In queeren Communities knirscht es immer öfter, Konflikte scheinen nicht gut gelöst zu werden. Kerstin Söderblom, evangelische Theologin und lesbische Aktivistin, plädiert im Jahrbuch Sexualitäten 2025 für das Aushalten von Differenzen im LGBTIQ-Spektrum, aber auch für das Zusammenstehen gegen rechtspopulistische Kräfte.

Redaktionelle Vorbemerkung: Dieser Text dokumentiert die Rede von Philipp Gessler, die er bei der Release-Party des Jahrbuch Sexualitäten 2025 am 18. Juli in der taz Kantine gehalten hat. Darin würdigt er als Erstleser den Essay „Aus der Lebensschule für solidarische Zwischenräume. Suchen und Forschen nach dem Dazwischen“ von Kerstin Söderblom.
9. August 2025 | Philipp Gessler
Ich habe den Essay „Aus der Lebensschule für solidarische Zwischenräume. Suchen und Forschen nach dem Dazwischen“ von Kerstin Söderblom zweimal gelesen. Und erst beim zweiten Mal habe ich ihn, wie ich glaube, verstanden. Das liegt nicht daran, dass etwa die Sprache von Kerstin Söderblom zu kompliziert oder die von ihr geschilderten Sachverhalte zu komplex oder allzu schwer zu verstehen sind. Es liegt daran, dass ich erst beim zweiten Mal die Zwischentöne erkannt habe – und es sind diese Zwischentöne, die ihren Text wirklich lesenswert machen.
Kerstin Söderblom ist Theologin, evangelische Pastorin, also ordiniert, seit 2020 Hochschulpfarrerin an der Evangelischen Studierendengemeinde in Mainz und zusätzlich noch Supervisorin, Mediatorin, Coach und Autorin von queer-theologischen Artikeln, Blogbeiträgen und Büchern, wie sie sich am Anfang ihres Essays selbst vorstellt. Ihr Text beschreibt ihren Lebens- und Lernweg als homosexuelle (oder lesbische – das Wort mochte sie anfangs nicht so gern, wie sie schreibt) Theologin und Aktivistin vor allem in kirchlichen, feministischen und queeren Zusammenhängen über knapp vier Jahrzehnten nach ihrem Coming-out Mitte der 1980er Jahre.
Platz zwischen den Stühlen
Man kann sagen, Kerstin Söderblom ist eine Pionierin. Ihr Engagement, oder besser: ihr Kampf für die Anerkennung von lesbischen und queeren Menschen in all ihrer bunten Vielfalt vor allem in der Kirche und in der Theologie war lang und hart. In ihrem Essay nimmt sie uns mit zu Stationen ihres Lebens, lässt uns Menschen begegnen, die sie und ihr Denken geprägt haben. Es ist eine Reise und Selbsterkundung in aller Welt, von Jamaica über Brasilien und Südkorea bis nach Oslo, Hamburg und Bad Boll.
Kerstin Söderblom nennt sich an einer Stelle leicht ironisch-distanziert eine (offenbar ein Szeneausdruck) „Kirchenlesbe“, und das zeigt schon, dass sie es lange gewohnt war, nicht so ganz dazu zu gehören, weder in der Kirche als Lesbe, noch in der traditionellen lesbischen Szene als Frau der Kirche. Kerstin Söderblom aber hat sich diesen Platz zwischen den Stühlen als den ihren erobert – und darin, wie sie schreibt, viel Solidarität, ja auch eine internationale, bunte Familie gefunden. Ein Leben in den Zwischenräumen, im Dazwischen eben.
Das ist die vordergründige Geschichte von Kerstin Söderblom. Beim zweiten Lesen aber habe ich den Text zu ihrer Lebens- und Lerngeschichte noch mehr zu schätzen gelernt, weil ich, wie gesagt, die Zwischentöne entdeckt habe, in denen sie aktuelle Streitpunkte in der lesbischen oder queeren Szene anspricht. Dass ich diese Töne zwischen den Zeilen hören konnte, lag daran, dass der vorliegende Band der „Sexualitäten“ schon vor der Vorstellung heute Abend stark kritisiert wurde, in einer ausführlichen, ich würde sagen: nicht sehr fairen Rezension auf queer.de, die mir von einer lesbischen Nachbarin weitergeleitet wurde. Darin ist Kerstin Söderbloms Artikel fast der einzige, der ausdrücklich gelobt wird – und das half mir, glaube ich, ihren Essay richtig zu lesen, ja das Wesentliche darin zu verstehen.

Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen.
Mit Beiträgen von: Kerstin Söderblom, Dinçer Güçyeter, Zaal Andronikashvili, Manuela Torelli, Chantalle El Helou, Till Randolf Amelung, Ioannis Dimopulos, Julia Kaiser, Denis Watson, Schwester Daphne Sara Maria Sanguina Mater dʼOr OSPI, Karl-Heinz Steinle, Norbert Finzsch, Aaron Gebler, Werner Renz, Clemens Schneider, Vojin Saša Vukadinović und Alexander Zinn. 232 S., gebunden mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-8353-5917-8, 34,00 Euro.
Plädoyer für Versöhnung
Kerstin Söderblom schildert eben nicht nur ihren Lebens- und Lernweg, sondern nutzt diese Schilderung auch für ein großes, aus dieser Vita sich ergebendes Plädoyer der Versöhnung, wie man es theologisch sagen könnte und wie es sich für eine Pfarrerin, der Botschaft Jesu verpflichtet, auch gehört. Der Essay von Kerstin Söderblohm plädiert dafür, die Streitigkeiten in der queeren Community, (also zum Beispiel: Ist das wirklich eine Frau? Bestimmen die Schwulen hier nicht alles? Ist das nun eigentlich trans*feindlich?) wenn nicht zu lösen, so doch in Solidarität zu ertragen. Warum? Um für gemeinsame Ziele zu kämpfen – und gegen einen Zeitgeist, der viele Rechte und Errungenschaft der queeren Community in aller Welt wieder kassieren will oder erst gar nicht ermöglichen möchte.
Oder, wie Kerstin Söderblohm es schreibt:
„Wenn alle Beteiligten sich bemühen, ist es möglich, dass sich Personen aus verschiedenen queeren Communities (und anderen Minderheitengruppen) und ihre Unterstützer*innen zusammenraufen und sich gemeinsam gegen rechtspopulistische und rechtsnationale religiöse und säkulare Kräfte engagieren.“
Dass man für diesen Kampf nur Gottes Segen wünschen kann, ist auch ein Verdienst von Kerstin Söderblom, der Pionierin.
Philipp Gessler, Jahrgang 1967, war viele Jahre Redakteur der taz und von Deutschlandfunk Kultur. Seit 2017 ist er Redakteur von zeitzeichen. Er ist Autor der Bücher »Der neue Antisemitismus. Hinter den Kulissen der Normalität« (2004), »Wolfgang Huber. Ein Leben für Protestantismus und Politik« (2012), »Phrase unser« (2020) und »Kampf der Identitäten« (2021) (beide mit Jan Feddersen).
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.