Schwulsein hat im heutigen Queeraktivismus und in queerer Theorie den Makel, nicht progressiv genug zu sein. Denn wer weiß, cis und männlich ist, bekommt den Vorwurf, Nutznießer sozialer Privilegien zu sein – unverdientermaßen. Doch eine Kritik wie diese kleidet alte homofeindliche Ressentiments lediglich in ein neues Gewand.

Redaktionelle Vorbemerkung: Dieser Text dokumentiert die Rede von Dr. Dirk Sander, die er bei der Release-Party des Jahrbuch Sexualitäten 2025 am 18. Juli in der taz Kantine gehalten hat. Darin würdigt er als Erstleser den Essay „Von der Entschwulung der Welt – Wie die queere Weltanschauung den Hass auf männliche Homosexuelle modernisierte“ von Vojin Saša Vukadinović.
27. Juli 2025 | Dirk Sander
Als ich vor Wochen in der Vorankündigung auf den Einband des Jahrbuches der Sexualitäten 2025 aufmerksam wurde, resonierte gleich der Aufdruck „Entschwulung der Welt“ bei mir. Denn erstens bin ich schwul, und zweitens beschäftige ich mich beruflich mit der differenzierenden und spezifischen Entwicklung von Gesundheitsangeboten für schwule und bisexuelle Männer. Was wäre dann wohl noch zu tun in einer „entschwulten“ Welt? – Und drittens: Ich wurde auch schon gefragt: Wo sind die Schwulen? Ist schwule Sexualität noch sichtbar?
Schwule Kultur verschwindet
Und, ohne den Text zu kennen, „Entschwulung“ kann ja bedeuten, dass Schwule, Schwules, schwule Kultur verschwindet, unsichtbar wird, unsichtbar gemacht wird, sich irgendwohin auflöst, dematerialisiert etwa? – Und das erkenne ich auch in Ansätzen. Einige persönliche Beobachtungen möchte ich deshalb im Folgenden einfließen lassen.
Der wortgenaue Titel der Arbeit von Vojin Saša Vukadinović im Jubiläums-Jahrbuch der Sexualitäten 2025 lautet: „Von der Entschwulung der Welt – Wie die queere Weltanschauung den Hass auf männliche Homosexuelle modernisierte“.
Der Autor schreibt: „Inzwischen kann zweifelsfrei konstatiert werden, dass der queer-theoretische Impetus, sich an Schwulen abzuarbeiten, sich aus dem Ressentiment speist, diese als minoritäre Herrschaftsgruppe zu imaginieren, die als angeblich kontrollsüchtige Majorität der Minderheiten alle Macht an sich gerissen“ habe.
Queere Homophobie
Schon im Oktober 2022 hatte sich Dierk Saathoff in der Jungle World zu Wort gemeldet. „Queere Homophobie“ lautete der Titel seines Beitrags. Dort heißt es: „Die derzeitige queere Bewegung stellt sich im Zweifel eher schützend vor einen Heterosexuellen, der von sich behauptet, eine queere Geschlechtsidentität zu besitzen, als einem schwulen Mann oder einer lesbischen Frau beizustehen“ (…). „Queer“, das sei einmal die „Aneignung eines Schimpfwortes, dass man stolz auf sich anwendete“ gewesen.
„Heute aber, nach 30 Jahren Gender Studies, steht der Begriff nicht mehr für eine geschlechtlich liebende Minderheit, sondern beschreibt ganz grob Menschen, die die Kategorie Geschlecht prinzipiell in Frage stellen. Gleichzeitig sind die Wörter ´schwul` und `lesbisch´ fast vollständig aus dem Sprachgebrauch verschwunden.“ Aber nur fast: Vor allem auf Schulhöfen seien die Wörter `schwul´ und `Schwuchtel´ „ununterbrochen im Einsatz – als Schimpfwörter“.
Und nicht nur da, wie ich bestätigen kann. Auch im Bus, auf der Straße, oder zuletzt im Drogeriemarkt, wo ich bei zwei jung-männlich-„gelesenen“ Subjekten mithören durfte, was denn alles „schwul“ sei. Das sollte man unbedingt vermeiden!
