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Trans und Journalisten – eine Medienkritik

In den vergangenen Jahren berichteten Medien oft unkritisch über Anliegen des Transaktivismus wie das Selbstbestimmungsgesetz oder Transitionen von Kindern und Jugendlichen. Das liegt womöglich nicht nur an erfolgreichen Transaktivistas, sondern auch an spezifischen Eigenschaften des Themas „Trans“. Eine Medienkritik.

Demonstration für Transrechte, eine Transflagge wird hochgehalten, auf einem Schild steht "Trans Rights". Symbolbild für Artikel "Trans und Journalisten – eine Medienkritik"
AktivistInnen auf einer Demo für Transrechte. JournalistInnen sollten jedoch zwischen Beruf und Aktivismus trennen können (Foto von Patrick Perkins auf Unsplash).

19. November 2025 | Jan Feddersen

Die Titelgeschichte des aktuellen Spiegel ist von erheblicher Klarheit, was das gewählte Thema anbetrifft: Verengte Meinungskorridore, verhinderte Pluralitäten, irgendwie Cancel Culture in der ARD und in diesem Fall speziell der NDR. Meine Lieblingspassage im Haupttext findet sich im Mittelteil, sie sei hier ausführlicher zitiert:

„Im Sommer 2023 wird in der ARD darüber diskutiert, eine Dokumentation über die steigende Zahl von Jugendlichen zu drehen, die sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren. An der Schalte nehmen unter anderem [Thomas] Berbner  teil, Julia Ruhs  und ein Redakteur des Bayerischen Rundfunks. Die Idee ist, sich in dem Film mit den Risiken auseinanderzusetzen, die es mit sich bringt, die sogenannte Geschlechtsdysphorie schon in jungen Jahren mit Hormonen oder gar chirurgischen Eingriffen zu behandeln.

Es ist ein Thema, das politisch und emotional enorm aufgeladen ist und viele Menschen bewegt. Zum Ärger von Berbner und Ruhs wird die Idee in den ARD-Gremien abgelehnt. Berbner hat das Gefühl, dass er mit seinen Vorschlägen zunehmend in »Wände aus Gummi« läuft, wie er es gegenüber Kollegen formuliert.“

Misere in fast allen Medien

Diese kleine Skizze markiert die Misere unserer öffentlich-rechtlichen Medien. Und nicht nur dieser: Auch Zeitungen wie die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Rundschau und auch meine Zeitung, die taz, sind betroffen. Es geht um die fehlende Bereitschaft, transkritische, vor allem transmedizinkritische Perspektiven aufzugreifen und ernst zu nehmen. So sagen es Experten, wie der Transmann Till Randolf Amelung, viele klassische Feministinnen wie Alice Schwarzer und Chantal Louis oder die lesbische Bürgerrechtlerin Monika Barz.

Stattdessen fast ausschließlich positive Beiträge über Transmenschen gerade im jugendlichen Alter, die außerdem mit Hilfe von alliierten MedizinerInnen auf pharmakologische Mittel zurückgreifen (wollen), um die sogenannte Transition ins Werk zu setzen. Oder auch ohne chemische Helferlein: Per Selbsterklärung, was gesetzmäßig wäre, sich ins andere (oder gar kein) Geschlecht zu versetzen.

Was das oben zitierte Stück aus dem Spiegel auch nahelegt: Dass transkritischer Journalismus als „rechts“, „transphob“ und „AfD-nah“ gegeißelt wird. Die Progressiven, so vermitteln es beinah alle Medienbeiträge, sind sich in puncto Gender & Trans einig – wer dies nicht unterstützt, kann nicht progressiv sein, sondern, eben, rechts, AfD-nah und daher politisch nicht ernst zu nehmen.

Aufräumen in der BBC

Eine Entwicklung wie in Großbritannien steht in Deutschland noch aus: Seit einem jüngst veröffentlichten Untersuchungsbericht zu falsch gewichteter Berichterstattung bei der dortigen Sendeanstalt BBC wird in dieser offenbar tüchtig aufgeräumt. Der Spiegel hat hierzu in der gleichen Ausgabe zum selben Schwerpunkt einen Text veröffentlicht. In diesem Bericht ist viel vom US-Präsidenten und einer verzerrt geschnittenen Reportage, aber nicht von den weiteren Punkten die Rede, die der Prescott-Bericht moniert: die Israel während des Kampfes gegen die Hamas-Terrorgruppe in Gaza dämonisierenden Beiträge sowie der gesamte Komplex zu Gender und Transfragen.

In deutschen Medien wie in der Online-Plattform der „Tagesschau“ ist eben nur von Trump die Rede – womit der Fall klar zu sein scheint: Der Populist gehe gegen die tapfere BBC vor. Der Bericht meines klugen Kollegen Daniel Zylbersztajn-Lewandowski kann dies gegen die Macht des Nachrichtenflaggschiffs der ARD kaum wettmachen. Der im „Tagesschau“-Beitrag vermittelte Eindruck ist so oder so falsch: Dass Trump und die Seinen gegen die BBC überhaupt juristisch tragfähig vorgehen können, liegt eben an einem Journalismus mit Unwucht, an unfairer bis ungenauer Berichterstattung.

In Großbritannien hat es erste Rücktritte seit dem Prescott-Bericht gegeben, auch die LGBT*-Prüfstelle am Nachrichtendesk der BBC steht offenbar kurz vor der Auflösung. Das heißt: Diese queeraktivistischen JournalistInnen können ihnen missliebige (also etwa Pubertätsblocker bei Jugendlichen kritisierende) Berichte nicht mehr verhindern.

Medienkritik in Deutschland fehlt

In Deutschland steht diese Entwicklung noch aus: Eine umfassende mediale Selbstkritik an einem Journalismus, der nicht kritisch prüft, sondern nur aktivistische Stimmen gelten lässt. Ebenso bleibt eine nötige Revision des Selbstbestimmungsgesetzes offen, das die Geschlechtsidentität per Selbsterklärung ermöglicht – ohne Prüfung der Umstände einer Transition. Es fehlt zu einer Gesetzesreform aber der öffentliche Druck, den es nicht geben kann, weil die entsprechend reflektierenden und kritischen Berichte gar nicht erst publiziert werden können.

Transaktivismuskritische Stimmen fanden in den vergangenen 20 Jahren mithin nur selten Gehör in den öffentlich-rechtlichen Medien. Ich frage mich: Woran lag es, dass von Grünen, SPD, FDP, Linkspartei und bis weit in die konservative Union hinein, niemand sich traut(e), sich mit dem Thema Trans überhaupt gründlich auseinanderzusetzen? Warum feierten alle vor einem Jahr ein Gesetz, bei dem seitens der damaligen Regierungsparteien SPD, FDP und Grüne niemand eine Rechtsfolgenabschätzung vornehmen wollte? Weshalb wurde ein Gesetz gutgeheißen, das – ausweislich aller aktuellen Studien aus den USA, Schweden, Finnland und Großbritannien – eine Gefährdung Minderjähriger in sich trägt?

Warum wurden kritische Stimmen in den Medien so gut wie nie wahrgenommen – bzw. diese gleich die AfD-Ecke geschoben? Aus welchen Gründen wurde der wahre Meilenstein bundesdeutscher Sittlichkeitsveränderung, die 2017 vom Bundestag beschlossene Ehe für alle, nie so recht gefeiert?  War vielen meiner BerufskollegInnen das ganze Projekt etwa zu spießig, zu vormodern, zu sehr heteronormativ, wie sie sagen würden?

Ehe für Alle zu unspektakulär?

Wesentlich, so meine These, ist hierfür, dass die Ehe für alle lediglich homosexuellen Paaren etwas brachte. Das Selbstbestimmungsgesetz hingegen trug die Möglichkeit in sich, die persönliche Welt aus den Angeln zu haben, einen Geschlechtswechsel, einen Identitätsswitch nach Gusto. Die meisten JournalistInnen aus dem politischen Bereich scheuten damals das Thema und wichen auch beim Selbstbestimmungsgesetz zurück: zu kompliziert, zu verworren, zu viel Ärger mit den Translobbygruppen. Den Komplex überließen sie den Jüngeren in den Redaktionen, die in ihren Bubbles tüchtig ermuntert wurden.

Dass die Transfrage, im Kern eine Frucht der esoterisch anmutenden Dekonstruktion des Geschlechterbegriffs durch Judith Butler, letztlich zu einer linken Identitätsfrage wurde, lag auch daran, dass die traditionelle Linke in den vergangenen drei Generationen kaum etwas zu den sozialen Fragen (Wohnungen, Lebenshaltungskosten, Löhne etc.) zuwege gebracht hatte. Der Nachwuchs, meist aus mittelschichtigen Familien, hielt Identitätsfragen für wichtiger. Auch wegen dieses Nachwuchses und seiner Transagenda hat Trump gewonnen – und kann jetzt entsprechend disruptiv den amerikanischen Rechtsstaat aushebeln.

Aktivismus statt Journalismus

Abermals gefragt: Worin liegt die Tendenz journalistischer Milieus geborgen, dass etwa bei der Transfrage (aber auch zu den Themen Klima, Flüchtlinge, Rassismus) so häufig die Informationen ungefiltert aus aktivistischen Kreisen kommen – und so gut wie unbearbeitet weitergetragen werden? Warum wird alles geglaubt – etwa, dass die Suizidrate von jugendlichen GeschlechtsdysphorikerInnen stiege, ließe man sie nicht in eine pharmakologische Transition mit Pubertätsblockern und entsprechenden Hormongaben?

Weil Journalismus, so meine These, anders als vor 50 Jahren eine Neigung zur Emotionalisierung zu entwickeln hat, und dies gepaart mit Opferismus, also der Haltung, erstmal allen Opferklagen zu trauen. Weil Emotionen immer mehr zu zählen scheinen als harte Faktenanalyse. Weil man mit Emotionalitäten mehr Gefolgschaft in den Sozialen Medien organisiert als mit kühl abwägenden Texten und Filmen.

Außerdem fühlen sich gerade öffentlich-rechtliche Medien einer gesellschaftlichen Sphäre verpflichtet, die man als besser gebildet, dünkelhafter, politisch interessierter verstehen kann.  Aktivistisch von oben herab argumentieren nun gerade die jungen KollegInnen, es käme doch „auf die Menschen an“. Ich würde sagen: Es kommt auf die Fakten an. In Sachen Trans lässt sich faktenbasiert sagen: Der psychoesoterische Ansatz, allen geschlechtsdysphorischen Minderjährigen zu glauben, dass sie trans sind, ist gescheitert. Überall ist dies öffentlich-rechtlich vermittelt – nur nicht in Deutschland.

All dies zusammengenommen heißt das: Journalismus, der auf Aktivismus setzt, der selbst aus diesem Aktivismus entstammt, ist keiner. Mehr noch: Er schadet der Glaubwürdigkeit jener gesellschaftlichen Sphäre, die als „Vierte Gewalt“ positiv stilisiert wird. Transfragen haben zur Polarisierung der gesellschaftlichen Debatten beigetragen, nicht weniger als die Top-Down-verordnete Gendersprache, die auf erheblichen Widerstand jenseits der bildungsbürgerlichen Mediensphären stößt. Wer glaubt, eine nötige Umjustierung des aktivistischen Journalismus im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen diene nur den Rechten, verkennt, dass der Schwindel um aktivistische Fake News längst aufgeflogen ist. Er schadet der Linken, nicht der Rechten.


Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Trans: Wenn Öffentlich-Rechtliche Medien sich mit Aktivisten gemein machen

In Großbritannien warf ein Untersuchungsbericht der öffentlich-rechtlichen BBC vor, dass ihre Berichterstattung zu bestimmten Themen verzerrt sei – darunter auch zu Genderfragen, also zum Thema „Trans“. Dem Publikum wurden kritische Aspekte rund um dieses Themenfeld oft vorenthalten. Wie ein aktueller Spiegel-Artikel zeigt, ist die BBC keine Ausnahme. Auch in Deutschland fehlt den öffentlich-rechtlichen Medien ein angemessen differenzierter journalistischer Umgang mit „Trans“.

Screenshot von BBC News, Symbolbild für Artikel "Trans: Wenn Öffentlich-Rechtliche Medien sich mit Aktivisten gemein machen"
Blick in das Nachrichtenstudio der BBC: Hier wurde oft zu einseitig über „Trans“ berichtet (Foto von ThisisEngineering auf Unsplash).

15. November 2025 | Till Randolf Amelung

Anfang November machte ein geleakter Untersuchungsbericht der BBC, verfasst vom unabhängigen Berater Michael Prescott, Schlagzeilen. Die Vorwürfe gegen das britische Pendant des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wogen schwer: Berichterstattung zu bestimmten Themen sei verzerrt worden – d.h. unangemessen einseitig ausgefallen. Betroffen sei laut Bericht insbesondere Berichterstattung zu US-Präsident Donald Trump, dem Gaza-Krieg und zur Transfrage. Als Konsequenz aus diesen Vorwürfen traten in der BBC Generaldirektor Tim Davie, und Deborah Turness, die Leiterin von BBC News, von ihren Posten zurück.

Negative Aspekte zu Trans weggelassen

Speziell zum Thema „Trans“ beschrieb Prescott gegenüber der konservativen Tageszeitung The Telegraph die Lage in der BBC so:

„Die Geschichte, die mir jede Person erzählte, klang effektiv nach einer Zensur durch die Fachredaktion für LGBTIQ-Themen innerhalb der Nachrichtenredaktion.“

Außerdem bemerkte er selbst beim Anschauen der Beiträge folgendes:

„Mir ist aufgefallen, dass Berichte, die schwierige Fragen zur Transgender-Agenda aufwarfen, von der BBC nicht behandelt wurden – selbst, wenn sie anderswo ausführlich behandelt wurden.“

Ein Beispiel für ignorierte Entwicklungen rund um „Trans“, sind die Leaks aus einem internen Austauschforum der World Professional Association for Transgender Health im März 2024. Diese Leaks offenbarten schwerwiegende Mängel hinsichtlich der Qualität der Betreuung von Kindern mit Geschlechtsidentitätsstörungen und wie riskant experimentell der affirmative Ansatz mit Pubertätsblockern eigentlich ist.

Kein Cass-Report in der ARD

Doch die BBC ist mit solch einer Voreingenommenheit bei der Transfrage kein Einzelfall. Auch in Deutschland gibt es bei diesem Thema eine seltsame Schlagseite in den Medien mit insgesamt linksliberaler Ausrichtung, vor allem bei ARD und ZDF. Während die BBC beispielsweise immerhin noch über die bahnbrechende Bedeutung des Cass-Reports berichtete, der schließlich der Pubertätsblockade – faktisch eine chemische Kastration – als Mittel der ersten Wahl ein Ende setzte, suchte man Berichte beispielsweise in der deutschen ARD vergeblich.

