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Die krude Theorie vom „Homonationalismus“

Oder: Paranoia in der queeren Szene

Hinter dem Begriff des „Homonationalismus“ steht eine nicht durch Empirie gesättigte Vorstellung, Staaten des reichen, kapitalistischen Westens würden mit LGBT-Rechten nur von ihrem Rassismus insbesondere gegenüber Muslimen ablenken. Auch in LGBT-Kreisen gibt es Anhänger*innen dieser Behauptung. Jan Feddersen kommentiert, warum das falsch ist.

Wird hier gerade pinkgewaschen? (Foto von engin akyurt auf Unsplash.)

26. Juli 2024 | Jan Feddersen

In der Siegessäule, der Berliner LGBTIQ*+-Szeneillustrierten der queeren Milieus, erschien Anfang Juni ein beinah klassisch zu nennender Text von Lara Hansen, der diese Frage zu erläutern sucht: „Was ist Homonationalismus?“ Zunächst ließe sich sagen, dass die Vokabel „Homonationalismus“ zu den Kampfbegriffen der queerfeministischen Szene gehört, der auf die Theoretikerin Jasbir Puar zurückgeht.

LGBT-Rechte als Ablenkungsmanöver

Das Wort fußt auf einer Weltanschauung, der zufolge Schwule und Lesben und Trans in Ländern des „kapitalistischen Westens“ nur scheinbar in liberalisierten Verhältnissen leben.  Westliche Nationalstaaten würden LGBT-Rechte ausschließlich zu rassistischen und nationalistischen Zwecken instrumentalisieren, davon würden vor allem „weiße schwule Cis-Männer profitieren“. Cis, es meint auch mich, einen biologischen Mann und Schwulen, der sich gegen jede Idee verwahrte, dass er psychiatrischen oder medizinischen Konversionen unterzogen werden sollte oder könnte. Meine Rechte seien ein bitter erkaufter Trugschluss, denn in den reichen Staaten sei diese Liberalisierung durch Hetze gegen und Diskriminierung von marginalisierten Menschen, insbesondere Migranten, Schwarze Menschen, möglich geworden. Homonationalismus meint also auch eine Kritik an der Zufriedenheit dieser LGBTI*-Szenen mit den erreichten Fortschritten  in diesen Ländern.

Israel sei besonders perfide

Im Hinblick auf Israel sei Homonationalismus ein nachgerade imperialistisches Manöver der Regierung, sich eines „Pinkwashings“ zu bedienen: Mit dem Verweis auf den CSD in Tel Aviv wird kolportiert, dass diese queeren Szenen, die gut gelaunt in Tel Aviv feiern, eigentlich Agentinnen* des israelischen Besatzungsregime seien, um vor aller Welt als liberal dazustehen. Wir Homos als Aushängeschilder, damit die Hamas, die Palästinenser, der Islam weiterhin dämonisiert bleiben.

Wörtlich schreibt Lana Hansen in der Siegessäule:

„Dahinter steckt rassistisches Entweder-oder-Denken: Wer gegen den Islam sei, sei für Homosexuelle und umgekehrt. ‚Dieses Muster sehen wir auch bei uns. Etwa bei der AfD, die sich immer wieder gegen die Ehe für alle ausspricht und gegen Aufklärung zu sexueller Diversität in Schulen. Aber wenn es darum geht, den ‚guten weißen Schwulen‘ vor dem ‚bösen Moslem‘ zu beschützen, dann sind Queers wieder gut genug. Diese instrumentelle Herangehensweise zeichnet den Homonationalismus aus‘, sagt Experte Michael Hunklinger.“

Und:

„Laut Prof* Jin Haritaworn zeigt sich Homonationalismus in eben diesen schein-progressiven Bestrebungen, wie etwa Queers vor Migrant*innen zu schützen. ‚Migrantisierte Menschen werden als homophob, antisemitisch und patriarchal beschrieben – alles Eigenschaften, mit denen die weiße Mitte nichts mehr zu tun haben will‘, schreibt Haritaworn der SIEGESSÄULE.“

Lana Hansen will also sagen: „Schwule Männer und lesbische Frauen erkauften sich ihre Freiheit, indem sie Migrantinnen* verteufeln und den Islam im Besonderen.“

Gewöhnung an LGBT über Jahrzehnte gewachsen

Nichts davon ist wahr. Es handelt sich beim Text von Frau Hansen um ein Dokument schlecht gelaunter Paranoia und antiimperialistisch gesinnter Kraut-und-Rüben-Theorie. Wahr ist, dass die meisten Migrantinnen*, ob aus Afrika, den arabischen Ländern oder Osteuropa, es anfänglich stark irritiert, dass Schwule oder Lesben oder Transmenschen in reichen Ländern wie Deutschland öffentlich auftreten können. Die allermeisten gewöhnen sich aber daran, so wie sich die allermeisten Urdeutschen an uns gewöhnt haben im Laufe der Jahrzehnte.

