In der kürzlich erschienenen S2k-Leitlinie zu Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter wird Psychotherapie als „unethisch“ geframt, obwohl sich unter den Behandlungssuchenden viele weibliche Teenager mit Begleiterkrankungen befinden – ganz im Sinne von TransaktivistInnen. Während eine Psychotherapeutin die Schwierigkeiten in der Behandlung dieser Gruppe aufzeigt, rechtfertigt ein queeres Jugendmagazin Hormontherapien ohne ärztliche Verordnungen.

24. März 2025 | Till Randolf Amelung
Die umstrittene, weil gender-affirmative S2k-Leitlinie zu Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter ist am 7. März 2025 nach sieben Jahren Arbeit daran veröffentlicht worden. Lange zog es sich hin, da unter den beteiligten Fachgesellschaften an der Leitlinienkommission bis zur Veröffentlichung kein einhelliger Konsens erreicht wurde.
Besonders umstritten sind Fragen, ob und ab wann Medikamente wie Pubertätsblocker und gegengeschlechtliche Hormone eingesetzt werden sollen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) hatte zahlreiche Sondervoten, die Schweizerische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (SGKJPP) hat ihre Zustimmung vollständig verweigert. Dennoch bleibt festzuhalten: Während man in Ländern wie Großbritannien, Schweden, Finnland und Dänemark von einer medikamentösen Pubertätsblockade angesichts gravierender Risiken für die Patientensicherheit wieder abgerückt ist, halten die deutschen Leitlinien daran fest.
Stark angestiegene Patientenzahlen
Saskia Fahrenkrug, Psychotherapeutin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Mitglied der Leitlinienkommission für die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG), äußerte sich nun gegenüber der Zeit zu den Kontroversen und was die Arbeit an dieser Leitlinie so schwierig machte:
„Das Thema ist kompliziert und höchst strittig: medizinisch, psychologisch und auch ethisch. Im Grunde lagen die am Leitlinienprozess beteiligten Gruppen – Mediziner, Psychologen und Betroffenenverbände – in den relevanten Fragen mit ihren Positionen weit auseinander. Zugleich veränderte sich im Diskussionsprozess der Gegenstand, über den wir diskutierten.
Zum einen wuchsen die Zahlen der Betroffenen steil an, zum anderen änderte sich ihre Zusammensetzung. Statt eines weitgehend ausgeglichenen Verhältnisses wie früher kommen heute zu achtzig Prozent Jugendliche in die Sprechstunden, die biologisch als Mädchen geboren wurden, also transmännliche Jugendliche. Bei uns in Hamburg sind es sogar neunzig Prozent. Über all das wird öffentlich teilweise erbittert diskutiert, in Deutschland wie international.“
Gründe für diesen Anstieg konnten bislang nicht zweifelsfrei dingfest gemacht werden. Gegenüber dem gender-affirmativen Modell kritisch eingestellte Kreise weisen auf Faktoren wie verdrängte Homosexualität, pubertäre Reifungskrisen, soziale Ansteckung in Peer Groups, Social Media, begleitende psychische Erkrankungen sowie immer noch bestehenden Sexismus in Gesellschaften als gewichtige Einflussfaktoren hin. In diese Richtung argumentiert auch Fahrenkrug im Interview:
„Ich denke, dass weiblich sein und werden mit großen Verunsicherungen und einem sehr komplexen ambivalenten Körpererleben verbunden ist. Wir sind medial und gesellschaftlich mit weiblichen Geschlechterstereotypen konfrontiert, in denen gerade vulnerable junge Mädchen das Gefühl entwickeln, unpassend zu sein, den Ansprüchen nicht zu entsprechen. Die Erwartung eines Ausweges durch Transition kann da erst einmal eine große Entlastung bieten.“
BefürworterInnen eines frühen affirmativen Einsatzes von Pubertätsblockern und Co., zu denen vor allem die meisten TransaktivistInnen gehören, sehen die Zahlen vor allem als Resultat von mehr gesellschaftlicher Offenheit.