Die weitgehende Vermeidung negativer Aspekte beim Thema „Transkinder“ in deutschen öffentlich-rechtlichen Medienanstalten ist kein Hirngespinst rechtspopulistischer Kreise, wie nun ein Beitrag im aktuellen Spiegel aufzeigt. Dieser Text beschäftigt sich mit dem Eklat um die Absetzung der Journalistin Julia Ruhs vom kontrovers diskutierten Format „Klar“. Teil der Entstehungsgeschichte dieses Formats im NDR ist laut Spiegel folgende Erfahrung des „Klar“-Schöpfers und NDR-Redakteurs Thomas Berbner:

„Im Sommer 2023 wird in der ARD darüber diskutiert, eine Dokumentation über die steigende Zahl von Jugendlichen zu drehen, die sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren. An der Schalte nehmen unter anderem Berbner teil, Julia Ruhs und ein Redakteur des Bayerischen Rundfunks. Die Idee ist, sich in dem Film mit den Risiken auseinanderzusetzen, die es mit sich bringt, die sogenannte Geschlechtsdysphorie schon in jungen Jahren mit Hormonen oder gar chirurgischen Eingriffen zu behandeln. Es ist ein Thema, das politisch und emotional enorm aufgeladen ist und viele Menschen bewegt. Zum Ärger von Berbner und Ruhs wird die Idee in den ARD-Gremien abgelehnt. “

Für Personen, die dieses Thema seit einigen Jahren intensiv verfolgen – darunter auch ich – war es nicht nachvollziehbar, wie sehr die Kritik am gender-affirmativen Ansatz im Ausland von deutschen Medien und insbesondere den Öffentlich-Rechtlichen ignoriert wurde. Stattdessen dominieren möglichst positive Porträts von Betroffenen die Berichterstattung – wenn über Prozesse einer Geschlechtsangleichung bei Minderjährigen berichtet wird. Von der zunehmend komplexen und auch kontroversen Debatte in internationalen medizinischen Fachkreisen erfährt man in diesen Medienberichten hingegen kaum etwas.

 Selbstbestimmungsgesetz – nur Positives, bitte

Von den gleichen Problemen ist im Öffentlich-Rechtlichen auch die Berichterstattung zum Selbstbestimmungsgesetz geprägt – bis heute. Lediglich die Kontroverse um Rechtsextremist Marla-Svenja (Sven) Liebich konnte nicht ignoriert werden. Doch man bemühte sich, dies mit Kommentaren für das Selbstbestimmungsgesetz wieder zu glätten. Auch während das Gesetz sich noch in den Mühlen der politischen Verfahren befand, fehlte in der Berichterstattung eine fundierte Auseinandersetzung mit Kritik am Gesetz. Stattdessen durfte ein inzwischen ehemaliger Mitarbeiter in der „Faktenfinder“-Redaktion der ARD-„Tageschau“ noch 2023 in diesem Format einen Artikel veröffentlichen, der jede Kritik am Selbstbestimmungsgesetz als „transfeindlich“ beschmierte. Texte wie diese trugen und tragen nicht unerheblich dazu bei, das Format des „Faktenchecks“ als Mogelpackung erscheinen zu lassen und damit für viele Menschen zu diskreditieren.

Warum werden beim Themenfeld „Trans“ eigentlich alle journalistischen Standards missachtet? Eine Erklärung könnte im vergangenen Umgang mit Homosexuellen sowie auch der Aidskrise liegen – so manche Berichterstattung musste sich in der Tat die Frage gefallen lassen, ob sie nicht dem Ressentiment schlechthin zuarbeitet. In Bezug auf „Trans“ ist es selbstverständlich wünschenswert, nicht die gleichen Fehler zu machen, aber darunter darf nicht der Umgang mit der komplexen Wirklichkeit leiden.

Journalistische Standards nicht zu finden

Wer nicht hinter dem Mond lebt, hat längst mitbekommen, dass bei Minderjährigen eine frühzeitige affirmative Medikalisierung mit Pubertätsblockern Risiken birgt. Und Geschlechtsdysphorie ein Symptom ist, das bei unterschiedlichen Gruppen auftreten kann – und für die wenigsten ist ein zügiger Einsatz von Medikamenten und später chirurgischen Eingriffen das Richtige. Dazu zählen beispielsweise Teenager mit einer sich entwickelnden homosexuellen Orientierung oder biologische Mädchen mit Pubertätskrisen. Im Ausland mehren sich Berichte über früh Behandelte, die als junge Erwachsene die irreversiblen Schritte bitterlich bereuen und mit den gesundheitlichen Folgeproblemen für den Rest ihres Lebens klarkommen müssen. Darüber muss auch im Öffentlich-Rechtlichen differenziert berichtet werden können.

Auch die eklatanten Schwächen des Selbstbestimmungsgesetzes lassen sich nicht verbergen. Zuletzt berichtete der öffentlich-rechtliche WDR immerhin über Vorwürfe gegen einen Polizeibeamten in Düsseldorf, dem vorgeworfen wird, die Änderung des Geschlechtseintrags von männlich zu weiblich nur für schnellere Beförderungen vorgenommen zu haben. Eine systematische Auseinandersetzung mit den Schwächen des Gesetzes bleibt jedoch verhalten. Spannung verspricht in dieser Hinsicht übrigens auch das neue Wehrpflichtmodell mit der verpflichtenden Musterung. Werden in den kommenden Jahren viele junge Männer die Möglichkeiten des Selbstbestimmungsgesetzes entdecken? Und: Wird man im Öffentlich-Rechtlichen dann endlich journalistisch angemessen mit diesem Gesetz umgehen?

Öffentlich-Rechtliche Medien schwächen sich selbst

Mit der in Dauerschleife zu hörenden Floskel „Man muss sich mit Kritik zurückhalten, weil sie nur den Rechten nützt“ wird man diesem Problem nicht begegnen können. Das Publikum ist nicht plötzlich unkritisch gegenüber Geschlechtsangleichungen von Minderjährigen oder dem Selbstbestimmungsgesetz, nur weil man die erwünschten Narrative unermüdlich wiederholt. Eher im Gegenteil: Das wirkt unangenehm volkserzieherisch und führt dazu, Publikum dauerhaft zu verlieren. Längst gibt es Konkurrenz in Form sogenannter alternativer Medien und populistischer Krawallmacher wie Julian Reichelts Portal Nius. Wenn vor allem auf solchen Plattformen die Aspekte angesprochen werden, die im Öffentlich-Rechtlichen bewusst unter den Tisch fallen, braucht man sich über den Vertrauensverlust nicht zu wundern.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Wegen Genderideologie: Lettland will raus aus Istanbul-Konvention

In Lettland hat das Parlament mit knapper Mehrheit darüber abgestimmt, wieder aus der erst 2024 ratifizierten Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt auszutreten. Rechtspopulisten behaupteten, die Konvention würde schädliche „Genderideologie“ transportieren. Zwar wurde der Schritt durch ein präsidiales Veto vorerst abgewendet, doch das Ereignis in Lettland weist auf grundlegende Probleme um den Gender-Begriff und die Istanbul-Konvention hin.

Die Saeima - das Parlament Lettlands - in Riga von außen, Symbolbild für Artikel "Lettland will raus aus Istanbul-Konvention"
Die Saeima in der lettischen Hauptstadt Riga (Foto: Ralf Roletschek auf Wikimedia)

9. November 2025 | Till Randolf Amelung

Letzte Woche Donnerstag hat die Saeima, das lettische Parlament, mit einer Mehrheit von 56 der 100 Abgeordneten beschlossen, wieder aus der erst 2024 ratifizierten Istanbul-Konvention auszutreten.  Damit gemeint ist das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, was 2011 nach langjährigen Verhandlungen in der türkischen Metropole am Bosporus verabschiedet wurde.

Die Istanbul-Konvention „ist ein völkerrechtlich bindendes Instrument zur umfassenden Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Dazu gehören Opferschutz, Prävention und Strafverfolgung sowie die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter in den Verfassungen und Rechtssystemen“, heißt es auf der Website von UN Women Deutschland. Bislang haben 38 Nationalstaaten die Konvention ratifiziert und sich damit zu umfassenden Maßnahmen zum Schutz von Frauen und Mädchen verpflichtet – so auch Lettland.

Zwischen „natürlicher“ Familie und Genderideologie

Doch nun will das Land die Ratifizierung wieder zurücknehmen. Angestoßen wurde dies in der Saeima durch einen Antrag der rechtspopulistischen Oppositionspartei Latvija pirmajā vietā („Lettland zuerst“). Ein wesentlicher Vorwurf: Die Konvention würde traditionelle Werte der Nation gefährden. Damit meinen die Rechtspopulisten, anstatt Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, würde dieser völkerrechtlich bindende Vertrag Lettland die gleichgeschlechtliche Ehe oder geschlechterneutrale Toiletten aufzwingen. Laut Tagesspiegel habe deren Parteivorsitzender Ainārs Šlesers die lettische Bevölkerung dazu aufgerufen, sich zwischen einer „natürlichen“ Familie und einer „Gender-Ideologie mit mehreren Geschlechtern“ zu entscheiden.

Eine solche Interpretation wie in Lettland ist kein Einzelfall. Ebensolches war auch aus Polen, Kroatien, Bulgarien oder Ungarn zu vernehmen. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Begriffe „Gender“ und „Gender Identity“ (Geschlechtsidentität). Bereits 2021 beschrieb die Politikwissenschaftlerin Eszter Kováts im Jahrbuch Sexualitäten der IQN, wie „Gender“ als Feindbild der Rechten funktioniert und wie auch ein progressives Geschlechterverständnis mit Fokus auf Identität und Geringschätzung für biologische Evidenz dies befeuert. In Ungarn behauptete zum Beispiel die Fidesz-KDNP-Regierung, die Istanbul-Konvention deshalb nicht ratifizieren zu wollen, weil diese mit einem Konzept von Gender als freie Wählbarkeit des Geschlechts arbeite.

Europarat muss auf Vorwürfe reagieren

Schon 2018 musste der Europarat eigenen Angaben zufolge auf solche Behauptungen reagieren, damals mit Artikeln in der bulgarischen wie auch der kroatischen Ausgabe der Zeitschrift ELLE:

„Um der Vorstellung entgegenzutreten, dass die Istanbul-Konvention den Mitgliedsstaaten eine Art ‚Gender-Ideologie‘ aufzwingen wolle, wird in den Zeitschriftenartikeln der Unterschied zwischen den Begriffen ‚biologisches Geschlecht‘ (englisch ‚Sex) und ‚soziales Geschlecht‘ (englisch ‚Gender‘) erläutert: Der erste Begriff bezieht sich auf die biologischen Merkmale, die einen Menschen als Frau oder Mann definieren, während der zweite Begriff die gesellschaftlich geprägten Rollen, Verhaltensweisen und Tätigkeiten betrifft, die eine bestimmte Gesellschaft als für Frauen und Männer angemessen ansieht.

Demzufolge bedingt das soziale Geschlecht die Rollen, die von Frauen und Männern erwartet werden. Diese Rollen sind allzu oft von überholten Stereotypen geprägt. Diese Klischees können dazu führen, dass Gewalt gegen Frauen, Einschüchterungen und Angst ‚akzeptabel‘ werden. Beide Artikel betonen daher, dass sich das Übereinkommen per se nicht gegen traditionelle Geschlechterrollen richtet. Wenn Frauen als Mütter zu Hause bleiben möchten, während der Ehemann arbeitet, spricht sich die Istanbul-Konvention nicht dagegen aus, da sie nicht darauf abzielt, Frauen oder Männer zu einer bestimmten Lebensweise zu zwingen.“

Außerdem wies der Europarat damals schon Vorwürfe zurück, die Istanbul-Konvention würde die Staaten zur Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Ehen und eines dritten Geschlechts oder zu Schulunterricht über sexuelle Ausrichtung und Geschlechtsidentität verpflichten. Doch solche Vorwürfe von Rechtspopulisten gegen die Istanbul-Konvention verstummen nicht.

Geschlechtsidentität sorgt für Konflikte

Es ist in der Tat iso, dass der Begriff „Geschlechtsidentität“ kein Bestandteil des Haupttextes der Konvention ist. Allerdings taucht er, laut dem Think Tank „Athena Forum“, in der Nichtdiskriminierungsklausel auf. Dies geht auf das Engagement des queeraktivistischen Dachverbands ILGA-Europe zurück, der sich erfolgreich in die Verhandlungen der Konvention einschaltete. Der 2025 neu gegründete genderkritische Think Tank „Athena Forum“ kritisiert daran, dass „Geschlechtsidentität“ weder eine klare Definition noch einen klaren Rechtsstatus habe. Trotzdem sei auf diese Weise der Begriff in das Völkerrecht gelangt – ohne klare Definition und ohne Konsens. Diesen Umstand der Unklarheit würden nun Rechtspopulisten international ausnutzen, um lebensrettenden Frauenschutz zu sabotieren.

In Lettland ist der Ausstieg aus der Istanbul-Konvention noch keine vollendete Tatsache. Denn Edgars Rinkēvičs, Präsident des baltischen Staats, machte von seinem Vetorecht Gebrauch und schickte das Gesetz über den Ausstieg zu einer neuen Prüfung an die Saeima zurück, die wohl erst in der nächsten Legislaturperiode geschehen wird. In anderen Ländern hat der unklare Begriff der Geschlechtsidentität laut „Athena Forum“ jedoch bewirkt, dass die Konvention nicht ratifiziert wurde: In Bulgarien entschied das Verfassungsgericht 2018, dass die Konvention aufgrund ihrer unbestimmten Terminologie verfassungswidrig sei. In der Slowakei und in Ungarn lehnte man 2020 die Ratifizierung aus denselben Gründen ab.

„Athena Forum“ fordert deshalb:

„Es ist an der Zeit, neu zu überdenken, wie Rahmenwerke für die Menschenrechte von Frauen ausgehandelt werden, wessen Interessen sie prägen und wie sichergestellt werden kann, dass keine politische Ideologie – wie gut sie auch gemeint sein mag – die Sicherheit und Würde aller Frauen und Mädchen untergräbt.“

Auch Politikwissenschaftlerin Kováts plädierte 2021 in ihrem Essay:

„Wenn man aber sogar die Ambition hat, zu verstehen, warum Feminismus, LSBTI und Gender als negative Projektionsflächen in der Gesellschaft funktionieren, dann muss man sich kritische Fragen stellen und darf Konflikte nicht scheuen.“

Die Konflikte, die sich hier zum Verständnis von Geschlecht zeigen, gehen über bloße Gegensätze zwischen konservativen und progressiven Gesellschaftsentwürfen hinaus.  International breit etablierte Instrumente wie die 2008 veröffentlichten Yogyakarta-Prinzipien oder das Positionspapier „Human Rights and Gender Identity“ des Europarats von 2009 weisen in die Richtung, dass der Identität unabhängig von biologischen Gegebenheiten die Priorität eingeräumt werden soll.

Dagegen wächst ebenso international der Widerstand, insbesondere unter Frauen. Um hier Rechtspopulisten global die Nahrung für ihre insgesamt ja auch antihomosexuelle Propaganda wegzunehmen, aus der sie politische Energie ziehen können, wäre es wichtig, Begrifflichkeiten rund um Geschlecht noch einmal zu überarbeiten und für Kohärenz zu sorgen. Am Ende sollte beides möglich sein: Schutz für Frauen und Mädchen im Sinne des biologischen Geschlechts sowie auch Schutz für LGBTI.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Ein Jahr Selbstbestimmungsgesetz: Alles gut?

Seit einem Jahr gibt es nun das Selbstbestimmungsgesetz, mit dem Trans- und Interpersonen ihren Vornamen und Geschlechtseintrag ohne medizinische Nachweise auf dem Standesamt ändern können. Für viele Personen im queeren Aktivismus ist dieses Gesetz ein Erfolg, doch die gesellschaftliche Akzeptanz ist rückläufig.

Eine Fußgänger-Ampel zeigt ein grünes Trans-Symbol, Bild zu Artikel "Ein Jahr Selbstbestimmungsgesetz: Alles gut?"
Unter der Ampel-Regierung gab es grünes Licht für das Selbstbestimmungsgesetz (Foto von Kamsin Kaneko auf Unsplash).

