In Deutschland tritt am 1. November das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft. Warnungen vor Sicherheitsbedenken bei Minderjährigen und Frauenschutz wurden von der Ampel-Regierung weggewischt. Dabei werden im Ausland gerade in diesen Feldern längst Konflikte sichtbar.

Dieses Foto ist aus den USA, aber die Botschaften auf den Schildern sind sinngemäß überall zu finden, wenn es um die Verteidigung des gender-affirmativen Ansatzes bei Minderjährigen oder Selbstbestimmungsgesetzen geht (Foto von Aiden Craver auf Unsplash).

16. September 2024 | Till Randolf Amelung

Am 1. November tritt das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft, mit dem das über 40 Jahre alte Transsexuellengesetz (TSG) abgelöst wird. Das Gesetz regelt die Änderung des amtlich registrierten Vornamens und Geschlechtseintrags, mit dem neuen Gesetz sind dafür keine ärztlichen Atteste oder Gutachten mehr notwendig. Seit dem 1. August sind bereits Anmeldungen möglich – das Selbstbestimmungsgesetz sieht eine dreimonatige Frist zwischen Antragsstellung und Wirksamwerden der Änderung vor.

Mehr Antragssteller als erwartet

Nun ergab eine Recherche des Magazins Der Spiegel, dass die Nachfrage nach Änderung der Einträge zum Geschlecht deutlich höher ist als zunächst angenommen – etwa 15.000 Personen haben bereits bei Standesämtern eine solche Änderung angemeldet, unter ihnen sind ca. fünf Prozent, also 750 Personen, minderjährig. Die Bundesregierung ging von 4.000 Personen pro Jahr aus.

Gerade bei Minderjährigen sorgt der Wegfall von Begutachtungen oder vergleichbaren Absicherungen für kontroverse Debatten. So ist zwar noch die Zustimmung der Eltern erforderlich, diese müssen jedoch lediglich eine Zusicherung abgeben, beraten worden zu sein. Ein Nachweis über eine erfolgte Beratung muss nicht vorgelegt werden.

Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen oft nicht dauerhaft

Umstritten ist, ab welchem Alter es als gesichert gelten kann, dass eine Transition das Richtige für eine Person ist. Dabei ist inzwischen klar, dass die unterschiedlichen Schritte einer Transition, d.h. soziale, juristische und medizinische Maßnahmen, nicht isoliert voneinander betrachtet werden können. Jede Maßnahme stellt Weichen für weitere, was gerade in einer so vulnerablen Entwicklungsphase wie der Pubertät kritisch sein kann.

Denn bekannt ist ebenso, dass Geschlechtsdysphorie, also ein tiefgehendes und leidvolles Unbehagen mit dem eigenen Geschlecht, nicht allein auf ein Transsein zurückzuführen ist. Auch eine krisenhafte homosexuelle Entwicklung kann beispielsweise Geschlechtsdysphorie verursachen, aber hier wären weitere Transitionsschritte, insbesondere pharmakologisch-medizinisch bewirkt irreversible, fatal.

Eine niederländische Studie zeigte, dass sich bei sehr vielen Minderjährigen Geschlechtsdysphorie im weiteren Verlauf der Pubertät wieder legt, wenn nicht eingegriffen wird. In den USA hat das konservative Manhattan Institute Daten von Krankenversicherungen ausgewertet, wie viele Diagnosen im Zusammenhang mit Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen vergeben wurden und wie sich dies im Verlauf entwickelt hat. Bei knapp über 50 Prozent war die Diagnose offenbar nicht dauerhaft. Eine deutsche Studie mit Auswertung von Krankenversicherungsdaten kam auf ungefähr 60 Prozent Minderjährige, bei denen die Diagnose nach fünf Jahren nicht mehr fortbestanden hat.

Gender-affirmativer Ansatz wird zunehmend kritisiert

Doch ungeachtet solcher Erkenntnisse, die in Sachen Transitionsmaßnahmen bei Minderjährigen für mehr Zurückhaltung sprächen, hat sich international der gender-affirmative Ansatz durchgesetzt, der auf eine schnelle Bestätigung einer geäußerten Geschlechtsidentität zielt. Das bedeutet neben der Einleitung eines sozialen Rollenwechsels und Änderung von Geburtsurkunden und Ausweisen, sondern auch zügige Gabe von Pubertätsblockern und gegengeschlechtlicher Hormone sowie späterer chirurgischer Eingriffe. Dieses Modell beruht jedoch auf einer schwachen Evidenzbasis, d.h. es gibt zu wenig Daten, um Nutzen und Risiken gut gegeneinander abwägen zu können.

