Karfreitagsprozession erinnert an den Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld

IQN-Vorstand Jan Feddersen würdigte in der Berliner Karfreitagsprozession die Pionierleistung des von den Nazis als Schwuler und Jude verfolgten Arztes Magnus Hirschfeld. Zugleich richtete er den Blick darauf, wo heute Leben und Rechte von LGBTIQ akut gefährdet sind.


Jan Feddersen (1.v.L.) trägt zusammen mit drei anderen Teilnehmenden das Kreuz vom Bebelplatz zur St. Hedwigs-Kathedrale.

Jan Feddersen (1.v.L.) trägt zusammen mit drei anderen Teilnehmenden das Kreuz vom Bebelplatz zur St. Hedwigs-Kathedrale. (Foto: Evangelischer Kirchenkreis Berlin-Stadtmitte 2024)


3. April 2024 | Redaktion

Kriege, die Klimakatastrophe, Gewalt gegen LGBTIQ, sexueller Missbrauch, Antisemitismus – diese Themen standen im Mittelpunkt der diesjährigen Berliner Karfreitagsprozession.

Jan Feddersen, Vorstandsvorsitzender der Initiative Queer Nations und Mitglied im Kuratorium der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, wurde eingeladen, am Ort der nationalsozialistischen Bücherverbrennung mit seinem Redebeitrag an Hirschfeld zu erinnern. Ebenso rief er den Prozessionsteilnehmer*innen mit eindrücklichen Worten ins Bewusstsein, dass die heutigen Errungenschaften für LGBTIQ in Deutschland keine Selbstverständlichkeit sind.

Hier im IQN-Blog gibt es Jan Feddersens Rede zum Nachlesen:

 

Station: Bebelplatz – Thema: Leid Queerer Menschen

Superintendentin Dr. Radosh-Hinder: An der fünften Station unserer Karfreitagsprozession stehen wir auf dem Bebelplatz, wo am 10. Mai 1933 Nationalsozialisten mehr als 20.000 Bücher vor über 80.000 Menschen verbrannten. Unter den Büchern waren auch die des Arztes und Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld, der hier in Berlin in Tiergarten 1919 das Institut für Sexualwissenschaften gründete und bis 1933 leitete. Dort wurden – um es mit einem Wort unserer Tage auszudrücken – queere Menschen beraten und fanden einen Schutzraum. Ab dem 6. Mai 1933 wurde das Institut von NS-nahen Studenten und NS-Funktionären geplündert und zerstört. Neben Büchern aus der dortigen Bibliothek warfen sie bei der Bücherverbrennung wenige Tage später auch eine Büste von Magnus Hirschfeld ins Feuer, der als Jude darüber hinaus noch den Hass der Nationalsozialisten auf sich zog.

Für die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld erinnert der Journalist Jan Feddersen, der auch 1. Vorstand der Initiative Queer Nations ist, an das Leid von Lesben, Schwulen, transidenten und intersexuellen Menschen, das in vielen Regionen unserer Welt unerträglich ist und zunimmt.
 

Erinnerungstext Jan Feddersen: Ein Aufbruch in Sagbarkeit

Die Erinnerung an Magnus Hirschfeld und seine freiheitlichen Traditionen ist auch eine, die mit gewissem Stolz erfüllen kann: Die Bundesrepublik gehört wie viele Länder in der Welt zu einer Gegend, in der sich schwule Männer, lesbische Frauen, trans Menschen und sich selbst als queer identifizierende Personen frei bewegen können. Manchmal ist das schwieriger als gewünscht, aber im Großen und Ganzen gelingt uns das, allen einzelnen Ängsten vor unliebsamen Situationen zum Trotz, so wie bei mir. Historisch korrekt muss gesagt werden: Der Fortschritt ist nicht vom Himmel gefallen, wir haben ihn selbst bewirkt, er lässt uns spüren, dass eine bessere Welt nicht nur möglich, sondern auch machbar ist. Das ist mitnichten in allen Teilen der Welt so, wir beklagen insofern die Schicksale der Unsrigen, die um ihre Leben fürchten müssen, sofern ihre Art der Liebe kenntlich wird, wenn sie zur Sichtbarkeit kommt oder wenn Einzelne dieser Lebensweise verdächtigt werden. Das ist unser Leiden, mithin unser Auftrag: Für eine Welt sich einzusetzen, die uns als gleich-gültig nimmt, nicht als abschätzig zu Behandelnde oder als Menschen, die kein Leben verdienen, solche, die Aggressionen bewirken.