6. November 2025 | Till Randolf Amelung

Im November ist das Selbstbestimmungsgesetz seit nunmehr einem Jahr in Kraft. Das noch von der Ampel-Koalition unter Ex-Bundeskanzler Olaf Scholz beschlossene Gesetz ermöglicht es, Vorname und Geschlechtseintrag auf dem Standesamt zu ändern – ohne ein aufwändiges Gerichtsverfahren mit Gutachten oder anderweitigen medizinischen Nachweisen. Auch bei Minderjährigen entfällt dies. Kürzlich veröffentlichte Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen, dass im Zeitraum November 2024 bis Juli 2025 ungefähr 22.049 Menschen ihren Geschlechtseintrag ändern ließen. Damit liegen die Zahlen deutlich über den von der Ampel-Regierung geschätzten 4.000 Personen jährlich.

Von Beginn an war das Selbstbestimmungsgesetz von heftiger Kritik und Skepsis begleitet – darunter auch meiner. Hauptkritikpunkte waren – und sind nach wie vor – die Missbrauchsanfälligkeit, die fehlende Rechtsfolgenabschätzung und zu wenig Schutzmaßnahmen für Minderjährige. Gerade die Kontroverse um Rechtsextremist Liebich hat deutlich gemacht, welche Schwierigkeiten es geben kann, wenn offenkundige Verächter des bundesdeutschen Rechtsstaats Gebrauch von dieser Regelung machen.  

Kolloquium zieht Bilanz

Am Montag wurde bei einer Veranstaltung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld Bilanz gezogen. Im kleineren Kreis haben Personen aus verschiedenen Verbänden referiert, wie erfolgreich sie das Selbstbestimmungsgesetz bewerten. Da die Veranstaltung nicht öffentlich war, sei so viel verraten: In der Summe haben alle das Selbstbestimmungsgesetz als längst überfällige Maßnahme bewertet und die bisherige Nutzung zeige, dass dieses Gesetz seinen Zweck erfülle. Für viele Trans- und Interpersonen sei es eine notwendige Erleichterung.

Allerdings hat der Fall Liebich auch unter Befürwortenden Diskussionsbedarf angeregt, wie sich solche Fälle in Zukunft möglichst vermeiden ließen – und zwar, ohne die Wiedereinführung von Plausibilitätsprüfungen mittels Gutachten oder auch vorgeschriebener Beratung. Erleichtert zeigte man sich zudem, dass die Initiative von Innenminister Alexander Dobrindt gescheitert ist, mit einer Verordnung Daten über vollzogene Änderungen nach dem Selbstbestimmungsgesetz automatisch an alle Behörden weiterzuleiten und jederzeit sichtbar zu machen.

Doch auch von den Teilnehmenden des Kolloquiums ist längst spürbar bemerkt worden, dass trotz dieses Erfolgs gegen Innenminister Dobrindts anvisierte Verschärfung des Selbstbestimmungsgesetzes, das gesellschaftliche Klima gegenüber Transfragen ungemütlicher wird. Vor allem die Frage, ob Geschlechtsidentität und das biologische Geschlecht gleichrangig zueinander sind, rückt zunehmend in den Fokus. In Großbritannien fiel kurz vor Ostern das international registrierte Urteil, dass sich die Bedeutung von „Geschlecht“ in Gleichstellungsgesetzen auf das biologische Geschlecht und nicht die Identität bezieht.

Außerdem wurde bemerkt, dass nach dem deutschen Erfolg mit dem Selbstbestimmungsgesetz anderswo Bestrebungen, vergleichbare Reglungen einzuführen, stagnieren oder erst gar nicht mehr aufkommen. Außerdem zeigt die Einführung von Gentests als Teilnahmevoraussetzung in Frauenwettbewerben durch mehrere Sportverbände, dass Biologie bei Geschlecht elementar bleibt.

Aktivismus gegen Selbstbestimmungsgesetz

Hier lohnt sich ein Blick auf Berichte über eine Tagung, die am Wochenende im beschaulichen Siegburg von dem Verein „Frauenheldinnen e.V.“ ausgerichtet wurde. Dort versammelten sich Frauen, deren Aktivismus sich gegen die Gleichsetzung von Geschlechtsidentität mit dem biologischen Geschlecht richtet und damit auch gegen das Selbstbestimmungsgesetz. Auch Prominenz, wie EMMA-Herausgeberin Alice Schwarzer oder die britische Aktivistin Kellie-Jay Keen-Minshull (bekannt unter dem Pseudonym „Posie Parker“) war in Siegburg zu Gast.

Während sich Schwarzer ausweislich eines Tagungsberichts im Blog Ruhrbarone zumindest für eine Rückkehr zum Transsexuellengesetz mit Begutachtungen aussprach, machten andere deutlich, dass sie jede Regelung für eine Änderung des amtlich registrierten Geschlechtseintrag ablehnen und generell in Abrede stellen, dass Geschlechtsangleichungen für manche Personen eine hilfreiche und unterstützenswerte Maßnahme sind.

Im Ruhrbarone-Beitrag lässt sich auch lesen, wie die in Siegburg eingeladenen britischen Aktivistinnen ihre Erfolge einordneten:

„Entscheidend fanden die Britinnen, dass normale Menschen, die Hausfrauen und Mütter, für den Kampf gegen die Entwertung des biologischen Geschlechts der Frau gewonnen werden konnten, da die Akademikerinnen kaum zu erreichen sind.“

Diese Kluft zwischen akademischen, linksprogressiven Blasen und denen, die sich darin nicht bewegen, sollte nicht unterschätzt werden. Zumal es genau dort relevant wird, wo man sich im öffentlichen Raum begegnet. Dies kann man aktuell an einem Beispiel aus den USA sehen, was gerade im Kurznachrichtendienst X zirkuliert: Tish Hyman, eine in Los Angeles lebende Sängerin, beschwerte sich dokumentiert per Video über einen biologischen Mann im Frauenumkleidebereich ihres Fitnessstudios – und bekam dafür vom Studiobetreiber die Mitgliedschaft gekündigt. Nun will sie auch andere Frauen mobilisieren, sich gegen das Primat der Geschlechtsidentität als Zutrittskriterium zu nach Geschlecht getrennten Räumen zu wehren.

Geschlechtsidentität reicht nicht

Fälle wie diese tragen dazu bei, Vorbehalte und Abwehr gegenüber Transpersonen und andere gender-nonkonforme Personen zu fördern. Und das liegt nicht ausschließlich an rechtsextremer Agitation, wie viele queere Verbände postulieren, sondern ist auch ein hausgemachtes Problem. Brianna Wu, eine US-amerikanische Transfrau, die sich zwischen den Extremen queeraktivistischer Negierung körperlicher Realitäten und transfeindlicher Rechten für einen moderaten Umgang mit Transfragen einsetzt, kommentierte den jüngsten Fall auf X:

„Als ich vor zwanzig Jahren meine Transition begann, führten Transsexuelle offene Gespräche und gaben sich gegenseitig Feedback darüber, wann wir weit genug fortgeschritten waren, um die Damentoilette zu benutzen. […] Denn vor 20 Jahren war der gesellschaftliche Vertrag mit den Frauen für die Gemeinschaft von großer Bedeutung. ‚Wir versuchen, so gut es geht, eine von euch zu sein.‘ Und die meisten Frauen erkannten diese Bemühungen und begegneten ihnen mit Freundlichkeit. […]

Heute scheint es, als seien beide Seiten dieses gesellschaftlichen Gefüges zerbrochen. Transpersonen und die Politik der Selbstidentifizierung haben zu einem Anspruchsdenken geführt, selbst bei Menschen, die sich nicht anpassen. Doch es gibt auch ein politisches Projekt, das uns verfolgt und erniedrigt. Wir alle müssen versuchen, friedlich zusammenzuleben.“

In Wus Beitrag steckt viel Bedenkenswertes, insbesondere für den Transaktivismus. Es war ein Fehler, zu propagieren, ausschließlich die Geschlechtsidentität entscheide und man müsse rein gar nichts tun, um auch nur ansatzweise im sozialen Gefüge plausibel zu sein. Wer Validierung von der Umwelt verlangt, kann dies nicht ohne eigene Leistung dafür tun – sprich: Passing durch Optik und Verhalten ist unumgänglich. Alles andere mag zwar bei AkademikerInnen auf Gegenliebe stoßen, die sich für radikale Theorien Judith Butlers begeistern, wird aber zwangsläufig scheitern, sobald es auf Schutz- und Intimsphärebedürfnisse der vielen Frauen außerhalb des Hochschul- und NGO-Betriebs trifft.

Insofern wird der Transaktivismus in den kommenden Jahren Herausforderungen zu bewältigen haben, sich im komplexen Spannungsfeld zwischen Anerkennung der Relevanz des biologischen Geschlechts sowie Berücksichtigung der Geschlechtsidentität zu bewegen. Ohne die Berücksichtigung von Aspekten, die sich aus dem biologischen Geschlecht ergeben, wird jedoch keine gesellschaftliche Befriedung um die Transfrage erreicht werden können.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Stadtbild-Debatte: Was heißt sie für Queers?

Ein geraunter Satz von Bundeskanzler Friedrich Merz mit dem Wort „Stadtbild“ hat eine Auseinandersetzung angefacht, ob sich darin purer Rassismus ausdrückt oder schlicht die Wahrnehmung vieler BürgerInnen hinsichtlich der Sicherheit im öffentlichen Raum. Für Queers zumindest ist dieser wieder unsicherer geworden.

Die Trinkhalle "Hasenschänke" am Columbiadamm in Berlin, Symbolbild für Artikel "Stadtbild-Debatte: Was heißt sie für Queers?"
Ein Stadtbild aus Berlin: Die Hasenschänke an der Neuköllner Hasenheide (Foto von Hasan Tayyar Besik auf Unsplash).

30. Oktober 2025 | Jan Feddersen

Möglicherweise haben der Kanzler und seine Berater es so gewollt. Als er bei einer öffentlichen Rede, in der es hauptsächlich um Abschiebungen von straffällig gewordenen Asylbewerbenden ging, von  „diesem Problem im Stadtbild“ raunte, traf er offenbar den Nerv von Millionen von WählerInnen. In den Städten sei es nicht mehr wie früher, nicht mehr gemütlich, viel eher: gefährlich. Kurze Zeit später wurde er von Journalisten naheliegenderweise gefragt, was er mit diesen Andeutungen überhaupt meine. Auf tagesschau.de steht hierzu zu lesen:

„Merz hatte am 14. Oktober bei einer Pressekonferenz in Potsdam gesagt, es gebe ‚im Stadtbild noch dieses Problem‘ – offenbar als Anspielung auf Menschen mit Migrationshintergrund. Auf die Frage eines Journalisten, was er damit gemeint habe, sagte der Kanzler wenige Tage später, der Journalist solle, wenn er Töchter habe, diese fragen. ‚Ich vermute, Sie kriegen eine ziemlich klare und deutliche Antwort‘, sagte Merz, ohne dabei zunächst weiter zu präzisieren, was er als Problem versteht.“

Privilegierte Töchter melden sich

Diese sogenannten Töchter meldeten sich dann, bauten sich vor der CDU-Parteizentrale in Berlin-Tiergarten auf und hielten Reden. Zu diesen Frauen zählten durchweg privilegierte Personen wie Luisa Neubauer, Carolin Emcke und Ricarda Lang, die in den Vierteln, auf die der Kanzler angespielt hatte, garantiert nicht flanieren oder ihren Alltag verbringen. Sie leben in Quartieren, in denen sie sich geschützt fühlen müssen.

Den bislang differenziertesten Beitrag aus dieser Bubble hat der grüne Mitvorsitzende Felix Banaczak formuliert. Er, der aus Duisburg stammt, formuliert sehr präzise und nahbar die Probleme, die in seiner Stadt sehr sichtbar sind: eine falsch modernisierte Innenstadt, Deindustrialisierung überhaupt, Armutseinwanderung. Wer in den einst lebendigen Vierteln lebt, muss sich schützen, denn Polizeien sind nicht präsent, es geht dort – wie in meinem Neukölln – niemand mehr auf Streife.

Queere im Stadtbild

Nicht die Rede ist bislang von queeren Personen – das Wörtchen „queer“ hier als Sammelbegriff gemeint -, die in der Debatte aber eine Rolle spielen müssten, denn in der Tat ist in den vergangenen Jahren ein herber Anstieg von Gewaltdelikten gegen schwule Männer, lesbische Frauen und trans Menschen zu verzeichnen. Nicht nur auf CSDs im Osten unserer Republik, sondern auch in metropolen Gegenden, in denen man sich besser nicht so deutlich als schwul oder lesbisch oder trans zu erkennen gibt.

Aber das ist nicht neu, kein erst in jüngerer Zeit zu beklagendes Phänomen, das ist deshalb nicht automatisch mit migrantischen Jugendlichen in Verbindung zu bringen. Denn in den frühen siebziger Jahren waren sie als Angst machende, einschüchternde Personen noch nicht auf der öffentlichen Bühne. Wer damals Schrecken und Angst zu verbreiten wusste, waren untervögelte Jugendliche weißesten Kalibers.  Diese Jungmänner machten gern mal auf von ihnen als schwächer eingeschätzte Menschen Jagd, wenn ihnen danach war. Und ich weiß, wovon ich rede, dann ich war einer dieser nicht so kräftig eingeschätzten Männer, die zu drangsalisieren sich offenbar lohnen könnte.

Nebenbei: Als die ersten Gastarbeiter in die Bundesrepublik kamen, das war Ende der fünfziger Jahre, kursierten Gerüchte, nach denen diese die deutschen weißen und blonden Mädchen schänden könnten. Historische Untersuchungen quellengesättigster Art bezeugen inzwischen, dass im Gegenteil eben diese deutschen Frolleins hinter den dunkelhaarigen Männern her waren, weshalb die bedrängten Männer in vielen Orten darum baten, dass man ihre Wohnheime umzäunt, um nicht gestalkt zu werden.

Toxische Männlichkeit

Es ging, auch historisch gesehen, immer um den Charakter toxischer Männlichkeit. Und es ging um öffentliche Räume, um Einschüchterung, Geländesicherung und Beuteverhalten – heute durch oft migrantisch geprägten Nachwuchskerle. So wie in der Silvesternacht 2015 in Köln vor dem Hauptbahnhof, als Meuten an gelangweilten, beutebewussten und eben gerade geflüchteten Jungmännern vor allem aus Nordafrika, Frauen ins Visier nahmen – und malträtierten.

Die Interpretation vieler feministischer Linker war damals – und ist es bis heute -, dass man nicht betonen dürfe, es habe sich um Flüchtlinge gehandelt. Es dürfe allenfalls von männlichen Gewaltkulturen die Rede sein, nicht von solchen, mit denen nordafrikanische Gesellschaften zu leben haben. Hat es aber sehr wohl, denn die hatten das Terrain vor dem Dom der Stadt für sich genommen, auch als Spielplatz der Gelüste bei erstbester Gelegenheit.

Kein öffentlicher Raum für Queers

Für offen performende schwule Männer, lesbische Frauen und Transpersonen war der öffentliche Raum allerdings immer kein sicherer. Unsereins hatte überall mit Aggressionen zu rechnen, in Schulklassen, auf Schulhöfen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Parks und also im „Stadtbild“ schlechthin. Dass gewisse bürgerliche Viertel, etwa in Berlin, für unsereins sicherer ist, ist noch lange keine Garantie für Unversehrtheit.  

Das gleiche gilt für Juden und Jüdinnen, vor allem für männliche Juden, die mit Kippa auf dem Kopf als solche erkennbar sind: Nicht nur in Neukölln, bevorzugtes Einwanderungsgebiet von arabischen Einwanderern, sondern auch in anderen Gegenden der Hauptstadt. Offen jüdisch sein, schwul zu sein, lesbisch oder trans: Kein Grund, sich überhaupt auf sicherem Terrain zu fühlen.