Wahr ist aber auch, dass in Dresden ein schwules Paar von einem islamistisch gesinnten Asylbewerber angegriffen wurde, mit einem Messer. Einer der beiden Männer kam bei dieser Attacke sogar ums Leben. Der Hinterbliebene verwahrte sich Monate später gegen Initiativen, am Tatort eine Art Mahnmal gegen Homophobie aufzustellen – wichtiger sei, ein Zeichen gegen Islamismus zu setzen, betonte er.

Schwule und Lesben haben sich seit über einem halben Jahrhundert ihre gesellschaftliche Performance, die öffentlich sein kann, hart erkämpft. CSDs trugen das ihre dazu bei. So ging es in allen Ländern, in deren Gesellschaften mehrheitlich die Auffassung gelebt wird, Lesben und Schwule und Trans seien okay. Das sind politische Kampferfolge und keine imperialistischen Strategien, um als Nation besser dazustehen. Niemand stand in den Kommandozentralen und formulierte den Befehl: „Lass die weißen Schwulen ran, damit wir imagemäßig besser dastehen!“

Westliche, liberale Staaten sind Zufluchtsorte

Wahr bleibt ebenso, dass schwule Männer und lesbische Frauen und trans Menschen die Länder mit liberalen Auffassungen aufsuchen, um dort in Ruhe eben schwul oder lesbisch oder sonst wie nicht-heteronormativ zu leben. Wäre Deutschland nur rassistisch oder queerphob käme niemand. Wäre Israel so schlimm, bemühten sich Queers aus Gaza oder der Westbank nicht um Fluchten dorthin. In dem jüdischen Staat sind sie sicher, in Gaza-City nie. So oder so: Lana Hansen scheitert schon empirisch mit ihrem Text, aber Episteln wie die ihrige in der „Siegessäule“ sind in queeren Medien und bestimmten Teilen des Wissenschaftsbetriebs sehr beliebt: Sie bedienen mit einem Grundraunen die Gefühle des Verdachts, dass irgendetwas nicht stimmen könne.

„Homonationalismus“ funktioniert wie in der katholischen Kirche das Wort „Teufel“ oder „Antichrist“ – wird schon was dran sein. Schwule und lesbische Migrantinnen* haben vor allem einen Feind in Deutschland: Die linke Szene, die ihnen einreden will, dass sie nichts gegen den Islam sagen dürfen, weil das angeblich den Rechten dient. Und die eigene Familie, die es gar nicht gern hat, wenn der eigene Filius schwul wird oder die Tochter lesbisch.

Die Vulnerabilität von Migrant*innen durch bürgerrechtlich erstrittene Erfolge für LGBT wird nur behauptet, nicht belegt. Auch die lesbische Parteivorsitzende der in Teilen rechtsextremen AfD, Alice Weidel, taugt nicht als Beleg. Die AfD ist ohne Frage eine schreckliche, furchterregende Partei – beängstigender sind jedoch jene, die die neuen Heimaten der Migras* schlecht reden und suggerieren, in Deutschland sei es fast übler als in Syrien. Da lacht der eben geflüchtete Migra* – und zieht sich von solch‘ dubiosen Theoretikerinnen* eilends zurück.


Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


„Dieses Jahr war mir klar, dass ich beim Dyke March nicht willkommen sein würde.“

Offener Brief einer in Berlin lebenden israelischen Lesbe an das Orga-Team

Foto von Taylor Brandon auf Unsplash

Redaktioneller Vorspann: Die antisemitisch motivierte Aggression gegen eine kleine jüdische Gruppe auf der Soli-Party des Dyke March am 8. Juli 2024 in der „Möbel Olfe“ erschüttert jüdische Queers.  Dieser Vorfall steht jedoch in einer Reihe mit seit dem 7. Oktober 2023 sprunghaft angestiegenen offen bekundeten Antisemitismus – auch in linksprogressiven Kreisen. Nahezu alle größeren queeren Organisationen und Medien schweigen weiterhin zu der bedenklichen Entwicklung, die ebenso in queeren Communities sichtbar wird. Die Initiative Queer Nations will das nicht hinnehmen und dokumentiert deshalb den Offenen Brief von An, einer seit über 10 Jahren in Berlin lebenden israelischen Lesbe. Aus Angst vor Anfeindungen will sie anonym bleiben.


24. Juli 2024 | An

Hallo, Dyke March Team,

mein Name ist An und ich bin eine israelische und jüdische Lesbe, die in Berlin lebt. Ich weiß, dass Ihr vielleicht sagt, dass Euer kleines Team von Freiwilligen kein Interesse oder keine Kapazität hat, sich damit zu befassen, aber ich muss meine Meinung zu Euren jüngsten Aussagen sagen.

Dieses Jahr war mir klar, dass ich beim Dyke March nicht willkommen sein würde. Ihr habt das Thema der diesjährigen Veranstaltung als Widerstand gegen „Siedlerkolonialismus, Völkermord und Apartheid“ beschrieben und mit Wassermelonen und Bildern von der „Möbel Olfe“, wo die Dreiecke auf dem Schild rot eingefärbt waren, weitergeführt. Das rote Dreieck als Symbol für die Unterstützung der Hamas ist seit Monaten höchst umstritten und in Berlin inzwischen verboten.

95 Prozent meiner Familie wurden im Holocaust ausgelöscht, und die verbleibende Handvoll, die nicht ermordet wurde, beschloss 1951, nach Israel zu ziehen, weil Europa nicht sicher war und sie nirgendwo anders hinwollte. Das macht mich also zur Zionistin.

Meine Großeltern waren es gewohnt, Zeichen und Symbole zu sehen, die ihnen sagten, dass Juden nicht willkommen waren, aber wir schreiben das Jahr 2024. Die Hamas hat bei zahlreichen Gelegenheiten gesagt, dass sie den 7. Oktober immer wiederholen wird, wenn sie die Möglichkeit dazu hat.

In Berlin gibt es über 5000 Stolpersteine. Habt Ihr eine Ahnung, wie es sich anfühlt, im Massengrab meines Volkes zu leben und zu sehen, wie diejenigen, die angeblich Verbündete sind, ihre Veranstaltungen mit Symbolen der Judenvernichtung bewerben? Eure Behauptung, gegen Antisemitismus zu sein, ist hohl.

Ich möchte keine Palästinenser töten. Ich wünsche mir keinen weiteren Krieg. Ich bete täglich dafür, dass Netanjahu seinen Sitz aufgibt und dass Israelis und Palästinenser endlich Frieden miteinander schließen.

In Israel leben seit Jahrtausenden immer wieder Juden neben anderen Gruppen, wir sprechen eine semitische Sprache, die Archäologie und unsere DNA verbinden uns mit der Levante. Das ist kein Siedlerkolonialismus. Es gibt 152 Moscheen in Israel, und es gibt arabische Mitglieder der Knesset, so wie es sie seit 1949 immer gegeben hat. Es gibt viel zu verbessern, aber dies ist kein Apartheidstaat. Einer meiner ältesten besten Freunde in Tel Aviv ist ein schwuler Palästinenser, der aus seinem Dorf fliehen musste, um nicht geköpft zu werden. Bis heute lebt er mit seinem israelischen Freund friedlich in Tel Aviv.

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat nicht festgestellt, dass im Gazastreifen ein Völkermord stattfindet, er hat Israel lediglich geraten, sich zu bemühen, einen solchen zu vermeiden, was es auch tun sollte. Welche andere Armee ist verpflichtet, den Feind zu versorgen, der 120 seiner Leute als Geiseln hält und die letzten 17 Jahre damit verbracht hat, zivile Gebiete zu bombardieren? Ich habe unzählige Kriege und zwei Intifada miterlebt. Die meisten von Euch haben noch nie einen Krieg erlebt und behaupten aus der Ferne, sie wüssten es irgendwie besser als der IStGH. Ihr konntet Euch nicht einmal die Mühe machen, die Geiseln in Eurem Beitrag zu erwähnen.