Vukadinović rekurriert in seinem großartigen Text im Jahrbuch der Sexualitäten 2025 mit vielen Verweisen und Zitaten auf die seit dem Ende des 20. Jahrhunderts erschienenen Analysen zur „Entschwulung“, aber auch auf „groteske“ bis „bizarre“ Universitätsstudien, die in „banalster Verallgemeinerung“, „pseudokritischer Verve und jargonistischer Weise“ ihre selbstreferentiellen und selbstverliebten Thesen präsentieren. – Da wird dann auch mal locker Geschichte umgeschrieben, oder werden historische Fakten ausgeblendet.
„Aktivistische Phraseologie“, so der Autor, die aber bei nicht nur jungen „Queers“ offenbar als Tatsachen und Leitbilder verfangen. Stichworte sind hier beispielsweise: „Homonationalismus“ oder auch „anti-muslimischer Rassismus“. D.h. z.B., dass der Hinweis eines schwulen Gewaltopfers auf „salafistische Schwulenhasser“ als Täter als rassistisch eingeordnet wird. Auch hier finden Sie Belege im vorliegenden Text.
„Schwul“, so schreibt Vukadinović, war „von Anfang an eine soziale Kategorie, und als politische Identität deshalb stets eine auf Zeit, um homosexuelle Orientierung abseits medizinischer bzw. psychologischer Klassifikation begreifbar zu machen, und dem Druck zur Diskretion zu kontern“.
Schwule Safe Spaces
Schon im späten 20. Jahrhundert sei allerdings (wieder) gegen die Homosexuellen polemisiert worden, (und hier zitiert der Autor die Anthologie „Anti-Gay“ von Mark Simpson), ihnen wurde die „Überbetonung“ ihrer sexuellen Orientierung angekreidet und die „Tendenz, sich in selbstkredenzten Nestern, dörflichen Gemeinschaften mit schwulen Bars, schwulen Reiseveranstaltern, schwulen Friseuren“ einzurichten.
Man könnte solche Entwicklungen auch vorwurfsfrei als notweniges „Community-Building“ beschreiben. Etwas, dass tendenziell Siedler in feindlichen Gefilden tun. Queerisch gesprochen: Ein Safe Space! – Die Schwulen haben es also nicht erfunden, aber artgerecht stark verfeinert.
Schwule Unterdrücker
Zitiert wird auch der US-Journalist Ben Appel, der ausführte, dass „`Schwule´ im Rahmen von `LGBT´- Belangen“ zunehmend als verdächtig galten, – gar als Feinde, da sie ja „cis-männlich“ seien: „Schwul oder bi zu sein schien (in den sog. „Gender Studies“) weit weniger wichtig zu sein, wenn man zugleich auch weiß, cis und männlich war, und deshalb als jemand galt, der schon aus diesen Gründen mit den Unterdrückern unter einer Decke stecken müsse“. Diese abschätzig vorgebrachten, durch keine belastbare Empirie gestützten Sichtweisen, erinnerten stark an „eine aktualisierte Variante jener Abscheu, der sich männliche Homosexuelle schon immer ausgesetzt sahen“.
Kurioserweise hat selbst die in diesen Kreisen höchstpopuläre australische Soziologin Raewyn Connell (Stichwort: „Hegemoniale Männlichkeit“) konstatiert, dass Schwule eben nicht von der sog. „patriarchalen Dividende“ profitieren. Sie werden im Männlichkeitswettbewerb früh ausgesondert.
Nochmal zu der Frage: Wo sind die Schwulen? – Wo ist schwule Sexualität noch sichtbar? Und das ist durchaus relevant. Sind wir doch in der Aidshilfe in den 80er Jahren, zu Beginn der Aidskrise mit dem selbstgestellten, emanzipativen Auftrag gestartet, schwuler Sexualität Sichtbarkeit zu verschaffen, sie zu fördern. Einfach vor dem Hintergrund, dass die mit der eh schon (Selbst-)schambehafteten schwulen Sexualität verbundenen Ängste, Sexualität an sich zu verhindern drohten. Dabei war sie doch weiter möglich. Mit ein paar Vorkehrungen zum Schutz vor HIV bzw. Aids.
Ist schwule Sexualität verletzend?
Vor einiger Zeit wurde mir aber von einer ganz offensichtlich „queeren“ Person gesagt, dass die Darstellung schwuler Sexualität ja auch „verletzend“ sein könne. Und aktuell plage ich mich mit einer Anzeige herum, die sich auf meinen Blog zu schwuler Sexualität bezieht. Dieser Blog, eine Intervention der „Sexuellen Bildung“, sei, so die Anzeigestellenden, pornographisch und jugendgefährdend.