Prekariat als Problemquelle

Auf der anderen Seite darf man auch dies sagen: Für junge Menschen, die von ihren Eltern finanziell nicht üppig alimentiert werden, gibt es kaum noch Treffpunkte, Jugendzentren oder sonstige Areale zum gemeinsamen Abhängen. Die kommunalen Finanzen sind vielerorts, gerade dort, wo arme Jugendliche leben, ausgeholzt, karg gespart: Kein Wunder, dass dort die Kultur der Verachtung für die vermeintlich noch Schwächeren gedeiht.

Fatal wäre, wie der Offene Brief der Frauen (um Luisa Neubauer u.a.) suggeriert, von einem allgemeinen Problem von Gewalt gegen Frauen zu sprechen. Oder wie die eigentlich sehr kluge Politikwissenschaftlerin Susanne Schröter, die in der Debatte um das Merz‘sche „Stadtbild“ nur islamistische Momente am Wirken sieht: Religion, die islamische, allein macht noch niemanden aggressiv – nur im Zusammenwirken von persönlicher Disposition, Perspektivarmut, Langeweile und Mackertum der übelsten Sorte.

Schutz für LGBTIQ

Queere Menschen wünschen sich Schutz überall, aber vor allem Polizeipräsenz in riskanten Vierteln. Wir möchten, dass ein „Stadtbild“ so divers ist, wie es heutzutage nur sein kann – eben auch mit all den friedlich gesinnten Einwanderern, die gerade nach Deutschland geflüchtet sind, um einer toxischen Kultur in ihren ersten Heimatländern zu entrinnen. Es bleibt zu bedauern, dass die hiesige LGBTI-Szene sich mehr mit sich selbst beschäftigt ist und zu dieser Diskussion gerade so gar nichts beizutragen weiß.


Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Pädos und die queere Szene: Aufarbeitung nicht abgeschlossen

Die Ereignisse um die queeridentitäre Erweiterung von Artikel 3 des Grundgesetzes sowie Ermittlungen gegen die Berliner Szene-Ikone Jurassica Parka wegen mutmaßlichen Besitzes und Verbreitung von Kinderpornografie holen das Thema zurück auf die Tagesordnung der queeren Community: Pädophilie. Bereits 2020 analysierte der Historiker Jan-Henrik Friedrichs in einer Queer Lecture der IQN die blinden Flecken in der Auseinandersetzung mit Pädosexualität in linken und schwulen Bewegungen.

Ein Billboard Truck in Warschau mit "Stop Pedofili" und homophoben Slogans. Symbolbild für Artikel "Pädo und die queere Szene: Aufarbeitung nicht abgeschlossen"
Homophobe Bewegungen wie hier im polnischen Warschau nutzen das Pädothema, um LGBT insgesamt zu diskreditieren – und lenken dabei von eigenen blinden Flecken ab (Foto: Wikimedia).

27. Oktober 2025 | Till Randolf Amelung

Zwei aktuelle Ereignisse haben wieder mal einen Bereich grell ausgeleuchtet, mit dem sich die queere Szene schwertut: Wie umgehen mit Pädophilie, zumal in den eigenen Reihen? Also mit der Bagatellisierung von sexuellen Praktiken mit Kindern? Konkret: Das eine Ereignis ist die Forderung nach der Erweiterung von Artikel 3 Grundgesetz um „sexuelle Identität“, das andere sind Vorwürfe gegen die bekannte Berliner Drag Queen Jurassica Parka, diese habe sich Kinderpornografie beschafft und verbreitet. Beides weist auf bislang nicht hinreichend bearbeitete Problemstellung um Anliegen wie „sexuelle Befreiung“ sowie „Emanzipation von sexuellen Minderheiten“ in bestimmten Milieus hin, die der Historiker Jan-Henrik Friedrichs bereits im Jahrbuch Sexualitäten 2021 erörtert hat.

Sexuelle Identität ins Grundgesetz?

Die Erweiterung von Artikel 3 um die Nennung von grundsätzlich schützenswerter „sexueller Identität“ wird seit Jahren von queeren Verbänden vorgetragen, aktuell auch von der Queerbeauftragten der Bundesregierung, Sophie Koch. Vor zwei Wochen hat außerdem der Bundesrat diese Forderung aufgegriffen und bejaht. Dieser hat eine Gesetzesinitiative dafür in den Bundestag eingebracht, die nun beraten wird. Ob dies erfolgreich sein wird, ist ungewiss, denn für eine Änderung im Grundgesetz ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich – was angesichts der Fraktionsstärke der mitregierenden Union und der oppositionellen AfD unwahrscheinlich scheint.

Umstritten ist der Begriff der „sexuellen Identität“ deshalb, weil er sich nicht eindeutig eingrenzen lässt, wie KritikerInnen bemängeln. Denn: Könnten nicht auch Pädophile ihr sexuelles Triebschicksal als schützenswerte Identität geltend machen? Rechtswissenschaftler Arnd Diringer kritisierte bereits 2023 in der Welt, durchaus in Übereinstimmung mit entsprechenden Befunden der freudianisch orientierten Sexualwissenschaft:

„Pädophile gehen beispielsweise davon aus, dass auch ihre Neigungen als ‚sexuelle Identität‘ anzusehen sind. Das kann man etwa auf der nach einer Pädophilen-Gruppe benannten Internetseite krumme13.org lesen. Teile der juristischen Literatur lehnen das unter Verweis auf die Strafbarkeit des Verhaltens ab. Das ist, wie Professor Hartmut Oetker im Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht ausführt, aber ‚nicht zweifelsfrei, da das AGG nicht die untersagte Ausübung, sondern die Identität schützt‘. Letztere enthält keine Abgrenzung zu solchen Neigungen. Darauf wurde ebenso bei einer Expertenanhörung des Rechtsausschusses des Bundestags 2010 hingewiesen, als erstmals über die Aufnahme der ‚sexuellen Identität‘ ins Grundgesetz diskutiert wurde.“

Zudem seien LGBT bereits jetzt über das Grundgesetz geschützt, wie Andreas Edmüller, Unternehmensberater und Privatdozent für Philosophie, in seinem Blog erläutert. Er warnt auch davor, dass die explizite Auflistung „ein verfassungsrechtliches Fehlsignal“ sende:

„Es könnte der Eindruck entstehen, dass unser Grundgesetz tatsächlich nur Personen oder Gruppen schützt, die ausdrücklich genannt werden. Das wiederum würde eine Schwächung des allgemeinen und umfassenden Schutzprinzips bedeuten, das auf dem Würdegedanken beruht.“

BefürworterInnen wie der LSVD* hingegen sehen es als Makel an, dass homo- und bisexuelle Männer und Frauen als einzige Verfolgtengruppe unter dem Nationalsozialismus noch nicht explizit im Grundgesetz aufgenommen seien – wobei in dieser Perspektive historisch ungenau behauptet wird, lesbische Frauen seien vom nationalsozialistischen Regime ebenso systematisch verfolgt worden, wie schwule Männer.

Bei der Debatte zur ersten Lesung des Bundesratsantrags im Bundestag am 9. Oktober sagte die Grünen-Abgeordnete Nyke Slawik, dass der Bundestag in den vergangenen Jahren viele Gesetze erlassen habe, die die Lebenssituation von LSBTIQ-Personen verbessert hätten, sich diese Fortschritte aber bis heute nicht in unserer Verfassung widerspiegelten. Es gehe hier nicht um eine parteipolitische Debatte, sondern um Haltung für Demokratie und um Menschlichkeit.

Ob das mit dem Begriff „sexuelle Identität“ im Grundgesetz tatsächlich zielführend ist? Der Jurist Diringer bewertete dies schon 2023 nicht als sehr wahrscheinlich:

„Da der Begriff notwendige Abgrenzungen nicht ermöglicht, begibt man sich mit einer Verfassungsänderung auf gefährliches Terrain. Die Rechte lesbischer, schwuler, bisexueller, asexueller und pansexueller Menschen würden dadurch nicht gestärkt.“

Kinderpornografie bei Jurassica Parka?

Vorigen Donnerstag erschütterte die Meldung über eine Hausdurchsuchung bei der Berliner Drag Queen und Szene-Ikone Jurassica Parka (bürgerlich Mario O.) die queere Öffentlichkeit. Es geht um den Verdacht des Besitzes und der Verbreitung von Kinderpornografie. Den Hinweis bekamen die deutschen Ermittlungsbehörden aus den USA. In einem eigenen Statement auf Instagram sprach der Künstler Mario O. hierzu von Kontrollverlust, Substanzkonsum und einem Ermittlungsverfahren, weshalb er sich erstmal aus der Öffentlichkeit zurückziehen wolle.

Noch am selben Tag berichtete das Berliner Szenemagazin Siegessäule exklusiv, dass O. bereits 2023 wegen des Besitzes und der Verbreitung von Kinderpornografie rechtskräftig verurteilt wurde. Besonders heikel ist daran, dass O. nach dieser Verurteilung in seiner Rolle als Jurassica Parka an Drag-Veranstaltungen auch mit Kindern beteiligt war. Dies wird nun von Medien aus dem rechten Spektrum ausgeschlachtet, die ohnehin Veranstaltungen mit Drag Queens für Kinder regelmäßig als „Frühsexualisierung“ schmähen.

Trotz solcher Dämonisierungen müssen sich Organisatoren der Drag-Kinderveranstaltungen mit Beteiligung von Mario O. kritische Fragen nach dem Vorhandensein von Schutzkonzepten gefallen lassen. Zum Beispiel, ob überhaupt von allen Künstlern im Vorfeld erweiterte Führungszeugnisse eingefordert wurden. Gesetzlich vorgeschriebene Pflicht ist ein solches Führungszeugnis für alle Personen vorzulegen, die hauptamtlich Umgang mit Kindern haben, bei ehrenamtlichen und nebenberuflichen Tätigkeiten liegt es im Ermessen des Trägers. Wie verschiedentlich auf Social-Media-Plattformen nachzulesen ist, gibt es Träger, die dies von sechzigjährigen Lesepatinnen oder Köchinnen, die einmal jährlich für Sternsinger in ihrer Gemeinde kochen, verlangen. Warum sollte man dann nicht auch in queeren Kontexten diesen Weg gehen?

In der queeren Szene ist man nun gespalten: Während die einen nun vor allem wilde Verdächtigungen über Verrat gegen Mario O.‘s langjährige Bühnenpartnerin Margot Schlönzke in den Äther blasen, fürchten andere vor allem die Reaktionen des politisch rechten Lagers. Um die eigentlichen Opfer, die geschädigten Kinder, geht es nicht mehr.

Blinde Flecken in der Pädodebatte – bis heute

Sowohl die Beratungsresistenz bei Grundgesetzänderungen als auch die Reaktionen auf die Ermittlungen gegen Drag Queen Jurassica Parka weisen auf den Umstand hin, dass vergangene Verstrickungen links-alternativer und schwulenbewegter Milieus mit Pädosexualität bisher nur ungenügend aufgearbeitet wurden. Dem Historiker Jan-Henrik Friedrichs zufolge ist seit Jahrzehnten dem gesamten Umgang mit dem Thema immanent: Die Ausblendung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen.

In seinem immer noch aktuellen und lesenswerten Beitrag „‚Verbrechen ohne Opfer‘? Die ‚Pädophiliedebatte‘ der 1970er Jahre in Sozialwissenschaft und Schwulenbewegung aus machttheoretischer Perspektive“ im Jahrbuch Sexualitäten 2021 schreibt er:

„Neben dem für das links-alternative Milieu und die Schwulenbewegung prägenden Diskurs um ‚Befreiung‘ der Sexualität und sexueller Minderheiten beeinflussten, so meine These, sexual- und erziehungswissenschaftliche Diskursstränge und innerdisziplinäre Logiken die Debatte um eine Legalisierung pädosexueller Handlungen. Darüber hinaus trafen die Argumente der Apologeten der Pädophilie vor allem deshalb auf Verständnis, so meine zweite These, weil gesellschaftliche Machtverhältnisse in der Debatte konsequent ausgeblendet wurden. Dies betraf das Generationenverhältnis, berührte aber auch Fragen von Sexismus, Klassismus und Rassismus.“

Mit einem gesamtgesellschaftlich steigenden Bewusstsein für die Geschädigten wurde das Thema in queeren Kreisen dann stillschweigend unter den Teppich gekehrt:

„So verweist die Nicht-Thematisierung der Pädophiliedebatte etwa bei Jeffrey Weeks möglicherweise auf die Schwierigkeit, diese in eine Erfolgsgeschichte homosexueller Emanzipation zu integrieren.“

Der Historiker Friedrichs zeigt, wie die Diskussion um Pädophilie auch ein Ausdruck der gesellschaftlichen Macht von Männern ist:

„Für ein Verständnis der historischen Vorgänge ist es aber auch nötig, den Blick umzukehren und ihn statt auf die sexistisch, ökonomisch oder rassistisch Marginalisierten auf ihr Gegenstück zu richten: weiße hegemoniale Männlichkeit. Tatsächlich wurde die Debatte um Pädophilie fast ausschließlich von Männern und aus einer männlichen Perspektive geführt. Zumeist ging es dabei um einen als selbstverständlich erachteten männlichen Anspruch auf Erfüllung sexueller Bedürfnisse.“

Um die notwendige Debatte zu unterstützen, stellt die IQN Friedrichs‘ Essay „‚Verbrechen ohne Opfer‘? Die ‚Pädophiliedebatte‘ der 1970er Jahre in Sozialwissenschaft und Schwulenbewegung aus machttheoretischer Perspektive“ jetzt kostenfrei online zur Verfügung:

Hinweis: Eine Weiterverbreitung ist nur mit Angabe der jeweiligen Quelle, also der entsprechenden Jahrbuch-Ausgabe, zulässig. Ebenso ist eine Verwendung für kommerzielle Zwecke ohne Genehmigung untersagt.


304 S., 15 Abb., geb., ISBN 978-3-8353-5023-6, Preis: € 34,90 (D) / € 35,90 (A)

Jahrbuch Sexualitäten 2021

Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Melanie Babenhauserheide, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf.

Mit Beiträgen von Janin Afken, Till Randolf Amelung, Marco Ebert, Jan Feddersen, Uwe Friedrich, Jan-Henrik Friedrichs, Benno Gammerl, Antoine Idier, Jane Clare Jones, Marco Kamholz, Eszter Kováts, Aaron Lahl, Rainer Nicolaysen, Peter Obstfelder, Monty Ott, Peter Rausch, Hedwig Richter, Manuel Schubert, Detlef Siegfried, Vojin Saša Vukadinović, Götz Wienold, Benedikt Wolf und Mesaoo Wrede.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Gentest für die Integrität des Frauensports – Richtig so!

Nach mehreren umstrittenen Fällen mit trans- und intergeschlechtlichen Athletinnen im Frauensport haben mehrere Welt-Spitzenverbände Gentests eingeführt. Nur, wer vor einem Wettkampf nachweisen kann, auch biologisch weiblich zu sein, darf in der Frauenkategorie starten. Das mag einzelne Sportschickale benachteiligen, aber für die Bewahrung des Frauensports insgesamt ist dies eine notwendige Maßnahme.

Ein Sanitäter nimmt mit einem Wattestäbchen einen Wangenabstrich von einer Frau, Symbolbild für Artikel "Gentests für die Integrität des Frauensports – Richtig so!"
Der Wangenabstrich zur Entnahme einer DNA-Probe ist ein unkomplizierter Vorgang (Foto: US-Marine von Mass Communication Specialist 2nd Class Michael Starkey, Quelle: Wikimedia).