Der Dyke March und viele andere Berliner Institutionen haben beschlossen, mich und andere Israelis, Juden und Verbündete mit diesen falschen Behauptungen auszustoßen, von denen keine notwendig war, um Unterstützung für palästinensische Queers zu zeigen. Aber anscheinend ist der Davidstern jetzt eine Provokation. Und wenn Eure Unterstützer von „Möbel Olfe“ uns physisch einschüchtern und sagen, wir seien „zionistische Schweine“, dann beschwert Ihr Euch, dass Ihr selbst angegriffen werdet. Wenn wir fragen, ob der Marsch für uns sicher sein wird, bezeichnet Ihr das als Manipulation – Eure wahre Antwort ist nur zu deutlich. Er ist nicht sicher für Juden.

Was mich wirklich erstaunt, ist das Ausmaß an Gewalt, das die Queer-Community anderen Queers in diesen Tagen zufügt. Man hat wirklich das Gefühl, dass wir zu Feinden geworden sind. Wir bekämpfen uns gegenseitig, anstatt einen Diskurs zu führen und uns für den Frieden einzusetzen. Die Geschichte war nicht freundlich zu Queers, die Antisemitismus über Verbündet sein stellten, und Ihr habt die Wahl, etwas anderes zu tun, wenn Ihr Euch traut.

Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


„Wir erleben eine Eskalation antisemitischer Vorfälle“

Klaus Lederers Rede vom East Pride Berlin 2024

Der diesjährige East Pride Berlin setzte ein Zeichen gegen Antisemitismus. Auch Klaus Lederer ließ einen Beitrag verlesen. Darin ruft er vor allem auch die gesellschaftliche Linke dazu auf, Antisemitismus entschieden entgegenzutreten. IQN veröffentlicht den Redetext mit freundlicher Genehmigung.

Klaus Lederer, MdA (Foto: Ben Gross)

Redaktionelle Vorbemerkung: Die queere Medienlandschaft sowie viele LGBT-Vereine versagen aktuell darin, einen angemessenen Umgang mit Antisemitismus in den eigenen Communities zu finden. Daher haben wir, die Initiative Queer Nations, es uns zur Aufgabe gemacht, hier verstärkt Impulse zu setzen, um eine notwendige Auseinandersetzung mit diesem Thema anzustoßen. Aus diesem Anlass dokumentieren wir die Rede von Klaus Lederer, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhaus für die Partei „Die Linke“ und ehemaliger Bürgermeister sowie Senator für Kultur und Europa, die er auf dem East Pride Berlin am 29. Juni 2024 in Abwesenheit verlesen ließ.


22. Juli 2024 | Klaus Lederer

Liebe Queers, liebe Anwesende auf diesem EAST PRIDE,

während meiner Zeit als Kultursenator durfte ich in Berlin den israelischen Schriftsteller Amos Oz kennenlernen. Amos Oz hat sich sein Leben lang für eine Zwei-Staaten-Lösung in Nahost eingesetzt. Oz hat auch die Friedensbewegung „Peace Now“ mitbegründet. Unbeirrt warb er für die Suche nach Verständigung und nach Kompromissen als dem einzigen Weg zum Frieden.

Amos Oz schrieb: „Wenn jemand kommt, egal von welcher Seite der israelisch-palästinensischen Barrikaden, und sagt: ‚Das ist mein Land‘ – dann hat er recht. Aber wenn jemand kommt, egal von welcher Seite der Barrikaden und sagt: ‚Dieses Land, vom Mittelmeer bis zum Jordan, gehört mir und nur mir allein‘ – dann riecht er nach Blut.“

Amos Oz ist 2021 verstorben. Heute brüllen Menschen, die sich selbst für Linke halten, Parolen wie „From the River to the Sea“, mit denen sie die Auslöschung des Staates Israel verlangen. Manche tun das vielleicht aus Ignoranz und mangelnder Informiertheit, was im Land der Shoa schlimm genug wäre.

Allzu viele tun das aber leider auch in vollem Bewusstsein dessen, was sie da fordern. Amos Oz hatte Recht: Das riecht nach Blut.