International wurde längst sichtbar, dass das affirmative Modell Schäden anrichten kann, da Begleit- und Vorerkrankung sowie andere Faktoren bei den transitionswilligen Minderjährigen zu wenig berücksichtigt werden. Besonders eindrücklich wird dies für Großbritannien im Cass-Review dokumentiert, der die Qualität der inzwischen geschlossen Ambulanz für geschlechtsdysphorische Minderjährige in der Londoner Tavistockklinik untersuchte. In der Folge wird dort der Umgang mit dieser Patientengruppe neu aufgestellt, eine Behandlung mit Pubertätsblockern ist nur noch auf medizinische Studien beschränkt. Diese Entwicklungen bleiben auch unter der neuen Labour-Regierung bestehen.

Für Deutschland soll es für Minderjährige neue Leitlinien geben, die diesem so umstrittenen affirmativen Ansatz entsprechen. Die finale Fassung wird für diesen Herbst erwartet, trotz massiver Kritik – sowohl von einzelnen Ärzt*innen, als auch Fachgesellschaften an der affirmativen Ausrichtung. Von der Kritik lassen sich Befürworter*innen in Medizin und Politik jedoch kaum beeindrucken. Unklar ist, was dies für die Endfassung der Leitlinien bedeuten wird. Für das Selbstbestimmungsgesetz wurden solche Aspekte ebenfalls von den Ampel-Parteien ignoriert.

Schutzbedürfnisse von Frauen missachtet

Ignoriert wurden auch mögliche Konflikte für Frauen, wenn es um nach Geschlecht getrennte Einrichtungen oder Schutz vor Gewalt geht. In Spanien gibt es nun seit etwas mehr als einem Jahr ein solches, mit Deutschland vergleichbares Gesetz. Auch dort sind medizinische Nachweise entfallen sowie eine dreimonatige Frist zwischen Antragsstellung und Wirksamwerden vorgesehen. Nun gibt es wiederholt Meldungen, dass gerade Männer das Gesetz aus unterschiedlichen Gründen missbrauchen.

Zuerst machte eine Gruppe Soldaten in der spanischen Enklave Ceuta Schlagzeilen, weil sie mit einem amtlichen Geschlechtswechsel in den Genuss von Frauenfördermaßnahmen, inklusive eines höheren Gehaltes kommen wollten. Nun wurde bekannt, dass auch mehrere Gewalttäter das Selbstbestimmungsgesetz nutzten, um nicht unter schärfere Gesetze für geschlechtsspezifische Gewalt zu fallen. Diese wurden ebenfalls in Spanien erlassen, um gegen Frauen gerichtete Gewalt von Männern, sehr häufig in Familien und Partnerschaften, vorzugehen. Ebenso wurden Fälle bekannt, wo Männer sich legitimiert durch einen weiblichen Geschlechtseintrag Zutritt zu Frauenräumen, wie Umkleiden verschaffen und dort Frauen belästigen. Effektive Mittel, um solchen Missbrauch einzudämmen, hat das spanische Gesetz ebenso wenig vorgesehen wie das deutsche Pendant.

In Schottland ist die Einführung eines Selbstbestimmungsgesetzes 2023 durch Blockade der damaligen britischen Tory-Regierung unter Rishi Sunak gescheitert, aber das Prinzip, der geäußerten Geschlechtsidentität den Vorrang einzuräumen, hat weite Verbreitung gefunden. So kam es, dass die Transfrau Mridul Wadhwa 2021 die Leitung des Frauenhauses in Edinburgh übernehmen durfte. Drei Jahre später muss Wadhwa jedoch zurücktreten, nachdem es massive Beschwerden gegeben hat, dass Bedürfnisse von schutzsuchenden Frauen nicht berücksichtigt worden seien, nur von biologischen Frauen betreut werden zu können.

Für Deutschland bleibt zu hoffen, dass es durch das Selbstbestimmungsgesetz nicht zu Konflikten kommt, aber dies ist angesichts der Ignoranz, die queere Aktivist*innen und Ampel-Politiker*innen gegenüber Kritik gezeigt haben, wohl nur ein frommer Wunsch.

Ergänzung vom 17. September 2024: Derzeit findet in Rostock der 38. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP) statt. Für den 18. September steht eine fachliche Debatte zum Thema „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie – wie sollte die klinische Versorgung gestaltet werden?“ im Programm. Diskutieren werden die beiden Leitlinien-Beteiligten Georg Romer und Sabine Maur sowie Veit Roessner und Florian Zepf von der Kritikerseite. Nachdem die DGKJP, in deren Auftrag die Leitlinien erstellt wurden, bei der Übergabe des finalen Entwurfs noch den Marschbefehl ausgab, dass nur noch redaktionelle, aber keine inhaltlichen Überarbeitungen erfolgen sollen, ist diese angesetzte Debatte bemerkenswert.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.