In unseren Blicken liegt auch ein Mitleiden an dem, was uns peinigt. Es ist ein Trost, dass hierzulande Homo- und Transphobes inzwischen als moralisch unanständig und verwerflich gilt, soviel (Selbst-)Bewusstsein darf sein. Und so bleiben wir untröstlich, wenn wir anerkennen, dass es andernorts gefährlich ist, sich einander als queerliebend zu zeigen. Manche Länder verfolgen unsereins so intensiv, dass wir ums Leben fürchten müssen. In Russland, in Belarus, auch in Ghana, in Uganda und in fast allen arabischen Staaten, ebenso in Iran. Unsere Blicke dorthin bleiben auf Augenhöhe, sie meiden Hochmütigkeit, wenn wir auf andere Länder in schlimmen antiqueeren Verhältnissen schauen. Wir erkennen antifreiheitliche Menschen, die sich auf ihre Kulturen herausreden, um zu erklären, dass wir dort nicht gelitten sind. Und wir können nicht respektieren, wenn Religion, gleich welche, ob das Christentum, der Islam oder das Judentum, wie eine schlechte Apologie angeführt wird, um unsere Minderwertigkeit oder gar Strafwürdigkeit zu begründen.

Mit anderen Worten: Unsere Art des Liebens und Miteinanderseins ist ein Menschenrecht, universell, über alle Kulturen und Traditionen hinweg. Damit folgen wir der Tradition Magnus Hirschfelds und seiner Freundinnen*, wir wissen ihn an unserer Seite wie eh und je.

Superintendentin Dr. Radosh-Hinder: Gedemütigt, verspottet, misshandelt und gefoltert und dem Tod ausgeliefert. Hört auf die Worte des Evangelisten Lukas aus seiner Passionsgeschichte

 

Schriftlesung Generalsuperintendentin Ulrike Trautwein: Lukas 23,13-27 (Luther 2017)

13 Pilatus aber rief die Hohenpriester und die Oberen und das Volk zusammen 14 und sprach zu ihnen: Ihr habt diesen Menschen zu mir gebracht als einen, der das Volk aufwiegelt; und siehe, ich habe ihn vor euch verhört und habe an diesem Menschen keine Schuld gefunden, deretwegen ihr ihn anklagt; 15 Herodes auch nicht, denn er hat ihn uns zurückgesandt. Und siehe, er hat nichts getan, was den Tod verdient. 16-17 Darum will ich ihn züchtigen lassen und losgeben. 18 Da schrien sie alle miteinander: Hinweg mit diesem! Gib uns Barabbas los! 19 Der war wegen eines Aufruhrs, der in der Stadt geschehen war, und wegen eines Mordes ins Gefängnis geworfen worden. 20 Da redete Pilatus abermals auf sie ein, weil er Jesus losgeben wollte. 21 Sie riefen aber: Kreuzige, kreuzige ihn! 22 Er aber sprach zum dritten Mal zu ihnen: Was hat denn dieser Böses getan? Ich habe keine Schuld an ihm gefunden, die den Tod verdient; darum will ich ihn züchtigen lassen und losgeben. 23 Aber sie setzten ihm zu mit großem Geschrei und forderten, dass er gekreuzigt würde. Und ihr Geschrei nahm überhand. 24 Und Pilatus urteilte, dass ihre Bitte erfüllt würde, 25 und ließ den los, der wegen Aufruhr und Mord ins Gefängnis geworfen war, um welchen sie baten; aber Jesus übergab er ihrem Willen.

26 Und als sie ihn abführten, ergriffen sie einen, Simon von Kyrene, der vom Feld kam, und legten das Kreuz auf ihn, dass er’s Jesus nachtrüge. 27 Es folgte ihm aber eine große Volksmenge und viele Frauen, die klagten und beweinten ihn.

Superintendentin Dr. Radosh-Hinder: Lasst uns gemeinsam die fünfte Strophe des Lieds „O Haupt voll Blut und Wunden“ von Paul Gerhardt singen:

Erkenne mich, mein Hüter, mein Hirte, nimm mich an. Von dir, Quell aller Güter, ist mir viel Guts getan; dein Mund hat mich gelabet mit Milch und süßer Kost, dein Geist hat mich begabet mit mancher Himmelslust.


Jan Feddersens Rede auf YouTube anschauen:


Die Berliner Karfreitagsprozession findet seit 2010 statt. Die ökumenische Prozession ist eine Initiative des Evangelischen Kirchenkreis Berlin-Stadtmitte. Laut Angaben der Veranstalter beteiligten sich in den letzten Jahren mehrere hundert Menschen. Vertreter*innen christlicher Konfessionen führen den Marsch an und tragen traditionell ein großes grünes Kreuz. Beteiligt waren unter anderem Bischof Christian Stäblein von der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, der katholische Berliner Erzbischof Heiner Koch und der griechisch-orthodoxe Bischof Emmanuel von Christoupolis. Nach dem Gottesdienst in der St. Marienkirche am Alexanderplatz beginnt die Prozession und endete nach insgesamt sechs Stationen mit einem Segen der Bischöfe  vor der Hedwigs-Kathedrale auf dem Bebelplatz. Weitere Informationen gibt es auf der Website des Kirchenkreises.