Für mich war es erschütternd, wie schnell hierzulande das Massaker der Hamas auf israelischem Territorium am 7. Oktober verblasst, ja fast schon vergessen war, der größte Massenmord an Jüdinnen*Juden seit der Shoa. Das Schicksal der entführten Geiseln ist in den Hintergrund gerückt. Dass der gesamte Norden Israels seit acht Monaten beschossen wird und evakuiert ist, spielt in der Debatte kaum eine Rolle. Welches Land auf der Welt, wenn es derart massiv angriffen wird, würde sich nicht militärisch zur Wehr setzen?

Ja, der Zweck legitimiert niemals zugleich jedes Mittel. Die Bilder des Krieges aus Gaza und die furchtbare Situation der dortigen Zivilbevölkerung beschäftigen mich ja nicht weniger. Das Ringen um die Sicherheit Israels wird noch dadurch erschwert, dass das Land sich nicht auf seine Regierung verlassen kann. Im Gegenteil, das Bündnis Netanjahus mit Rechtsextremen scheint entschlossen, die ohnehin verzweifelte Lage noch auswegloser zu machen.

Hunderttausende Israelis gehen Woche für Woche gegen diese Regierung auf die Straße – ihnen fühle ich mich verbunden.

Vieles, was sich nach dem 7. Oktober in Deutschland Bahn gebrochen hat, hat aber mit Kritik an israelischem Regierungshandeln nichts zu tun – einer Kritik, die man ohnehin nirgendwo schärfer hört als jeden Tag in Israel selbst. Wir erleben eine Eskalation antisemitischer Vorfälle und Angriffe und Terrorverherrlichung. Die Sicherheit jüdischer Menschen ist massiv bedroht. Wer in Berlin Synagogen angreift, jüdische Menschen feindmarkiert und angreift, ist kein „Israelkritiker“, sondern Antisemit – und zwar in jeder denkbaren Definition des Begriffs.

Ich habe leider den Eindruck, dass auch in den queeren Communities nicht alle begreifen, was das für jüdische Menschen, auch für queere jüdische Menschen, bedeutet und wie sich das anfühlt. Wir müssen in der Lage sein, Antisemitismus klar zu erkennen und ihm zu widersprechen – das muss auch die gesellschaftliche Linke.

„Wenn die Linke die Rückkehr des mörderischen Antisemitismus nicht spürt, ist das ihr Ende“, sagte die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz kürzlich.

Eine Linke, die an Emanzipation festhält, eine Linke, der Freiheit, Gleichheit und Solidarität etwas bedeuten, steht an der Seite der Menschen, die in Israel gegen die Netanjahu-Regierung demonstrieren, und an der Seite jener Palästinenser*innen, die einfach nur in Frieden leben wollen. An der Seite derjenigen, die in Berlin zum Ziel antisemitischer Angriffe werden ebenso wie an der Seite jener, die von rechtskonservativer Seite rassistischem Generalverdacht ausgesetzt werden.

Eine Linke aber, die eine islamofaschistische Mörderbande wie die Hamas nicht von einer Befreiungsbewegung unterscheiden kann, braucht kein Mensch. Das ist dann einfach eine moralische Bankrotterklärung.

Und so sehr auf einen Frieden für Israel und Palästina hingearbeitet werden muss: „Mit jemandem, der einen tot sehen will, kann man nicht versuchen, Frieden zu schließen.“ Das schreibt die Historikerin Fania Oz-Salzberger, die Tochter von Amos Oz, und fährt fort: „Deshalb erhebe ich meine Stimme ausschließlich für diejenigen, deren Ziel ein unabhängiges Palästina und ein sicheres und demokratisches Israel ist, die nebeneinander existieren.“

Das sollte eigentlich – meine ich – ein Mindeststandard sein, auf den sich alle einigen können sollten, denen Leben und Würde aller Menschen etwas bedeutet. Danke, dass ihr heute dafür eintretet, dass die Existenz Israels und seiner Bewohner*innen für Menschen, die sich als progressiv bezeichnen, niemals zur Verhandlung stehen kann.


Klaus Lederer ist Politiker der Partei Die Linke und Mitglied der Fraktion im Abgeordnetenhaus Berlin. Er war von 2016 bis 2023 Bürgermeister von Berlin sowie Senator für Kultur und Europa.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Die Verqueerung des Antisemitismus

Wie eine unwahrscheinliche Allianz zwischen LGBTQ-Studies und Antizionismus die amerikanischen Universitäten erobert hat

Die Verknüpfung von „Queer“ mit Antisemitismus in Form von Antizionismus geht auf postmoderne Akademiker*innen zurück. Die einflussreichste unter ihnen ist die Philosophin Judith Butler. Corinne E. Blackmer ist bereits 2023 der Frage nachgegangen, wie das geschehen konnte und welche Folgen diese Allianz für die Sicherheit von jüdischen Queers hat.