24. Oktober 2025 | Jan Feddersen

Am Samstag um 10 Uhr am Vormittag beginnt im österreichischen Sölden die alpine Skisaison mit dem Riesenslalom der Frauen. Wer favorisiert ist, wer sich besonders gut präpariert zu haben scheint für die nachfolgenden olympischen Winterspiele im Februar 2026 in den italienischen Alpen, ist nicht Gegenstand dieses Textes. Im Mittelpunkt steht der Internationale Skiverband FIS, der – wie zuvor die Spitzenverbände der Leichtathletik und des Boxens – Gentests für seine Sportlerinnen eingeführt hat: Mit ihnen soll verhindert werden, dass Frauen, die biologisch eigentlich männlich sind, an einem biologischen Frauen vorbehaltenen Wettkampf teilnehmen.

Gentests gegen Schummeleien

Der Gentest wird durch einen Wangenabstrich diskret und unkompliziert durchgeführt – für alle Athletinnen, die neulich in Tokio bei der Leichtathletik-WM antreten wollten, war diese genetische Prüfung obligatorisch. Auch Sportlerinnen aus Ländern, in denen solche Tests verboten sind, in Frankreich etwa, mussten diese Prozedur durchlaufen, ihnen wurde der Test jenseits ihrer Heimatländer abgenommen. Konkrete Beschwerden gab es keine, prinzipielle indes viele. Dazu später mehr.

Die Tests wurden nötig, weil es in vielen Sportarten, in denen es auf muskuläre Kraft und physiologische Kondition ankommt, zu schummelartigen Auffälligkeiten gekommen war: Frauen haben durchschnittlich einfach weniger Kraft als Männer, ihre physiologischen Grundbedingungen sind denen biologisch männlicher Sportler unterlegen.

Veränderte körperliche Ausgangslage durch Intersex

Der prominenteste Fall: Die südafrikanische Mittelstrecklerin Caster Semenya etwa, olympische Goldmedaillengewinnerin in London 2012, stellte sich bei DNA-Nachprüfungen als genetisch im Vergleich mit ‚normalen’ Frauen bevorteilt heraus. Sie war mit einer genetischen Anomalie geboren worden, das im weitesten Sinne zum Spektrum der Intersexualität zu zählen ist. Konkret hieß das sportlich: Sie, die als Frau aufgewachsen ist und seit langem mit einer Frau zusammenlebt, war – für den Frauensport allen überlegen, im Männersport hingegen hätte sie nicht mithalten können. Semenya hat inzwischen ihre Laufbahn beendet, nachdem sie jahrelang versucht hat, gegen Auflagen wie testosterondämpfende Medikamente vorzugehen.

Caster Semenya und viele ihrer FreundInnen in ihrem Heimatland wie in aller Welt behaupteten, die Prüfungen des Genprofils der Sportlerin verdankten sich auch rassistischen oder antilesbischen Erwägungen – aber das ist durch keine relevante Aussage belegbar. Bei ihr ging es nur darum, dass sie mit genetisch viel besseren Ausgangsbedingungen ausgestattet sei. Historisch ähnelte sie den Schwestern Press aus der damaligen Sowjetunion. Sie waren olympisch erfolgreich in den sechziger Jahren; und sie traten kurz vor der ersten Einführung von Gentests zurück. Das war in einer Zeit, ehe die gruselige Ära der pharmakologischen Manipulationen (Doping) von SportlerInnen begann.

Testosteron macht den Unterschied

Dass einige internationale Sportverbände nun diese Gentests durchführen lassen, ist ein Fortschritt: Intersexuelle Athletinnen oder Transathletinnen, die biologisch immer männlich bleiben werden, sind Frauen gegenüber bevorteilt. Im Schwimmen ist dies skandalisiert worden am Beispiel der Transfrau Lia Thomas, die im Collegesport alle dominierte – woraufhin sich Konkurrentinnen beschwerten und teils gegen sie nicht mehr antreten wollten. Thomas, unter Männern chancenlos, irgendetwas zu gewinnen, nahm zwar am Beginn ihrer Transition testosterondämpfende Medikamente ein, zehrte körperlich jedoch immer noch von einer männlichen Pubertät – sie war also ausgerüstet mit einer männlichen Muskelstruktur und einer männlichen Physiologie.

Transaktivistas machten um den Fall viel Geschrei – richtig war ihre Behauptung insofern, dass Thomas diskriminiert würde. Aber, dies muss wohl einmal nüchtern ausgesprochen werden, nicht jede Diskriminierung ist eine menschenverachtende. Denn in diesem Fall schützt sie eben Frauen vor körperlich noch weitgehend virilisierten, also männlichen Rivalen – und seien sie Trans oder Inter.

Der Fall Thomas hat den Internationalen Schwimmverband bewogen, seine Wettkampfrichtlinien zu ändern. Transfrauen dürften an Frauenwettbewerben teilnehmen, sofern sie ihre körperliche Transition mit dem zwölften Lebensjahr abgeschlossen haben – also vor der Pubertät, die in ihren Fällen eine männliche gewesen wäre. Als Alternative etablierte der Verband bei einigen Wettbewerben eine offene Kategorie für alle Geschlechter und damit auch für Transpersonen – aber niemand wollte und will offenbar an ihnen teilnehmen.

Boxverband führt ebenfalls Gentests ein

Der Boxverband hingegen hat vor seiner jüngsten WM in Liverpool Gentests eingeführt. Nicht an dem Turnier teilgenommen hatte die Algerierin Imane Khelif, die in ihrer Gewichtsklasse beim Olympischen Turnier 2024 in Paris auf dem Weg zur Goldmedaille alle Konkurrentinnen wegdrosch, die sich ihr in den Weg stellten. Das Olympiaturnier sah indes noch keine Gentests vor – deshalb konnte Khelif siegen. In Liverpool trat sie nicht an – und es steht zu vermuten, dass die Athletin, der bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde, aber physiologisch männlich geprägt ist, nie wieder bei einem Frauenturnier boxen wird.

Einer der prominentesten Fälle eines geschlechtlichen Missverständnisses war der der Österreicherin Erika Schinegger: 1966 gewann sie bei der WM in Portillo (Chile) den Abfahrtslauf der Frauen. Vor den Olympischen Winterspielen 1968 im französischen Grenoble musste sie sich einem medizinischen Test unterziehen, wie alle Athletinnen damals. Bei diesem stellte sich heraus, dass Schinegger über männliche Geschlechtsmerkmale verfügt, diese aber nach innen gewachsen waren – ein sehr seltener Fall von Anomalie. Die Österreicherin bzw. der Österreicher musste diese vollkommen unerwartete Wendung im Leben erst einmal verkraften.

Der Weltmeistertitel von 1966 blieb ihm, aber die damals Zweitplatzierte Französin Marielle Goitschel bekam rückwirkend ebenfalls Gold zugesprochen. Wohl um reinen Tisch zu machen wollte Schinegger seine WM-Goldmedaille 1988 Goitschel überreichen, sie lehnte dies jedoch ab.Schinegger fand später in ein Leben als Mann, hat geheiratet und Kinder bekommen. Obwohl er leistungsmäßig auch bei den Männern hätte mithalten können, kam sein Umfeld mit der Wendung um sein Geschlecht nicht klar, und so war die Sportlerkarriere beendet.

Biologische Realität vs. Inklusionswünsche

Aktuell gibt es, besonders in Deutschland, auch Kritik an den Gentests. Die Olympiasiegerin im Weitspringen von 2021, Malaika Mihambo sagte:

„Ein einzelner Gentest klingt nach einer klaren Lösung, ist aber wissenschaftlich verkürzt und blendet aus, dass Geschlecht kein simples Entweder-oder ist. Faire Wettbewerbsbedingungen bestehen aus vielen Faktoren – medizinischen, psychologischen, strukturellen. Wer hier unter Zeitdruck handelt, riskiert, die eigentlichen Gefahren für die Integrität des Sports zu vernachlässigen.“

Das ist schön gesagt, es klingt nach Gerechtigkeitswünschen und Inklusionssehnsucht. Doch selbst der von Anderen geäußerte Hinweis, dass Australiens Schwimmheld Ian Thorpe oder sein US-Konkurrent Michael Phelps über außerordentliche Physiognomien, etwa besonders große Hände, verfügten, verkennt, dass biologische Frauen niemals in Kraft- und Ausdauerdisziplinen mit männlichen Körpern konkurrieren können. Deshalb gibt es Frauensport – und auch dieser musste seit dem frühen 20. Jahrhundert den patriarchalen Verhältnissen abgetrotzt werden. Die Verflüssigung der Geschlechtsverständnisse zum Zweck der Inklusion von Trans und Inter mit biologisch männlicher Pubertät im Hintergrund würde zur Abschaffung des Frauensports führen.

Nebenbei, bzw. doch auch wesentlich: Transfrauen, die in Teamsportarten in Frauschaften (sorry: Frauenteams) antreten, sind ihren biologischen Kolleginnen körperlich überlegen. In den USA haben die Republikaner Donald Trumps eben dies zurecht skandalisiert. Dass Transfrauen in einem faktischen Männerkörper zu einer Gefahr für biologischen Frauen werden – Teamsportarten sind ja meist Kontaktsportarten: Beim Tackling haben Frauen gegen erst nach der Pubertät transitionierte Transfrauen keine Chance.

Dennoch liegt auch Frau Mihambo richtig: Sport hat auch etwas Ungerechtes. Ihre im Badischen angesiedelten Trainingsbedingungen sind nicht die gleichen wie die von Frauen in, sagen wir Burma oder Paraguay. Frauen führen in ökonomisch schwächeren Ländern auch nicht ein so vergleichsweises privilegiertes Leben wie Mihambo. Aber wichtiger für mich ist: Selbst, wenn die Gentests nicht der Weisheit allerletzter Schluss sein sollten, so sind sie ein praktisches Instrument zur Eindämmung von Ungerechtigkeit, denen biologische Frauen im Vergleich mit Personen, die eine biologisch männliche Pubertät durchlaufen haben, ausgesetzt sind. Will sagen: Mögliche Diskriminierungen sind quasi einzupreisen, um die Plausibilität des Ganzen – eben Frauensport – zu bewahren.


Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


ATHENA – Neuer Think Tank gegen Entbiologisierung von Geschlecht

International hat sich seit der Veröffentlichung der Yogyakarta-Prinzipien 2006 ein Geschlechtsverständnis als Paradigma etabliert, das Identität und nicht Biologie als zentral erachtet. Vor allem über internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen, Europäische Union und Europarat wurde dieses Verständnis seit mittlerweile zwanzig Jahren etabliert. ATHENA, ein neugegründeter Think Tank mit der Österreicherin Faika El-Nagashi an der Spitze, kritisiert diese Entwicklungen.

Porträtfoto von Faika El-Nagashi, der Gründerin des neuen Think Tanks ATHENA.
Neues Projekt: Faika El-Nagashi baut den Think Tank ATHENA-Forum auf (Foto: ATHENA-Forum)

5. Oktober 2025 | Till Randolf Amelung

Faika El-Nagashi, ehemalige österreichische Nationalratsabgeordnete für die Grünen, hat sich wegen unvereinbarer Standpunkte zu Geschlecht und zu Transthemen im Besonderen mit ihrer ehemaligen Partei überworfen. Während auch die österreichischen Grünen wie ihre deutsche Schwesterpartei bei Geschlecht auf die Selbstdefinition qua Identität setzen, gehört El-Nagashi in Österreich zu den wenigen öffentlichen Verteidigerinnen der Relevanz biologischer Tatsachen – vor allem für Frauen. Ebenso warnt sie beständig vor den Risiken gender-affirmativer Behandlungen bei Kindern und Jugendlichen.

Nachdem die österreichische Aktivistin schmerzlich erfahren musste, bei den Grünen mit ihren Standpunkten nicht mehr willkommen zu sein, hat sie nun zusammen mit anderen „ATHENA – a european initiative for sex-based rights, democractic values and political courage“ gegründet. Zu El-Nagashis Mitstreitern gehört auch Kurt Krickler, Mitgründer der HOSI Wien und Veteran der österreichischen Schwulenbewegung. Starthilfe gibt es aus Großbritannien von der Organisation Sex Matters.

EU als Schnittstelle

Zur Premiere von ATHENA legen El-Nagashi und ihre MitstreiterInnen einen Bericht vor, der die Europäische Union als wichtige Schnittstelle für die Verbreitung eines entkörperten und entbiologisierten Geschlechterbegriffs vorstellt. Die EU verstand sich von Beginn an auch als Bündnis für Menschenrechte, wie der Report erklärt:

„Die Europäische Union (EU) wurde nicht nur als Wirtschaftsbündnis gegründet, sondern auch als ein politisches Projekt, das auf den Grundrechten aufbaut. Zu ihren frühesten und am klarsten definierten Rechtsgrundsätzen gehört die Gleichstellung von Frauen und Männern, die erstmals 1957 in den EU-Verträgen verankert wurde, um gleiches Entgelt für beide Geschlechter zu gewährleisten. Im Laufe der Zeit wurde dieser Grundsatz auf die Arbeitsbedingungen, die soziale Sicherheit, den Zugang zu Waren und Dienstleistungen, den Mutterschutz und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ausgeweitet.“

Bezog sich „Geschlecht“ in den Dokumenten der EU zunächst auf das biologische Geschlecht, habe sich dies sukzessive hin zu Geschlechtsidentität geändert, den Entwicklungen in der Menschenrechtspolitik folgend. Ein bedeutender Umstand dafür sei laut El-Nagashi et al. die Übernahme des Begriffs „Gender“ in den 1990er Jahren gewesen. Damals habe sich der Begriff „Gender“ jedoch auf das soziale System ungleicher Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern bezogen, das in veralteten Stereotypen über das erwartete Verhalten von Frauen und Männern wurzelt, und nicht auf eine angeborene Identität, die von der biologischen Realität abweicht.

Ideologischer Begriffswandel

Seit mehr als fünfzehn Jahren habe sich in den europäischen Institutionen ein ernsthafter ideologischer Wandel vollzogen, der sich in einer veränderten Sprache, Konzepten, Politik und institutionellen Ausrichtung niederschlage.

Als wichtiges Dokument für die Interpretation hin zur Identität sehen die ATHENA-AutorInnen die Mitte der 1990er Jahre veröffentlichte „International Bill of Gender Rights“, die eine Gruppe US-amerikanischer Transaktivisten verfasst hat. In diesem Dokument plädieren die Aktivisten für die Ersetzung des biologischen Geschlechts durch ein inneres Gefühl der Geschlechtsidentität als Grundlage für rechtliche und soziale Anerkennung. Diese Interpretation habe in den folgenden Jahrzehnten an institutioneller Tragweite gewonnen – auch in der EU.

Für ATHENA ist dies ein fundamentaler Fehler:

„Gender Mainstreaming hat sich von der Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern auf die Förderung der Geschlechtsidentität und des Geschlechtsausdrucks verlagert; Konzepte, die nicht nur vage, sondern letztlich unvereinbar mit der Bedeutung und Funktion des geschlechtsspezifischen Schutzes. Wenn ‚Frau‘ alles bedeuten kann, bedeutet der Begriff letztlich nichts. In dem Maße, wie die Definitionen verschwimmen, verschwimmen auch die Mechanismen, die Frauen schützen sollen. Dienste, die für Frauen und Mädchen gedacht sind, wie z. B. Krisenzentren für Vergewaltigungen oder Sportwettbewerbe, stehen unter dem Druck, Gefühlen Vorrang vor der biologischen Realität einzuräumen.“

Die Institutionen der EU hätten, so ATHENA, LGBTI-Organisationen stark gefördert und ihnen damit eine intensivere Interessensvertretung ermöglicht. In den späten 2000er Jahren begannen transaktivistische Organisationen, den Europarat (CoE) als Anlaufstelle zu nutzen, um Geschlechtsidentität in internationales Recht und Politik einzubinden – mit Erfolg.