Umstrittene Pubertätsblockade
Am umstrittensten sind Pubertätsblocker. Diese Medikamente sollen die biologisch angelegte Pubertät stoppen. Wie auch Fahrenkrug im Interview sagt, sei der ursprüngliche Gedanke dahinter gewesen, schwer belasteten Jugendlichen durch das Anhalten der Pubertätsentwicklung einen zeitlichen Aufschub zu geben, in dem sie sich über ihre Geschlechtsidentität Klarheit verschaffen könnten. Daran sei aus Sicht der Psychotherapeutin nichts falsch. Als Kritikpunkte der Gegenseite nennt sie:
„Doch Kritiker argumentieren, dass sich die Pubertätsblocker als eine Art Einbahnstraße erwiesen haben. Tatsächlich entscheiden sich 95 Prozent der Betroffenen, die mit Pubertätsblocker beginnen, zwei, drei Jahre später auch für den zweiten Schritt, also die Behandlung mit Hormonen, die dafür sorgen, dass sich der Körper in Richtung des biologisch anderen Geschlechts entwickelt.“
Gar nicht erwähnt werden von Fahrenkrug Risiken wie geringere Knochendichte, mögliche Unfruchtbarkeit – vor allem in Verbindung mit anschließender Hormontherapie – sowie negative Auswirkungen auf die Hirnentwicklung. Ebenso fehlt ein Hinweis auf die nicht verlässliche Stabilität vieler Transdiagnosen, was der Psychiater Florian D. Zepf im IQN-Blog anmerkte:
„Aus einer neuen Studie mit Krankenversicherungsdaten wissen wir, dass die Diagnose der Geschlechtsinkongruenz, selbst wenn sie vom Arzt als richtig angesehen wird, in der Mehrzahl der Fälle einige Jahre später nicht mehr fortbesteht. Nach fünf Jahren hatten nur noch 36,4 % eine bestätigte Diagnose, und in allen untersuchten Altersgruppen lag die Diagnosepersistenz unter 50 %“.
Fahrenkrug gibt jedoch auch interessante Einblicke in das Patientenprofil, was ihre Spezialambulanz am UKE aufsucht:
„Zudem kamen, als ich 2008 in Hamburg begann, Betroffene zu uns, die meist seit vielen Jahren – einige seit der frühen Kindheit – mit ihrem Geburtsgeschlecht haderten. Heute ist die Mehrheit, die eine Behandlung anstrebt, dagegen deutlich älter. Da sind Jugendliche, die sich oft erst mit 15 oder 16 Jahren im Rahmen einer Krise das erste Mal die Frage stellen, ob sie männlich oder weiblich sind. Und viele von ihnen weisen Komorbiditäten auf.
ZEIT ONLINE: Was bedeutet das?
Fahrenkrug: Sie erleben nicht nur innere Konflikte mit ihrem biologischen Geschlecht, sondern sind gleichzeitig depressiv, leiden unter Ängsten, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen oder einer Autismus-Spektrum-Störung.“
Diese Veränderungen im Patientenprofil seien, so Fahrenkrug, in ihren Kreisen lange ignoriert worden, denn unweigerlich käme damit die Frage auf, ob überhaupt allen mit geschlechtsverändernden Eingriffen geholfen werden kann und was man stattdessen tun solle.
Sie selbst sei deshalb vorsichtiger geworden:
„Wir fragen die Jugendlichen immer, wann ihnen das erste Mal aufgefallen ist, dass sie sich zum Beispiel nicht als Mädchen fühlen, ob es gewisse Schlüsselmomente gab, was sie genau an ihrem Körper stört. Wenn darauf etwa nur die Antwort kommt: Mir geht es so wie dem Mädchen in dem Video, das ich gesehen habe. Oder ich habe schon immer mit Autos gespielt, deshalb möchte ich jetzt Hormone, dann sagen wir: Ich glaube, unser Angebot ist nicht das Richtige für dich.“
Unethische Psychotherapie
Angesichts dieser Umstände ist es irritierend, dass die nun vorliegende Leitlinie Psychotherapie als „unethisch“ bezeichnet:
„ZEIT ONLINE: Wie kann eine Psychotherapie unethisch sein? Das kommt einem Laien seltsam vor.
Fahrenkrug: Das kam auch vielen Fachpersonen seltsam vor, inklusive mir. Denn eine Therapie soll ja einen Raum schaffen, in dem man offen seine Wünsche wie auch seine Zweifel reflektiert, um mit professioneller Hilfe zu einer guten Entscheidung zu kommen.
ZEIT ONLINE: Wieso gab es trotzdem Vorbehalte?