Auch in Deutschland hat die unselige Verquickung von Queer mit Antisemitismus in Form von Israelhass Einzug gehalten. (Linkes Foto vom CSD Freiburg am 22. Juni 2024, gesehen auf X; rechtes Foto zeigt Schmiereien während der Besetzung eines Instituts der Humboldt-Universität Berlin, gesehen auf X.)

Redaktionelle Vorbemerkung: Die US-amerikanische Professorin Corinne E. Blackmer hat bereits im Februar 2023 im jüdischen Online-Magazin „Tablet“ aus erster Hand davon berichtet, in welcher Weise das Klima im akademischen Bereich für jüdische Hochschulangehörige von wachsender Feindseligkeit geprägt ist. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Geisteswissenschaften, bei denen die seit den frühen neunziger Jahren immer einflussreicher werdende Queer Theory mit einer Feindschaft gegenüber Israel verknüpft wurde, insbesondere in Ideen der queeren Ikone Judith Butler. Auch in Deutschland prägen diese Entwicklungen bereits sowohl die akademischen Landschaften als auch den LGBTQ-Aktivismus.  

Das war jedoch nicht alternativlos: Seit 2017 zum Beispiel, warnt ein loses Netzwerk unterschiedlicher Herausgeber*innen und Autor*innen in als „Kreischreihe“ verunglimpften Sammelbänden davor. Zu nennen sind insbesondere die Titel Beißreflexe (2017), Freiheit ist keine Metapher (2018), Zugzwänge (2020), Irrwege (2020) und Siebter Oktober Dreiundzwanzig (2024). Aus emanzipatorisch-bürgerrechtlich orientierter Warte lässt sich feststellen: Man hätte längst Konsequenzen ziehen können, sogar müssen.

Nach dem 7. Oktober 2023 ist Blackmers Essay noch relevanter geworden, daher macht IQN eine deutsche Übersetzung zugänglich.


19. Juli 2024 | Corinne E. Blackmer

Vor einigen Jahren war ich Ziel einer Reihe von antisemitischen, homophoben und antizionistischen Hassverbrechen auf dem Campus der Southern Connecticut State University, wo ich lehre. Abgesehen von den Morddrohungen und der Verunstaltung von Eigentum beunruhigte mich am meisten, dass die Behörden und Kollegen nur den homophoben Teil des Verbrechens anerkannten. Trotz meiner Proteste wurde der Antizionismus weggelassen und der Antisemitismus, der nicht gerade subtil war – etwa ein mit Schlamm auf mein Auto gezeichnetes Hakenkreuz – wurde stark verharmlost. Auf dem College-Campus zählen heutzutage LGBTQ-Belange (ebenso wie rassistische) immer. Antizionismus zählt nie, und Antisemitismus nur, wenn er allein auftritt – nicht in Verbindung mit anderen Formen sozialer Animosität.

Diese Serie von Hassverbrechen gegen mich fand – wie ich finde nicht zufällig – während eines der regelmäßigen Ausbrüche von Feindseligkeiten zwischen Israel und der Hamas in Gaza statt. Einige Tage später wurde meine Bürotür erneut verunstaltet, und es wurden Morddrohungen auf meinem Bürotelefon hinterlassen. Ein mir bekanntes Fakultätsmitglied, das von dem Hassverbrechen auf der Titelseite des New Haven Register gelesen hatte, beeilte sich, mir sein Mitgefühl auszusprechen, und nannte mich das Opfer des „homohassenden Patriarchats“. Ich zuckte zusammen, als mein Kollege mich in einer ideologischen Sprache bedauerte, von der ich wusste, dass sie mich auch auf andere Weise angriff.