Menschenrechte und Geschlechtsidentität

Im Jahr 2008 berief der Menschenrechtskommissar des Europarats, Thomas Hammarberg, ein Expertentreffen mit transaktivistischen Organisationen ein, darunter ILGA-Europe und Press for Change UK. Wichtige Forderungen waren die rechtliche Anerkennung der Selbstidentität, den Zugang zu Dienstleistungen und institutionelle Reformen. Diese Forderungen wurden dann im 2009 veröffentlichten Themenpapier des Kommissars, „Menschenrechte und Geschlechtsidentität“ veröffentlicht und als Prioritäten innerhalb eines internationalen Menschenrechtsrahmens formuliert.

El Nagashi et al. weisen auch darauf hin, dass das maßgebliche Dokument für diese Prioritätensetzung die Yogyakarta-Prinzipien von 2006 sind, die von einer Gruppe international angesehener Menschenrechtsexperten und -expertinnen speziell zur Anwendung des bestehenden Völkerrechts auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität entwickelt wurden. In diesen Prinzipien wurde die Geschlechtsidentität als „eine tief empfundene innere und individuelle Erfahrung des Geschlechts“ definiert und diese Formulierung in den empfohlenen staatlichen Verpflichtungen, dem Verhalten der Medien und den Maßnahmen der Nichtregierungsorganisationen verankert. Im März 2007 wurden die Yogyakarta-Prinzipien auf einer Sitzung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen (UN) offiziell vorgestellt, im November 2017 wurden sie um zehn Punkte erweitert.

Obwohl die Yogyakarta-Prinzipien rechtlich nicht verbindlich sind, haben sie nach ihrer Veröffentlichung im Jahr 2007 schnell an offizieller Bedeutung gewonnen. Sie wurden, wie beabsichtigt, zur leitenden Interpretationshilfe, wie Menschenrechte für LGBTI zu beurteilen sind. Im Jahr 2009 verwies der Menschenrechtskommissar des Europarats im oben erwähnten Themenpapier auf sie und forderte die Mitgliedstaaten des Europarats auf, ihre nationale Gesetzgebung daran anzugleichen.

Wichtige Erfolge dieser transaktivistischen Bemühungen sind Gesetzesänderungen in mehreren EU-Mitgliedsstaaten ab 2014, die Änderungen des Vornamens und Geschlechtseintrags rein per Selbstdefinition und ohne medizinische Nachweise ermöglichen. Doch auch in weitere Felder sei laut ATHENA hineingetragen worden, „Geschlecht“ über Identität und nicht Biologie zu definieren, zum Beispiel in die Entwicklungshilfe, wo die EU einer der größten Mittelgeber weltweit ist.

Unterstützung für gender-affirmative Behandlungen

Doch nicht nur bei rechtlichen Aspekten, sondern auch in medizinischen Fragen wollen europäische Institutionen Einfluss nehmen. Das Papier „Human Rights and Gender Identity and Gender Expression“ des Europarats von 2024 beinhaltete eine Verteidigung geschlechtsangleichender Behandlungen von Minderjährigen inklusive Pubertätsblocker. In den vergangenen sechs Jahren wurde international zunehmend sichtbar, dass die medizinische Evidenz für diesen Ansatz unzureichend ist und damit schwerwiegende gesundheitliche Risiken nicht ausgeschlossen werden können. Besonders gründlich wurde dies für Großbritannien im Report von Hilary Cass dokumentiert – dessen Abschlussbericht ebenfalls 2024 vorgelegt wurde.

Doch dies ficht den Europarat nicht an, das Papier spricht sich eindeutig für den affirmativen Ansatz bei Minderjährigen aus, inklusive Verweis auf die niederländische Pilotstudie von 2011:

„Tatsächlich haben Ärzte beispielsweise in den Niederlanden berichtet, dass transsexuelle Jugendliche bei der Entscheidung, ob und wann sie bestimmte Behandlungsformen in Anspruch nehmen, vorsichtig sind. In mehreren Staaten wurden auch Bedenken geäußert, dass die Betroffenen die Eingriffe später bereuen könnten. Zwar kann das Bedauern über jede Art von medizinischer Behandlung generell ein berechtigtes Anliegen sein, doch gibt es keinen Grund, transspezifische Gesundheitsentscheidungen anders oder mit größerer Besorgnis zu behandeln.“

Dabei sind die Ergebnisse aus den Niederlanden nur begrenzt übertragbar, wie KritikerInnen bemängeln. So hat sich in den vergangenen 10 Jahren das Patientenprofil in den Gender-Ambulanzen deutlich verändert und die Studienergebnisse konnten in anderen Ländern so nicht wiederholt und damit auch nicht bestätigt werden. Politische Parteinahmen für einen medizinischen Ansatz wie vom Europarat bewirken jedoch, dass die wissenschaftliche Diskussion über die Entwicklung nicht offen und sachlich stattfinden kann.

Debatte unerwünscht

In Deutschland wurde dies zuletzt rund um eine Konferenz der Organisation SEGM sichtbar, die von Transaktivisten als „transfeindlich“ diffamiert wurde, weil auf dieser Konferenz die Risiken des gender-affirmativen Modells im Zentrum standen. Beteiligte Ärzte wurden von Aktivisten auf Instagram gar zu Feinden stilisiert, was die Bundesärztekammer nun als „inakzeptabel“ und „Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit“ verurteilte.

Die von Faika El-Nagashi mitbegründete Initiative ist angetreten, diesen Entwicklungen etwas entgegenzusetzen und sie überhaupt erst einmal einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Denn auch das ist bemerkenswert: Über all diese Entwicklungen blieb eine öffentliche und konstruktive Debatte bislang aus – insbesondere fehlt eine Rechtsfolgenabschätzung über den Shift von Biologie zu Identität beim Geschlechterbegriff. Ebenso ist in der Medizin eine differenzierte Auseinandersetzung mit den jüngsten Erkenntnissen wie im Cass-Report dringend erforderlich.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Gaza-Flottille: Queere Solidarität unerwünscht

In der queeren Szene ist Palästinasolidarität voll im Trend. Doch Vorfälle rund um die Global-Sumud-Flotilla, die gerade über das Mittelmeer Richtung Gaza segelt, offenbaren die islamistische und damit queerfeindliche Gesinnung hinter dem Palästina-Aktivismus.

Hunderte Tunesier versammelten sich in Sidi Bou Said in der Nähe von Tunis, um die Gaza-Flottille zu begrüßen. Die Klima-Aktivistin Greta Thunberg hielt eine Ansprache.
Prominente Schiffsbesatzung: Greta Thunberg hält eine Ansprache im Hafen von Sidi Bou Said in der Nähe von Tunis, einer der Sammelpunkte der Gaza-Flotille im Mittelmeerraum (Foto: Brahim Guedich, Wikimedia).

26. September 2025 | Jan Feddersen

Manchmal sind Klarstellungen nötig. Wie jetzt bei der sogenannten Global-Sumud-Flotilla, einem Konvoi an kleineren Schiffen, die sich in Mittelmeerhäfen versammeln, um  anschließend in das Kriegsgebiet des von der terroristischen Hamas kontrollierten Gazastreifens zu gelangen. Dort sollen Essenspakete abgeliefert werden, weil Israel angeblich keine Nahrung in das Hungergebiet des umkämpften Gebiets hineinlasse. Die Flotille ist mit internationaler Aktivista-Prominenz besetzt, u.a. ist neben etlichen Abgeordneten verschiedener linker Organisationen aus Frankreich, Spanien und Italien auch die vormalige Klimakämpferin Greta Thunberg mit an den Bord.

Queere Passagiere auf Gaza-Flottille nicht willkommen

Nun hat sich ein Konflikt herausgeschält, dieser wiederum wurde  in einem tunesischen Hafen ruchbar: Zur Solidaritätscommunity der Gaza-Flottille auf dem Mittelmeer gehören auch queere Aktivistas, und das sei nicht in Ordnung, stellten nun verschiedene Stimmen fest. Der Fernsehmoderator Samir Elwafi veröffentlichte auf Facebook seine Perspektive, hier mit KI aus dem Arabischen übersetzt:

„Palästina ist in erster Linie die Sache der Muslime und kann nicht von seiner spirituellen und religiösen Dimension getrennt werden – Jerusalem steht in dieser Hinsicht im Mittelpunkt seiner Symbole und seines Schicksals. Warum mischt ihr dann verdächtige Aktivisten darunter, die anderen Agenden dienen, die uns nichts angehen und nichts mit Gaza zu tun haben, wie zum Beispiel LGBT-Themen? Warum hören wir die Stimmen dieser Menschen in einer Flottille, die unsere Gesellschaften und ihre Solidarität mit Gaza repräsentieren soll?

Warum spaltet ihr die Menschen in Bezug auf die größte Sache, die sie eigentlich vereinen sollte? Warum all diese finanziellen, moralischen, ideologischen und sicherheitspolitischen Verdächtigungen in einer Flotte, die die arabische Sensibilität und das menschliche Gewissen repräsentieren sollte? Was kann man von einem arabischen Muslim erwarten, der die Slogans der „Queer”-Bewegung in einer Flotte sieht und hört, die im Namen seiner heiligsten Sache segelt und damit entweiht wird?!”

Eine weitere prominente Aktivistin, die sich öffentlich von queerer Präsenz distanziert hat, ist Mariem Meftah, die ebenfalls auf Facebook schreibt:

„Die sexuelle Orientierung jedes Einzelnen ist eine private Angelegenheit […]. Aber als „Queer”-Aktivist zu agieren bedeutet, die Werte der Gesellschaft anzutasten und einen Weg einzuschlagen, der meine Kinder und meine Angehörigen in eine Situation bringen könnte, die wir ablehnen. Ich lehne es ab, dass meinem Sohn in der Schule vorgeschlagen wird, sein Geschlecht zu ändern… Ich werde denen nicht verzeihen, die uns in diese missliche Lage gebracht haben; wir müssen darüber sprechen, denn manche überschreiten gerne eine rote Linie oder haben dies bereits getan. Ich rufe alle dazu auf, die Situation zu retten und den Fehler gegenüber den Menschen wiedergutzumachen, die ihr Blut gegeben haben, damit diese Flottille zustande kommen konnte.“

Islamistische Ideologie statt queerer Befreiung

Beide Stimmen können als plausibel verstanden werden: Sie sagen, was Sache ist. Mit einem linken Internationalismus, der sich allen echten oder imaginierten Unterdrückungsfeldern widmet, soll die Gaza-Flotille nichts zu tun haben. Es geht um die, wie sie es verstehen, Befreiung Palästinas, eine heilige Sache, die von profan-irdischen Angelegenheiten wie Queerness nicht beschmutzt werden soll, also nicht um die Möglichkeiten queeren Lebens.

Diese Ablehnung finde ich erfrischend deutlich – und demonstriert eindrücklich, was unsere „Queers for Palestine“-Freund*innen nicht wahrhaben wollen: Das Palästina, das sich die Pro-Hamas-Aktivistas vorstellen, ist queerfrei. Kein Catwalk für Menschen, wie es heißt, „mit blauen Haaren“. Es geht um die Tilgung Israels zugunsten eines islamistischen Regimes, nicht um ein antipatriarchales Stuhlkreisprojekt. Wer als Queer-Aktivista unbehelligt durch den Alltag gehen will, phantasiert sich kein Leben im Hamas-beherrschten Gaza, sondern in Tel Aviv.

Die Verdeutlichung dessen, worum es auch in Berlin propalästinensischen (faktisch: Pro-Hamas)-Aktivistas geht, ist für die betroffenen Queers ernüchternd. Falls sie diese Ernüchterung überhaupt zur Kenntnis nehmen wollen, falls sie ihre Hoffnungen als Illusionsgewölk erkennen, was beim Dyke* March im vorigen Jahr in Berlin unterblieb, als am Ende der prolesbianischen Prozession in Neukölln (Hot Spot der Hamas-Community und auch der Dyke-March-Fellows) sich beide Teile der Demo fast geschwisterlich um die Hälse fielen.

Übersehen wurde damals, dass ein halbes Jahr zuvor und wenige Monate nach dem Massaker der Hamas in der Negev-Wüste Israels an tausenden Menschen (meist jüdische Israelis) eine Demo für die Palästinenser in Berlin dreigeteilt werden musste, weil sich der gewichtigste Teil der in Berlin lebenden Palästinafreunde weigerte, in einer Demo mit queeren Prideflaggen und die sie tragenden Queeraktivistas zu laufen.

Doch nicht nur der Berliner Dyke* March ist auf einem irreführenden Solidaritätstrip mit Queer-Hassern. Auch der INTA* Pride, eine Parade für Transidentitäten, widmete sich in diesem Jahr ganz der palästinensischen Befreiung. In einem Statement hieß es unter anderem: „Der Kampf für palästinensische Freiheit ist untrennbar mit unserem Kampf für trans und queere Befreiung verbunden.“

Queers for Palestine: Illusion in eigener Sache

Nein, die Solidarität des Queeraktivismus mit der sogenannten palästinensischen Sache ist eine Täuschung in eigener Sache. Man glaubt sich in globaler Einigkeit und würde nach einer Hamas-artigen Weltrevolution doch nur allenfalls Platz auf dem Kehrichthaufen islamistischer Moral haben.

Israel übt, last but not least, sich in Geduld mit der Gaza-Flotille, abwartend, bis sie vor den Küsten Gazas und Israels aufgefischt werden können. Es gab bereits Angebote seitens der Israelis, dass die Flottille den Hafen in Ashkelon ansteuern dürfe, und von dort würden die Hilfsgüter übernommen, um sie an die Notleidenden in Gaza weiterzugeben. Doch das wurde ausgeschlagen. Von den Flottilistas wurden stattdessen schwere Vorwürfe erhoben, Israel würde sie mit Drohnen beschießen.  Doch das israelische Militär beherrscht feinsinnigere Methoden: Mit Störsendern ließen sie nun die Radios der Flotillistas kapern – und es ertönte: Musik von Abba. Unter vielen Queers (wie von mir, Befreiungstonspuren aus den Siebzigern) hochgeschätzt. Darauf ein: Thank you for the music.


Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Vielfaltsbarometer 2025: Schwindende Sympathien für unsereins

Eine neue Erhebung der Robert-Bosch-Stiftung attestiert im Vielfaltsbarometer 2025 eine sinkende Akzeptanz von Vielfalt in der deutschen Bevölkerung, davon betroffen ist auch die Kategorie „sexuelle Orientierung“. Ein genauerer Blick in die Daten offenbart, dass sich der Akzeptanzverlust vor allem bei Trans zeigt. Woran liegt das?

Fußgängerampel zeigt "rot", Symbolbild für Artikel "Vielfaltsbarometer 2025: Schwindende Sympathien für unsereins"
Stoppt die Akzeptanz von Vielfalt in Deutschland? (Foto von Kai Pilger auf Unsplash.)

21. September 2025 | Till Randolf Amelung

In Deutschland sinkt die Zustimmung zur Vielfalt – so lautet der Befund des Vielfaltbarometer 2025 der Robert-Bosch-Stiftung, die diese Erhebung nach 2019 zum zweiten Mal durchgeführt hat. Gemessen wurden die Akzeptanzwerte in den Vielfaltsdimensionen „Lebensalter“, „Behinderung“, „Geschlecht“, „sexuelle Orientierung“, „sozioökonomische Schwäche“, „ethnische Herkunft“, und „Religion“. Besonders deutlich fiel der Rückgang der Akzeptanz bei „ethnische Herkunft“ und „Religion“ aus.