Fahrenkrug: Da spielen wohl auch historische Gründe eine Rolle. Es gab ja in früheren Zeiten für Homosexuelle sogenannte Konversionstherapien, bei denen man die Betroffenen bewegen wollte, ihre sexuelle Orientierung zu verändern. So etwas wollte man verhindern. Nun heißt es in der Leitlinie, dass eine Psychotherapie nicht zwangsweise verordnet werden darf, aber den Jugendlichen niedrigschwellig angeboten werden soll. Ich würde mir den Hinweis noch expliziter wünschen, aber immerhin steht die Therapie – anders als in früheren Versionen – jetzt drin. Ohne diese Veränderung hätte ich den Leitlinien für meine Fachgesellschaft nicht zustimmen können.“
Auch Zepf kritisierte dieses Framing von Psychotherapie in seinem Blogbeitrag, zumal dies auf einem fragwürdigen Verständnis von Identität als biologisch determiniert beruhe:
„Es ist bekannt, dass sich die Selbstinterpretationen von Minderjährigen oft im Verlauf der Zeit verändern – ein typisches Merkmal der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Dies ist auch der Grund, warum eine explorative Psychotherapie, die diesen jungen Menschen angeboten wird, nicht automatisch als unethische „Konversionstherapie“ bezeichnet werden sollte. Eine solche Psychotherapie zielt darauf ab, die Gründe für solche geschlechtsspezifischen Symptome als Teil eines größeren Bildes bzw. im Sinne eines heterogenen Phänomens ergebnisoffen zu explorieren, das verschiedene Ursprünge haben kann (teilweise auch im Zusammenhang mit potenziell begleitenden Psychopathologien bis hin zu gleichzeitig auftretenden psychiatrischen Störungen).“
Jugendmagazin verharmlost DIY Hormontherapie
Doch für TransaktivistInnen ist jede Form von Diagnostik und Psychotherapie „Gatekeeping“ – also ein Hindernis für einen ungehinderten Zugang zu Pubertätsblockern und Hormonen. Ganz in diesem Geist wurde ein zweiseitiger Artikel im Magazin Out des queeren Jugendverbands Lambda geschrieben. Darin wird sogenannte „DIY HRT“ – also Do It Yourself Hormone Replacement Therapy gerechtfertigt. Damit ist gemeint, sich Hormonpräparate jenseits ärztlicher Verordnungen und Apotheken zu beschaffen, zum Beispiel über das Internet zu bestellen.
So heißt es im Text unter Anderem:
„Wir leben in einer Zeit, in der medizinische und rechtliche Transition von staatlichen und medizinischen Autoritäten massiv reguliert werden (nicht unbedingt kriminalisiert, aber das auch) und uns dieser Zustand als normal, notwendig, naturgegeben vermittelt wird. Aber das ist nicht der Fall. Es gibt im Prinzip keinen Grund, warum ich 12 Stunden Psychotherapie machen sollte, um Zugang zu Hormonen zu erhalten, oder zwei Gutachten brauch(t)e, um meinen Namen zu ändern, außer, dass das irgendwann irgendjemand so entschieden hat. Es gibt kein anderes Feld im Gesundheitssystem, in dem ein so starker Fokus auf der Irreversibilität bestimmter Maßnahmen liegt, während die tatsächlichen Quoten von Menschen, die bestimmte Maßnahmen bereuen, konstant im niedrigen einstelligen Bereich liegen. Aber genau diese Fälle werden genutzt, um Hürden für Transitionsmaßnahmen zu begründen.“

Angesichts der aktuellen Entwicklungen mit einem hohen Anteil von biologischen Mädchen, von denen viele ernstzunehmende Begleiterkrankungen aufweisen, wie auch von Fahrenkrug im Interview erläutert wurde, ist diese Darstellung in Out mindestens verantwortungslos. Zumal sich Lambda und sein Magazin eben an Jugendliche richten.
Die im Zitat genannten 12 Stunden Psychotherapie werden von der Begutachtungsrichtlinie des Medizinischen Dienst Spitzenverband (MDS) vorgegeben, der Leistungsanträge von Versicherten im Auftrag der gesetzlichen Krankenversicherungen prüft. Dafür macht der MDS Vorgaben, was für eine Sicherung der Diagnose vorliegen muss, um Transitionsmaßnahmen zu übernehmen. Dies ist auch vollkommen korrekt, denn die Kostenübernahme erfolgt im solidarfinanzierten Versicherungssystem nach den im Sozialgesetzbuch definierten Grundlagen und nicht nach ideologischen Vorstellungen von AktivistInnen.
In Anbetracht der letzten sechs Jahre kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass Reuequoten weiterhin niedrig einstellig bleiben, denn entsprechende Daten stammen alle aus der Zeit vor der starken Zunahme an Behandlungssuchenden. Gerade ein Magazin für Jugendliche als Zielgruppe, in dem auch das Logo des Bundesfamilienministeriums als Fördermittelgeber im Impressum auftaucht, muss hier redaktionell verantwortungsvoller agieren. Anstatt noch dazu beizutragen, junge Menschen negativ gegen eine ergebnisoffene explorative Psychotherapie einzunehmen, sollten diese eher dazu ermutigt werden, sich vor irreversiblen Maßnahmen einer Transition mit allen dafür relevanten Fragen psychotherapeutisch begleitet auseinanderzusetzen.
Die Frage, ob medizinische Behandlungen mit Pubertätsblockern, gegengeschlechtlichen Hormonen und auch chirurgischen Eingriffen für jede Person mit Geschlechtsdysphorie die richtigen Maßnahmen sind, wird weiter kontrovers diskutiert werden. Die S2k-Leitlinien haben dies bei Kindern und Jugendlichen nicht beenden können und wie am Beispiel des Jugendmagazins von Lambda zu sehen ist, scheinen auch die AktivistInnen nicht willens, ihre Haltung zu hinterfragen.
Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.