbolbild für Artikel "Queerfeindlichkeit: Der liberale Ekel"
Besonders augenfällig ist Sichtbarkeit auf CSD-Paraden – wie hier 2023 in Zürich. (Foto von Ilia Bronskiy auf Unsplash).

15. September 2025 | Jan Feddersen

Vor wenigen Jahrzehnten zeichnete der berühmte Bildererzähler Ralf König eine Szene seiner Helden Konrad und Paul, in der sie in einem Eiscafé sitzen und der eine bei der Bestellung, so sinngemäß, sagt: Guten Tag, wir sind schwul und wir hätten gern zwei Kugeln Vanille und eine Kugel Schokolade … worauf die Bedienung nur cool antwortet: „Das erste ist mir egal, aber beim Zweiten: mit oder ohne Sahne?“

Es waren die frühen neunziger Jahre, wenn ich mich recht erinnere, und die Szene bringt das damalige Lebensgefühl sehr vieler schwuler Männer ziemlich gut auf den Punkt: Schwul zu sein nicht als unbedingt zu beschweigenden Lebensumstand. Es war die Zeit, in der die Aidskrise durch die Entwicklung pharmakologischer Eindämmungsmöglichkeiten im Falle einer HIV-Infektion allmählich weniger hysterisch wurde, Homosexuelles, zumal die männliche Form, wurde nie zum Hype, aber man durfte in vielen Bereichen offener drüber reden.

Anrüchige Spaßvögel

In der Geschichtsschreibung heißt es stets, der nazikontaminierte § 175 habe bis 1969 gegolten, danach sei für schwule Männer das Paradies ausgebrochen. Das ist falsch. Wer dabei war, weiß das nur zu gut. Für Homosexuelle, gleich ob Männer oder Frauen, galten auch im liberalen Spektrum unserer Republik strikte, aber nicht verschriftlichte Regeln: Spricht nicht drüber! Ich nenne das: Die Macht der Tyrannei der Diskretion.

Ein historisches Beispiel ist Fritz Bauer – war er schwul? Antwort: Hat er ja selbst nicht gesagt. Wie hätte er das auch tun sollen, als ein bei Nazis und ihren Freunden in den sechziger Jahren bis zu seinem Tod verhasster Staatsanwalt? Er wäre erledigt gewesen. Bis in die neunziger Jahre hinein war das Gesetz der Diskretion übermächtig: Wer darüber sprach – und sei es nur, als Mann von „meinem Mann“ zu sprechen -, riskierte, nur noch als homosexuell wahrgenommen zu werden, also nicht gesellschaftsfähig – oder nur als Spaßvögel, so wie viele Jahre später Hella von Sinnen oder Dirk Bach. Schwules und Lesbisches – anrüchig, nicht sagbar.

Geht es leiser?

Um endlich auf den Anlass meiner Zeilen zu kommen: Jacques Schuster, Chefredakteur der Welt am Sonntag und bekennender Liberaler, schrieb am Wochenende nun einen Kommentar mit dem Titel: „Liebe LGBTQ – geht es ein wenig leiser?“ Er schreibt:

„Das nächste Unwort des Jahres sollte ‚LGBTQ‘ werden. Und das nicht nur, weil es ein Zungenbrecher ist. ElDschiBiTiKiu steht für Lesbisch, Gay (schwul), Bisexuell, Transgender und Queer, also für Menschen, deren sexuelle Orientierung von der Heteronorm abweicht. Nichts gegen diese Menschen! Sie sollen tun, was sie wollen, und leben, wie sie es für richtig halten. Aber vielleicht geht es ein wenig leiser?“

Davon abgesehen, dass in der Formel „LGBTQ“ es nicht um „sexuelle Orientierung“, also ums Begehren, um Sehnsucht geht, sondern um „sexuelle Identität“, also um Selbsteinschätzungen, möchte ich doch anmerken: Nein, leiser geht’s nicht. Wie der Medienjournalist Stefan Niggemeier schreibt:

„Wenn eines wichtig ist in diesen verstörenden, beängstigenden Zeiten, gerade auch für queere Menschen, dann das: dass wir nicht leiser werden.“