Sinkende Akzeptanz im Vielfaltsbarometer 2025

Auch die Zustimmung für LGBTIQ ist rückläufig: Erreichte die Akzeptanz der Dimension „sexuelle Orientierung“ 2019 noch 77 von 100 Punkte, so sind es nun 69 Punkte. Sind die Deutschen etwa wieder schwulenfeindlicher geworden? Ein genauer Blick offenbart: Im Studiendesign der Robert-Bosch-Stiftung wurden unter „sexuelle Orientierung“ nicht nur Lesben, Schwule und Bisexuelle gefasst, sondern auch Transpersonen.

Insgesamt vier Fragen wurden zur Erhebung der Einstellungen in dieser Dimension gestellt. Zwei davon bezogen sich auf Trans – und vor allem hier ist die Entwicklung der rückläufigen Akzeptanz deutlich an den Zahlen abzulesen. Zur Aussage „Das Geschlecht zu ändern ist wider die Natur“, sagten 2025 laut Erhebung 23 Prozent der Befragten „Stimmt völlig“, „stimmt gar nicht“ 34 Prozent. Im Vergleich dazu antworteten 2019 auf die gleiche Frage 15 Prozent „stimmt völlig“, 54 Prozent „stimmt gar nicht“. Auch bei der Aussage „Transsexuelle Menschen sollten unter sich bleiben“ ging die komplette Verneinung dieser Aussage von 74 auf 56 Prozent zurück, während sie für „stimmt völlig“ von 7 auf 13 Prozent anstieg.

Rückgang vor allem bei Trans

Schaut man sich im Vergleich die beiden Aussagen zu Homosexualität an, ist die Veränderung beim Transteil im Kontrast bemerkenswert deutlich. Der Aussage „Es ist ekelhaft, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen“ stimmten zwölf Prozent der Befragten vollkommen zu, 2019 waren es noch zehn Prozent.  Dass Homosexuelle keine eigenen Kinder haben sollten, bejahte 2025 16 Prozent der Befragten, 2019 waren es noch 14 Prozent. Der Unterschied beträgt jeweils nur zwei Prozentpunkte. Ganz anders die beiden Aussagen zur Transthematik: Dort gibt es eine Differenz zwischen 2019 und 2025 von bis zu 18 Prozent!

Man fragt sich: Woran liegt es? Hierzu lohnt sich ein Blick in das vielbeachtete Buch „Triggerpunkte“ von Steffen Mau et al. aus dem Jahr 2023. Dort gingen der Soziologe und seine Mitarbeiter der Frage nach, ob und wie stark die deutsche Gesellschaft in ihren Ansichten polarisiert sei. Zur queeren Frage machten sie deutlich, dass vor allem die Einstellung zu gleichgeschlechtlicher Sexualität und Partnerschaften innerhalb weniger Jahrzehnte einen fundamentalen Wandel zum Positiven hin erfuhr.

Ende der stetigen Liberalisierung?

Während 1957 das Verfassungsgericht noch festhielt, dass der berüchtigte Paragraf 175, der gleichgeschlechtliche Sexualität schlechthin unter Strafe stellte, dies den „sittlichen Anschauungen des Volkes“ entsprach, so klingt das heute nicht nur befremdlich, sondern wäre sogar nach den Maßgaben der Europäischen Union diskriminierend. Mau et al. stellen fest: „Kein Zweifel: Zwischen uns und dem Urteil zum § 175 liegt eine Zeit intensiver gesellschaftlicher Liberalisierung, Durchlüftung und Entrigidisierung.“ Das gilt im Übrigen auch für Heteros, denn die Abschaffung des Kuppeleiparagrafen 1969 gehört ebenfalls zu dieser Liberalisierung.

In der Transfrage war die Entwicklung zur Liberalisierung lange spürbar, was auch die Ergebnisse des Vielfaltsbarometers von 2019 belegten. Steffen Mau und seine Mitautoren konstatierten 2023 ebenfalls, dass Transthemen trotz kontroverser Debatten um das Selbstbestimmungsgesetz kein Problem darstellten. Auch insgesamt fanden sie in ihrer Studie „eine sehr starke Akzeptanz von Menschen, die ihr Geschlecht gewechselt haben: 84 Prozent geben an, dass diese Menschen als ‚normal anerkannt werden sollten‘“. Das im November 2024 schließlich in Kraft getretene Gesetz ermöglicht die Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags auf Basis der reinen Selbsterklärung beim Standesamt. Ein Nachweis über die Berechtigung muss nicht mehr erbracht werden.

Doch gilt 2025 immer noch, dass diese Regelung keine Kontroverse darstellt? Immerhin hat seit Jahresbeginn der Fall einer rechtsextrem aktivistisch tätigen Person namens Marla-Svenja Liebich mehrfach Schlagzeilen gemacht. Dieser Fall zeigte, dass die Warnungen derjenigen berechtigt waren, die eine Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag ohne Überprüfung der individuellen Motivation für zu riskant hielten. In einer Umfrage der Zeit von August dieses Jahres wird nun erkennbar, dass die Zustimmung zum Selbstbestimmungsgesetz in der Bevölkerung abgenommen hat. Im Oktober 2022 fand eine knappe Mehrheit in Deutschland das Selbstbestimmungsgesetz noch okay, 2025 ist es nur noch ein Drittel.  Etwa vierzig Prozent lehnen dieses Gesetz mittlerweile ab.

Große Krisen verantwortliche Faktoren

Das „Vielfaltsbarometer“ der Robert-Bosch-Stiftung macht für den Rückgang der Akzeptanz in bestimmten Vielfaltsdimensionen vor allem folgendes verantwortlich:

„Die enge Taktung von Krisen ermüdet die Bevölkerung oder überfordert sie gar. Der ökonomische Abschwung schürt Verlustängste und führt zu Protektionismus gegenüber allen anderen, vor allem ‚dem Fremden. Die zunehmende Individualisierung und Sichtbarkeit einstiger Randgruppen hinterlassen bei manchen Menschen ein Unbehagen.“

Doch diese Diagnose kann die auffällige Verschlechterung bei der Akzeptanz von Transpersonen nicht plausibel erklären. Gerade das Selbstbestimmungsgesetz steht für etwas anderes – nämlich dem aktivistisch betriebene Etablierungsversuch eines neuen Weltbildes. In diesem Weltbild soll Geschlecht keine biologischen Grundlagen mehr haben, allein die Identität darf bestimmend sein. Ebenso wird die biologische Definition von Geschlecht angegriffen, die nach wie vor zwei biologische Geschlechter kennt, differenziert anhand der beiden Keimzellenarten Spermien und Eizellen. Zur Last gelegt wird dieser Definition von Geschlecht, dass sie Trans und Inter ausgrenze und pathologisiere. Daher soll sie durch ein anderes Modell, dem biologischen Geschlecht als Spektrum ersetzt werden.

Zwei Gameten vs. Spektrum

Doch das Spektrumsmodell ist in den Naturwissenschaften eine Außenseitermeinung, und viele in Wissenschaft und Medizin Tätige haben diese lange Zeit ignoriert. In Deutschland wird das Spektrumsmodell vor allem durch den in Merseburg tätigen Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß vertreten, der seine Auffassungen auf einer Missinterpretation eines vielbeachteten Nature-Aufsatzes von Claire Ainsworth von 2015 aufbaut. Ainsworth wollte nicht die biologische Definition in Frage stellen, sondern eine wertschätzende Haltung zur Vielfalt in der äußerlichen Erscheinung vermitteln. Den Anspruch moralischer Richtigkeit hat sich das Spektrumsmodell vor allem durch gezieltes Protegieren durch die Politik erworben, als sie queere Anliegen und damit den Transaktivismus ab 2013 mit wesentlich mehr Steuergeldern zu füttern begann.

Es ist freilich nichts gegen ein neues Modell einzuwenden, wenn dieses tatsächlich zu besseren, weil präziseren Forschungsergebnissen führt. Als 2022 ein abgesagter Vortrag der Biologiedoktorandin Marie-Luise Vollbrecht bei der Langen Nacht der Wissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin die Kontroverse um die wissenschaftliche Geschlechterdefinition die Kontroverse einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machte, wurde deutlich, dass das Spektrumsmodell nur aktivistische Relevanz hat. Rüdiger Krahe, Vollbrechts Doktorvater, sagte damals gegenüber der Berliner Zeitung, dass die Zweigeschlechtlichkeit unter Evolutionsbiologen vollkommen unstrittig sei und so auch an der HU gelehrt werde.

Überspannung durch fragwürdige Weltbilder

Das queeraktivistische Aufdrängen fragwürdiger Weltbilder bleibt nicht unbemerkt und entsprechend darf man auch eine Äußerung des Mainzer Historikers Andreas Rödder einordnen, die er Anfang September gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung tätigte:

„Aus einer Emanzipationsbewegung für bestimmte Lebensformen ist ein Modell für die staatliche Umgestaltung der Gesellschaft geworden. Diese Überspannung ist das Problem, nicht die Toleranz, die dem Ganzen zugrunde liegt.“

Damit provozierte Rödder entrüstete Reaktionen aus der queeren Aktivistenbubble, zum Beispiel in Person von Nora Eckert, die sie auf queer.de erregt und ad hominem zum Besten gab:

„Andreas Rödder hat sich wieder einmal zu Wort gemeldet. Und wenn er das tut, ist das stets von der Art, bei der ich mich frage, wie so jemand Professor werden konnte. Denn kritisches Denken mit wissenschaftlichem Anspruch schließt bekanntlich selbstkritisches mit ein. Außer windschiefen Argumenten haben wir von dem bekennenden Konservativen und Verteidiger einer deutschen Leitkultur à la Union, an der er eine Zeitlang mitgestrickt hat, noch nichts wirklich Vernünftiges gehört – zumindest, wenn es die queere Community betrifft.“

Bereits Mau et al. hatten 2023 in „Triggerpunkte“ Themen identifiziert, die dafür sorgten, dass eher mit Abwehr auf Queer reagiert wurde: eines davon war geschlechtersensible Schreibweisen mit dem Genderstern, ein anderes das Verwenden neuer Begriffe, die sich nicht ohne Weiteres erklären und Angst vor Fehlern und Fettnäpfchen produzierten. Gerade der Genderstern steht für das oben skizzierte Weltbild des Spektrumsmodells. Für eine deutliche Mehrzahl in der deutschen Bevölkerung ist das Sternchen zusammen mit dem gesprochenen Glottisschlag ein Symbol für dieses Geschlechtermodell und damit eine Umerziehung, die dem gesunden Menschenverstand zuwiderläuft. Ein Umstand, den Mau et al. leider in ihrer ansonsten sehr lesenswerten Studie vor allem als Reaktion auf Verunsicherung von Handlungsroutinen deuten wollen.

Auffällig ist, dass das biologische Geschlecht von Transpersonen lange kein anstößiges Thema in der Gesellschaft war – bis zu dem Moment, als queerer Aktivismus die Definition vom biologischen Geschlecht angegriffen hat. Das zeigte sich 2023 sowohl bei Mau et al. als auch im Vielfaltsbarometer von 2019. So hat der Umgestaltungsversuch erst dem jetzt spürbaren Backlash Vorschub geleistet. Statt wie noch zuvor vorsichtig-distanzierte und neugierige Aufgeschlossenheit, vergrößert sich jetzt die Ablehnung gegenüber Transpersonen. Womöglich ist diese Entwicklung aktuell nicht mehr schnell zu ändern, man sollte diese aber nicht weiter befeuern, indem man der Bevölkerung wissenschaftlich nicht haltbare Weltbilder immer noch einpauken will.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Queerfeindlichkeit: Der liberale Ekel

Jacques Schuster, Chefredakteur der Welt am Sonntag und bekennender Liberaler, äußert sich in einem Kommentar seiner Zeitung entnervt über die Formel „LGBTQ“ – und wünscht es sich „ein wenig leiser“. Das darf zurückgewiesen werden, klar. Aber was an seiner Klage könnte triftig sein? Über die Tyrannei der Diskretion.

Teilnehmende auf dem CSD Zürich 2023. Eine Person hält ein Schild hoch, mit der Aufschrift "We exist everywhere". Symbolbild für Artikel "Queerfeindlichkeit: Der liberale Ekel"
Besonders augenfällig ist Sichtbarkeit auf CSD-Paraden – wie hier 2023 in Zürich. (Foto von Ilia Bronskiy auf Unsplash).

15. September 2025 | Jan Feddersen

Vor wenigen Jahrzehnten zeichnete der berühmte Bildererzähler Ralf König eine Szene seiner Helden Konrad und Paul, in der sie in einem Eiscafé sitzen und der eine bei der Bestellung, so sinngemäß, sagt: Guten Tag, wir sind schwul und wir hätten gern zwei Kugeln Vanille und eine Kugel Schokolade … worauf die Bedienung nur cool antwortet: „Das erste ist mir egal, aber beim Zweiten: mit oder ohne Sahne?“

Es waren die frühen neunziger Jahre, wenn ich mich recht erinnere, und die Szene bringt das damalige Lebensgefühl sehr vieler schwuler Männer ziemlich gut auf den Punkt: Schwul zu sein nicht als unbedingt zu beschweigenden Lebensumstand. Es war die Zeit, in der die Aidskrise durch die Entwicklung pharmakologischer Eindämmungsmöglichkeiten im Falle einer HIV-Infektion allmählich weniger hysterisch wurde, Homosexuelles, zumal die männliche Form, wurde nie zum Hype, aber man durfte in vielen Bereichen offener drüber reden.

Anrüchige Spaßvögel

In der Geschichtsschreibung heißt es stets, der nazikontaminierte § 175 habe bis 1969 gegolten, danach sei für schwule Männer das Paradies ausgebrochen. Das ist falsch. Wer dabei war, weiß das nur zu gut. Für Homosexuelle, gleich ob Männer oder Frauen, galten auch im liberalen Spektrum unserer Republik strikte, aber nicht verschriftlichte Regeln: Spricht nicht drüber! Ich nenne das: Die Macht der Tyrannei der Diskretion.

Ein historisches Beispiel ist Fritz Bauer – war er schwul? Antwort: Hat er ja selbst nicht gesagt. Wie hätte er das auch tun sollen, als ein bei Nazis und ihren Freunden in den sechziger Jahren bis zu seinem Tod verhasster Staatsanwalt? Er wäre erledigt gewesen. Bis in die neunziger Jahre hinein war das Gesetz der Diskretion übermächtig: Wer darüber sprach – und sei es nur, als Mann von „meinem Mann“ zu sprechen -, riskierte, nur noch als homosexuell wahrgenommen zu werden, also nicht gesellschaftsfähig – oder nur als Spaßvögel, so wie viele Jahre später Hella von Sinnen oder Dirk Bach. Schwules und Lesbisches – anrüchig, nicht sagbar.

Geht es leiser?