Eilig wird geschlossen, dass diese und andere Anzeigen aus rechtsnationalen Kreisen stammen müssten, die sich im Kampf gegen eine „Frühsexualisierung“ wähnen. Das ist aber nur zum Teil richtig, wie wiederum die Soziologen Benkel und Lewandowski 2021 in ihrer Veröffentlichung „Kampfplatz Sexualität“ beschreiben: „Die Feldzüge (gegen das Sexuelle) werden (nämlich) nicht nur von traditionell erzkonservativen, den Niedergang der gesellschaftlichen Ordnung bedroht wähnenden Milieus gestartet, (…) Ihre Durchschlagskraft erhält deren antisexueller Impetus vor allem durch eine (…) Koalition mit (Neo-)Evangelikalen, radikalen Feministinnen, und klassischen bürgerlichen Eliten (…)“. Sie ahnen es schon!
„Wie sehr selbst in akademischen Kreisen inzwischen Sexualität als Bedrohung wahrgenommen wird, zeigt ein Blick auf Diskurse in amerikanische Universitäten (…), die wiederum als Blaupause für europäische Nachahmungsmodelle fungieren.“ Das kann hier in Berlin wunderbar beobachtet werden. „Als ´Safe Spaces´ werden (hier) sexualitätsfreie Räume verstanden, während zugleich in Kauf genommen wird, dass erwachsene Menschen wie unmündige Kinder behandelt werden, um sie vor der vermeintlichen Bedrohung durch Sexuelles auch dann zu schützen, wenn dies konsensuell unter Erwachsenen geschieht“. Und Im Fokus steht die männliche Sexualität, diese wird in „manchen Debatten primär als destruktiv und als zu reglementierende Gefahr verstanden“.

Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen.
Mit Beiträgen von: Kerstin Söderblom, Dinçer Güçyeter, Zaal Andronikashvili, Manuela Torelli, Chantalle El Helou, Till Randolf Amelung, Ioannis Dimopulos, Julia Kaiser, Denis Watson, Schwester Daphne Sara Maria Sanguina Mater dʼOr OSPI, Karl-Heinz Steinle, Norbert Finzsch, Aaron Gebler, Werner Renz, Clemens Schneider, Vojin Saša Vukadinović und Alexander Zinn. 232 S., gebunden mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-8353-5917-8, 34,00 Euro.
Wo die Schwulen sind
Noch zu der Frage: Wo sind die Schwulen geblieben? Sie sind in meiner Wahrnehmung nicht einfach verschwunden. Einige sind noch laut. Sie schmieden neue Allianzen: „Homos – Juden – Frauen“. Und die meisten kennen sich ja gar nicht so aus in den sogenannten „Queer-Studies“, sie merken aber, dass die Akzeptanz des Schwul Seins, der schwulen Kultur abnimmt. Hier beobachte ich auch Verwirrung: „Bist Du queer?“ – „Ja, also schwul, äh queer, -schwul?!“
Natürlich gibt es auch Opportunismus, und erstaunliche Anpassungsleistungen: Um dazugehören zu dürfen. – Manche checken auch demütig ihre – mehr oder weniger – Privilegien. – Einige tun auch das, was Schwule immer schon in repressiven Zeiten getan haben: Sie verstecken sich, z.B. im Internet-Schrank in exklusiven Chatgruppen mit Motti wie „Schwul – so wie wir sind“, oder einfach „Schwul“ mit einer Reihe von Kuss-Emojis. Soviel nur dazu.
Welche Lehren könnte man ziehen? „Nur insofern“, so schreibt Vukadinović in der Abrundung seines erhellenden Aufsatzes im Jahrbuch, „als dies zunächst einmal heißt, die Emanzipationsgeschichte der männlichen Homosexualität als unabgeschlossene zu begreifen und die queer-theoretischen Aporien als politischen Angriff, der an dieser Unabgeschlossenheit entschiedenermaßen Anteil hat, weil er sich selbst als Transgression im Dienste des Fortschritts verkauft“.
Wohlan, die schwule Emanzipation braucht also einen Relaunch! Und ich habe in den letzten Minuten 45-mal „schwul“ gesagt. Cheers! Lesen Sie jedenfalls unbedingt den großartigen und – mutigen – Text von Vukadinović! Und: Sprechen Sie darüber! – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. Dirk Sander ist Diplom-Sozialwissenschaftler und als Referent der Deutschen Aidshilfe im Arbeitsfeld „Gesundheitsförderung für schwule und bisexuelle Männer*“ tätig.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.