Frei-Boxen liest Der Junge mit dem dunklen Teint von Götz Wienold
Von Torsten Flüh
Begehren wir Jonas, wenn er am Tisch in der Mitte der Box sein Hemd offen trägt und seine trainierte Brust hervorlugt? Warum sollten wir Jonas, 27, im Deutschen Theater nicht begehren? Er spielt ein wenig mit seinem offenen Hemd und zeigt, als sei es zufällig, noch mehr haarlose Brust bis zum Bauchnabel. Jonas sitzt Götz Wienold am Holztisch zur Seite. Sie wechseln Blicke. Jonas reicht Götz die Hand, als dieser vorliest, wie er 1960 Manfred kennenlernt. Manuel, Jonas und Paul sind Schauspieler, die von der Liebe sprechen und lesen. Sie haben das Publikum im Foyer der Kammerspiele des Deutschen Theaters angesprochen und gefragt, wer wen liebt.
Als Götz Wienold 1947 „auf dem Weg den Sonnenberg hinauf … ein Junge …, hellbrauner Teint,“ entgegenkommt, sagt er: „Der ist für mich“. Geboren ist Wienold 1938 in Großpostwitz in der Lausitz. Er ist 8 oder 9 Jahre alt, als ihm sein Begehren zum ersten begegnet. Mit dem Für-mich identifiziert sich der junge Götz zum ersten Mal mit einem anderen Jungen. „Damals habe ich mich zum ersten Mal erkannt, ohne dass ich es hätte sagen können, nur eben in mir diese Worte.“
Wie beginnen wir zu lieben, was wir lieben? Zum Begehren gehört laut Slavoj Žižek, dass uns gezeigt wird, was wir begehren sollen. So macht das Jonas mit seinem offenen Hemd. Nicht der ganze nackte Oberkörper wird gezeigt, sondern der Schlitz im Hemd soll das Begehren wecken.
Manuel Harder und Johann Otten haben mit Frei-Boxen ein eigenes Theaterformat entwickelt. Das Publikum wird geradewegs immersiv in die Aufführung geholt. Natürlich wollen Schauspieler*innen auf die eine oder andere Art begehrt werden. Theater ist wie der Film bei Slavoj Žižek ein Spiegelkabinett des Begehrens. Dazu passen auch die Fotografien und Porträts von Claudia Neuhaus, die per knatterndem Retro-Diaprojekt an die Wände geworfen werden. PC Nackt macht einen traumartigen Sound dazu. Unscharfes und Vorbeihuschendes wecken das Begehren, mehr und genauer sehen zu wollen. Das, was wir begehren, bekommen wir nicht.
Götz Wienold liest seinen Text darüber, wie er zwischen 1947 und 1969 fünfmal zu sich selbst sagte: „Ich bin homosexuell“. Das ist etwas anderes, als zu sagen, „Ich bin Schriftsteller“ oder „Ich bin Linguist und Semiotiker“. Wienold ist jetzt ein in Tokyo und Berlin lebender und schreibender emeritierter Professor, der neben Japanisch, Französisch und Englisch mehrere Sprachen spricht. Aber die Formulierung „Ich bin homosexuell“ ist eine besondere, weil sie im Deutschen und in der deutschen Geschichte z. B. 1954 noch unter Strafe steht. Ein strafrechtliches Verbrechen nach § 175 StGB. Und eine Todsünde nach der Katholischen Kirche sowieso.
Als Götz Wienold in der Box sagt, „ich bin homosexuell“, wird ein Text aufgeführt, den er für das Jahrbuch Sexualitäten 2018 geschrieben hat. Nun wird der Text durch die Stimme und den Körper beglaubigt. Das kommt dem Publikum sehr nah. Es wird mit seinem Blick und Begehren konfrontiert. Und eine Frage drängt sich plötzlich auf: Was passiert mit dem Begehren, wenn Jonas Sippel sagte: „Ich bin mit dem Down-Syndrom geboren worden.“