Um endlich auf den Anlass meiner Zeilen zu kommen: Jacques Schuster, Chefredakteur der Welt am Sonntag und bekennender Liberaler, schrieb am Wochenende nun einen Kommentar mit dem Titel: „Liebe LGBTQ – geht es ein wenig leiser?“ Er schreibt:

„Das nächste Unwort des Jahres sollte ‚LGBTQ‘ werden. Und das nicht nur, weil es ein Zungenbrecher ist. ElDschiBiTiKiu steht für Lesbisch, Gay (schwul), Bisexuell, Transgender und Queer, also für Menschen, deren sexuelle Orientierung von der Heteronorm abweicht. Nichts gegen diese Menschen! Sie sollen tun, was sie wollen, und leben, wie sie es für richtig halten. Aber vielleicht geht es ein wenig leiser?“

Davon abgesehen, dass in der Formel „LGBTQ“ es nicht um „sexuelle Orientierung“, also ums Begehren, um Sehnsucht geht, sondern um „sexuelle Identität“, also um Selbsteinschätzungen, möchte ich doch anmerken: Nein, leiser geht’s nicht. Wie der Medienjournalist Stefan Niggemeier schreibt:

„Wenn eines wichtig ist in diesen verstörenden, beängstigenden Zeiten, gerade auch für queere Menschen, dann das: dass wir nicht leiser werden.“

Stärkere Präsenz von LGBTQ

Das ist eine naheliegende Reaktion, erklärt aber nicht den fast wütenden Stoßseufzer des journalistischen Kollegen Schuster, wenn er formuliert:

„Es ist kaum noch auszuhalten, in welcher Wucht man täglich – sei es im Fernsehen, sei es sonst wo – thematisch mit LGBTQ belämmert wird: vom grammatikalischen Firlefanz des Genderns bis zu queeren Lebensgemeinschaften in jeder zweiten Vorabendserie.“

Das ist einerseits eine zutreffende Wahrnehmung, Queers sind heutzutage in den Medien präsenter denn je, und wenn man die Doku über Daniel Küblböck angeschaut hat, weiß man: Das war auch überfällig, denn noch vor 20 Jahren wurde unsereins allenfalls wahrgenommen und gewertschätzt, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ – und dann auch noch gönnerhaft.

Schuster aber führt dann aus, ein für einen Liberalen riskanter Hinweis auf die seiner Meinung nach wahren Mehrheitsverhältnisse:

„Die LGBTQ-Missionare in den Sendern und woanders vergessen die Mehrheit: Etwa 88 Prozent der Deutschen sind heterosexuell, 49 Prozent leben in Familien, 75 Prozent haben keinen Einwanderungshintergrund. Vielleicht sollte zur Abwechslung mal an die gedacht werden – gleichgültig was die fingerschwenkende moralische Elite dazu meint.“

Hier stimmt vieles nicht, etwa die Prozentangaben zum Einwanderungshintergrund. Knapp die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung hat (seit der NS-Zeit) einen solchen. Wichtiger aber scheint mir: Im LGBTQ-Kontext ist wirklich viel Missionarisches im Spiel: als ob man Vokabeln zu lernen hätte und Strafen fürchtet, hat man sie nicht gut genug gepaukt. Worte wie „lesbisch“ oder „schwul“ werden gar nicht mehr erwähnt, vielmehr ist selbst eine wie die Kunstfigur Conchita Wurst kein schwuler Mann mehr namens Tom Neuwirth, sondern eine queere Conchita Wurst. Dragkunst mag ja auch queer verstanden werden, aber zunächst ist sie, nun ja: drag. Und: Neulich wurde selbst die frühere Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer als queer gelabelt – wobei sie sich selbst als lesbisch sieht.

Keine Wahrnehmungsroutine

Mit anderen Worten: Es hätte nach anderthalb Jahrzehnten queeren Aktivismus in den Medien eigentlich die Rede von Gewöhnung, von Wahrnehmungsroutinen sein müssen, so hat es mal der Soziologe Niklas Luhmann ausgeführt: Mediale Strategien führen zur Überwältigung,  also Routine und Gewöhnung. Stattdessen ist einer wie Schuster (und wahrscheinlich viele andere) einfach nur genervt von einer unaussprechlichen Buchstabenformel. Und das darf er, andere Meinungen sind geschützt.

Aber Schuster hat den Gegenstand vor allem nicht präzise genug in den Blick genommen: Warum mokiert er sich nicht darüber, dass männliche Wesen in den Medien gern mit bunten Haaren gezeigt werden, außerdem schmal und allzeit juvenil? Und warum gibt es im LGBTQ-Sprachbrevier eigentlich, medial gesehen, keine gewöhnlichen Homosexuellen, männlich wie weiblich, sondern nur: Queers? Sind sie das überhaupt – und wollen sie es sein? Oder spielt für sie, allem offen bekundeten Homosexualität zum Trotz, Queeres als Lebensmittelpunkt nicht (mehr) die große Rolle? Queer hat eine Mehrfachbedeutung – aber inzwischen gilt alles als queer, was nicht wie imaginierte Heteronormalität daherkommt. Fatal: Selbst Heteromänner bezeichnen sich als queer – oftmals nur, weil sie ihre Fingernägel bunt lackieren.

Jacques Schuster hat ein erstaunlich offenes Dokument liberalen Ekels vor dem lebensweltlich Sagbaren formuliert. Es verdient, nicht blank zurückgewiesen zu werden. Die Ära der Diskretion ist vorbei – aber ist die der queeren Belehrung nicht minder passé?


Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Ein Mensch namens Lana Kaiser aka Daniel Küblböck

Die ARD widmet sich dem Leben Daniel Küblböcks, einem Showstar der frühen Nuller Jahre, der sich am Ende seines Lebens Lana Kaiser nannte. Entstanden ist eine beeindruckend dichte Dokumentation in drei Teilen über insgesamt zwei Stunden. Und die doch eher ein Märchen als eine einordnende Geschichte zu einem der größten queeren Stars seiner Zeit geworden ist.

Daniel Küblböck singt auf der Bühne des CSD Köln 2009. Küblböck trägt ein pinkes Hemd, eine graue Weste und Hose und hält ein Mikrofon in der Hand.
Daniel Küblböck auf dem CSD Köln 2009 (Foto: Wikimops).

13. September 2025 | Jan Feddersen

Wie auch immer sich Daniel Küblböck in der letzten Zeit seines Lebens identifizierte, als Frau, also als Lana Kaiser, oder als das männliche Wesen, als das er am 27. August 1985 geboren wurde: In diesem Text wird er als Mann erkannt, mit den entsprechenden Pronomen. In der dreiteiligen Dokumentation über ihn heißt es in einer schriftlichen Einblendung zum Auftakt 120 Minuten indes: „Diese Serie handelt von einer Person, die sich kurz vor ihrem Ableben als trans sichtbar machte. Da viele Gesprächspartner*innen sie nur aus der Zeit davor kennen, werden in dieser Serie unterschiedliche Namen und Pronomen verwendet.“

DSDS statt Kinderpflege

Was nach dieser Erläuterung folgt, ist eine teils ergreifende, teils deprimierende Revue über das Leben des Daniel Küblböck.  Ende 2002 lässt er eine Ausbildung zum Kinderpfleger sausen, um dorthin zu gelangen, wonach es ihn sehnte: ins Showgeschäft. Er gehörte zur ersten, man könnte sagen: legendären ersten Staffel des RTL-Formats „Deutschland sucht den Superstar“. Küblböck wurde zwar nicht der Sieger, sondern Alexander Klaws. Im Gegensatz zu diesem aber,  avancierte der Bayer mit seiner mitreißenden, etwas erratischen, jedenfalls für die Wünsche der TV- und Musikindustrie immer etwas unberechenbaren Art zum wirklichen Superstar seiner Zeit: Er habe nicht singen können, hieß es später, er habe dieses oder das nicht gekonnt, aber er hatte dieses gewisse Etwas, das Sterne von Sternschnuppen unterschied.

Was ihn trieb, wurde in aller Öffentlichkeit breit erörtert, und Küblböck war das recht: Stars wissen, dass sie Futter geben müssen, Langeweile darf nicht sein. In die Wiege gelegt war ihm das aber nicht, wie er in seiner 2003 veröffentlichten Autobiografie „Ich lebe meine Töne“ verriet:  Küblböcks Mutter blamierte ihren Sohn öfters mit dem Satz, er könne nichts, er sei nichts, er werden nie etwas können. Aber Küblböck, nahm diesen  nur denkbaren übelsten Schmäh aggressiv – er wollte ins Licht und also unter Scheinwerfer. Er war als Aschenputtel designiert, wollte aber – mindestens – die Prinzessin werden. Dank DSDS wurde er schließlich zu einem Star, dessen Popularität gerade bei den Heranwachsenden an die von Michael Jackson in jenen Jahren heranreichte.

Queere Sichtbarkeit statt Diskretion

Viele seiner Nächsten kommen in dieser Dokumentation zu Wort: Als Zuschauer freut man sich, dass Küblböck anscheinend umgeben war von einem schützenden Ring an ihm innig gesinnten Menschen, darunter zwei Ex-Männer, Gracia, seine DSDS-Mitbewerberin und spätere ESC-Teilnehmerin, außerdem eine Kneipenwirtin in Berlin, die Hamburger Dragqueen Olivia Jones und auch der Vater, der zeitweise für seinen Sohn Manager war. Erahnbar wird die quasi avantgardistische Leistung des Künstlers: Als er die Showbühnen  unter dem giftigen Patronat Dieter Bohlens eroberte, gab es gegen schwule (und überhaupt: queere) AkteurInnen noch diese gewisse Tyrannei der Diskretion.

Schwule oder lesbische Stars wie Olivia Jones, Hella von Sinnen, Guido Maria Kretschmer waren in jenen Jahren Geschöpfe des privaten Fernsehens, nicht der ARD oder des ZDF, für die Nichtheteronormatives souverän zu zeigen als allenfalls tolerier-, aber nicht wünschbar erschien.. Subtile oder drastisch geäußerte Homophobie musste gar nicht zelebriert werden, sie war einfach Comment, so alltäglich wie selbstverständlich.

Daniel Küblböck brauchte allerdings als schwuler Star in spe auch gar nicht geoutet werden: Seine Art der fröhlichen Unmackerigkeit wurde als „schwul“ quasi automatisch „mitgelesen“ –  auch schon von jungen Schwulen selbst: Sie waren ja anders als die anderen (Jungs), sie hatten Sinn für Mädchen, aber mehr, um mit ihnen Gummitwist zu spielen als ihnen an die Wäsche zu gehen.

Zwischen Ruhm und Abstieg

Das alles zeigt diese Dokumentation: ein Meilenstein in der Aufklärung strukturell-antiqueerer Verhältnissen vor allem, aber nicht, nur in den öffentlich-rechtlichen Medien. Vor allem ist dieses Portrait Küblböcks eine Geschichte über einen jungen Mann, der sich nicht verstecken will und viel Scheitern auf sich nehmen muss, ehe er – vielleicht – verstanden hat, dass jeder Ruhm den nahen Abstieg in sich trägt.

Küblböcks verzweifelte Schritte, seine Flamboyanz, sein schwules Strahlen einzubüßen, schockieren im Nachhinein extrem. So gut wie alles probiert er aus, um irgendwie im Showbusiness zu bleiben inkl. Dschungelcamp. Er ist sich aufmerksamkeitsökonomisch für nichts zu schade. An ihm scheint abzuprallen, dass  ARD-Talkmoderator  Frank Elstner in einer Gesprächssendung ihn wie einen von einer Geisteskrankheit Geheilten behandelt, ein Sohn, der endlich zur Besinnung gekommen ist: ordentlich korrigierte Zahnreihen, ein eher langweiliger Kurzhaarschnitt. Inklusive gefälliger Zustimmung Küblböcks, als Elstner ihn an frühere Zeiten erinnert. Dabei waren dies seine besten!

Sichtbarkeit als Freiheitsversprechen

Im Nachhinein wird mir klar, dass ich selbst Küblböck als schwule Tapferkeitsverkörperung nicht wahrgenommen hatte. DSDS war nicht mein Format, entzündete so wenig mein Interesse wie das Dschungelcamp. Aber mit dieser Doku wurde mir bewusst, dass der Aufstieg des schwulen Daniel Küblböcks zur gleichen Zeit stattfindet wie beim ESC international queere Sichtbarkeit bis in die KünstlerInnenriege deutlich werden konnte – von Dana Internationals ESC-Sieg 1998 bis hin zu Conchita Wurst mit ihrem Eurovisionstriumph 2014. Als seien sie ein Versprechen.

Offenbar waren die 2000er Jahre  jene Zeit, die irgendwann als Möglichkeitsjahre queerer (vor allem schwuler und lesbischer) Sicht- und Sagbarkeit erinnert werden. Die Generation der Küblböcks nahm die Freiheitsversprechen der Länder, die sich in puncto Queerness als inklusiv (bis hin zur „Ehe für alle“, in Deutschland 2017) verstehen wollten, beim Wort. Dass Küblböck damals DSDS nicht gewinnen konnte, hatte vermutlich mit den kühlen betriebswirtschaftlichen Überlegungen der Produzenten von DSDS zu tun: Ein bekennend heterosexueller Posterboy wie Alexander Klaws  versprach, durch viele jugendliche weibliche Fans die Kassen kräftiger klingeln zu lassen.

Letzte Station Schauspielausbildung

Die Krise des Daniel Küblböck begann mit seinen späten Dreißigern, er war kein glamouröser junger Prinz mehr, als er nach Berlin ging, um eine Schauspielausbildung zu machen. Er wirkte, ehrlich gesagt, schon wie ein fertig ausgebildeter Mann der Bühne – aber er hatte den formalen Abschluss wohl nicht. Hier in dieser Stadt beginnt seine letzte Etappe – und diese lässt eine Reihe offener Fragen zurück.

Seine Ausbildung scheint nicht erfolgreich zu laufen. Während der Proben für das Abschlusstück klagt er, jemand würde ihn sabotieren. In der Tat gab es zerstörte Kostüme und Technik. Es steht der Verdacht im Raum, er könne dies selbst getan haben. Schilderungen einer ehemaligen Mitschülerin vermitteln den Eindruck eines Menschens, der sich offenkundig in einer psychischen Krise befunden haben muss. Auch von einem häufig übermäßigen Alkoholkonsum wird berichtet.

Zugleich wird er unnahbar, hält mehr und mehr Abstand zu vormaligen Buddys … und erkennt sich als Trans. Ein Mensch, der auf das Selbstverständlichste mit femininer Körpersprache ein schwul begehrendes Leben führte. Küblböck hatte angefangen, ohne ärztliche Verschreibung und wohl auch ohne psychotherapeutische Begleitung Hormone zu nehmen. Bisherige medizinische Leitlinien einer Geschlechtsangleichung empfehlen jedoch, dass ein solcher Schritt nur unter ärztlicher und psychotherapeutischer Aufsicht erfolgen sollte.

In Berichten nach seinem Tod hieß es, auf Mallorca, wo Küblböck zeitweise lebte, habe ein Arzt eine akute Episode einer schizophrenen Psychose diagnostiziert. Doch das wird in der Doku nicht thematisiert.  Das queeristische Narrativ will Trans ausschließlich als glückliche Zwangsläufigkeit eingeordnet und präsentiert sehen. Entsprechend lässt sich das Interview mit der Transaktivista Mari Günter verstehen, die für den Bundesverband Trans* solche Grundsätze seit Jahren erfolgreich in sozialpädagogischer und psychotherapeutischer Praxis platziert.

Die Kritiken zur Doku in den Medien waren einhellig positiv. Der transaffirmative Umgang mit Küblböcks Biografie wurde nirgends in Frage gestellt. Liest man dieses Filmportrait wie einen Abschiedsfilm, rührt er zu Tränen: Er war offenbar ein freundlicher Mann, der sich nie genug fühlte. Und ich bekenne, ihn gern kennengelernt zu haben. Am 9. September, als er Passagier auf einem Kreuzfahrtschiff nach Nordamerika war, verlor sich seine Spur, als Todesort gibt Wikipedia die Labrador-See an. Sein toter Körper wurde nie gefunden.

In einem Telefonat sagt er dem Angerufenen, wir hören den Mitschnitt: „Hallo, ich bin’s, der Dani, also die Lana eigentlich …“ Ist damit alles klar? Nichts ist am Ende dieser gefälligen Dokumentation wirklich in Sachen Küblböck klar. Fast alle Fragen – offen.


Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.