Stärkere Präsenz von LGBTQ

Das ist eine naheliegende Reaktion, erklärt aber nicht den fast wütenden Stoßseufzer des journalistischen Kollegen Schuster, wenn er formuliert:

„Es ist kaum noch auszuhalten, in welcher Wucht man täglich – sei es im Fernsehen, sei es sonst wo – thematisch mit LGBTQ belämmert wird: vom grammatikalischen Firlefanz des Genderns bis zu queeren Lebensgemeinschaften in jeder zweiten Vorabendserie.“

Das ist einerseits eine zutreffende Wahrnehmung, Queers sind heutzutage in den Medien präsenter denn je, und wenn man die Doku über Daniel Küblböck angeschaut hat, weiß man: Das war auch überfällig, denn noch vor 20 Jahren wurde unsereins allenfalls wahrgenommen und gewertschätzt, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ – und dann auch noch gönnerhaft.

Schuster aber führt dann aus, ein für einen Liberalen riskanter Hinweis auf die seiner Meinung nach wahren Mehrheitsverhältnisse:

„Die LGBTQ-Missionare in den Sendern und woanders vergessen die Mehrheit: Etwa 88 Prozent der Deutschen sind heterosexuell, 49 Prozent leben in Familien, 75 Prozent haben keinen Einwanderungshintergrund. Vielleicht sollte zur Abwechslung mal an die gedacht werden – gleichgültig was die fingerschwenkende moralische Elite dazu meint.“

Hier stimmt vieles nicht, etwa die Prozentangaben zum Einwanderungshintergrund. Knapp die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung hat (seit der NS-Zeit) einen solchen. Wichtiger aber scheint mir: Im LGBTQ-Kontext ist wirklich viel Missionarisches im Spiel: als ob man Vokabeln zu lernen hätte und Strafen fürchtet, hat man sie nicht gut genug gepaukt. Worte wie „lesbisch“ oder „schwul“ werden gar nicht mehr erwähnt, vielmehr ist selbst eine wie die Kunstfigur Conchita Wurst kein schwuler Mann mehr namens Tom Neuwirth, sondern eine queere Conchita Wurst. Dragkunst mag ja auch queer verstanden werden, aber zunächst ist sie, nun ja: drag. Und: Neulich wurde selbst die frühere Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer als queer gelabelt – wobei sie sich selbst als lesbisch sieht.

Keine Wahrnehmungsroutine

Mit anderen Worten: Es hätte nach anderthalb Jahrzehnten queeren Aktivismus in den Medien eigentlich die Rede von Gewöhnung, von Wahrnehmungsroutinen sein müssen, so hat es mal der Soziologe Niklas Luhmann ausgeführt: Mediale Strategien führen zur Überwältigung,  also Routine und Gewöhnung. Stattdessen ist einer wie Schuster (und wahrscheinlich viele andere) einfach nur genervt von einer unaussprechlichen Buchstabenformel. Und das darf er, andere Meinungen sind geschützt.

Aber Schuster hat den Gegenstand vor allem nicht präzise genug in den Blick genommen: Warum mokiert er sich nicht darüber, dass männliche Wesen in den Medien gern mit bunten Haaren gezeigt werden, außerdem schmal und allzeit juvenil? Und warum gibt es im LGBTQ-Sprachbrevier eigentlich, medial gesehen, keine gewöhnlichen Homosexuellen, männlich wie weiblich, sondern nur: Queers? Sind sie das überhaupt – und wollen sie es sein? Oder spielt für sie, allem offen bekundeten Homosexualität zum Trotz, Queeres als Lebensmittelpunkt nicht (mehr) die große Rolle? Queer hat eine Mehrfachbedeutung – aber inzwischen gilt alles als queer, was nicht wie imaginierte Heteronormalität daherkommt. Fatal: Selbst Heteromänner bezeichnen sich als queer – oftmals nur, weil sie ihre Fingernägel bunt lackieren.

Jacques Schuster hat ein erstaunlich offenes Dokument liberalen Ekels vor dem lebensweltlich Sagbaren formuliert. Es verdient, nicht blank zurückgewiesen zu werden. Die Ära der Diskretion ist vorbei – aber ist die der queeren Belehrung nicht minder passé?


Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.