Queer Studies und Antisemitismus

Als lesbische zionistische Akademikerin habe ich erlebt, wie meine einst soliden Allianzen zerbrachen und meine geliebten Communities, denen ich mich zugehörig gefühlt habe, in sich bekriegende Lager zerfielen. In den letzten Jahrzehnten, in denen das akademische Feld der Queer Studies sichtbarer und einflussreicher geworden ist, haben einige seiner führenden Vertreter die Idee vertreten, dass die Ablehnung der Existenz Israels eine natürliche Position für Schwule und Lesben ist. Aber natürlich ist es keineswegs offensichtlich, warum die progressiven Akademiker, die ich einst als Verbündete betrachtete und die sich selbst als Verfechter von LGBTQ-Rechten sehen, Israel – das eine hervorragende Bilanz bei den Bürgerrechten für Schwule und Lesben vorweisen kann, die vom Schutz bei der Wohnungssuche und am Arbeitsplatz bis hin zum Adoptions- und Erbrecht reicht – als „heteropatriarchalischen“, homophoben und „homonationalistischen„ Feind von Schwulen und Lesben ansehen.

Die Tatsache, dass der akademische Begriff der Queerness und die Feindschaft gegenüber dem jüdischen Staat heute praktisch gleichbedeutend sind, ist weitgehend das Verdienst einer kleinen Gruppe postmoderner linker Wissenschaftler, deren prominenteste Vertreterin Judith Butler ist. Es lohnt sich daher, die von Butler und anderen aus ihrem Lager vertretenen Ideen und die Auswirkungen, die sie auf die Universitäten und die breitere politische Kultur der Linken hatten, zu untersuchen, um mein eigenes Gefühl der Verwundbarkeit und Isolation zu verstehen.

Liberale Haltung Israels gilt als „Pinkwashing“

Meinen ehemaligen Verbündeten zufolge sollten Israels Schutzmaßnahmen für Schwule, Lesben und Transperson und seine blühende Schwulen- und Lesbenkultur in Städten wie Tel Aviv nicht als positiv betrachtet werden, sondern seien vielmehr ein Beweis dafür, dass das Land sich des „Pinkwashings“ seiner Sünden schuldig macht. Israel gewähre Schwulen und Lesben nur deshalb Rechte, um von der Misshandlung der Palästinenser abzulenken, so die Kritiker. Darüber hinaus behaupten Israels Queer-Kritiker, dass die Anpreisung der liberalen Haltung des Landes zu den Rechten von Schwulen und Lesben eine Form von Rassismus und Islamophobie ist, die dazu dient, Araber als homohassende Barbaren darzustellen. In verblüffendem Gegensatz dazu betrachten dieselben Progressiven die arabischen Länder, die staatlich geförderte, kulturell akzeptierte grausame Strafen für Homosexuelle (lange Gefängnisstrafen, Ehrenmorde oder Todesurteile) verhängen, als subalterne Verbündete.

Als ich meine Kollegen darauf hinwies, dass schwule saudi-arabische Männer tatsächlich ausgepeitscht und iranische Homosexuelle für das „Verbrechen“ der Homosexualität öffentlich an Kränen aufgehängt werden, und Beweise von Menschenrechtsorganisationen vorlegte, wurde ich mit herablassender Geringschätzung behandelt. Meine Kollegen meinten, ich hätte das „zionistische Narrativ“ übernommen – die „pro-westliche, pro-israelische, pro-siedlerkolonialistische und vor allem islamfeindliche Medienpropaganda“, die islamische Länder als barbarisch darstelle.

Westlicher Kolonialismus und arabische Homophobie

Die Reaktionen meiner Kollegen machten mich mit der postfaktischen Alice-im-Wunderland-Mentalität der akademischen Linken vertraut. Erstens war ich islamophob, weil ich es wagte, das Thema anzusprechen, da ich als „kolonisierender Westler“ „kein Recht“ habe, kritisch über islamische Kulturen zu sprechen.

Zweitens wurde mir gesagt, dass die meisten Videos und Fotos, die die Hinrichtungen, Auspeitschungen und andere brutale Bestrafungen zeigen, irgendwie gefälscht oder „Fake News“ seien. Drittens: Angenommen, einige der Darstellungen wären zutreffend, dann seien die Opfer nicht bestraft worden, weil sie schwul waren, sondern weil sie anti-islamische und pro-westliche Kollaborateure gewesen seien, die darauf aus waren, ihre Kulturen zu „korrumpieren“ und zu „zerstören“. Mit anderen Worten: Nach Ansicht dieser aufgeklärten Progressiven hatten sie es verdient.

Viertens, und damit zusammenhängend, wurde mir gesagt, dass die arabischen Länder nur wegen des westlichen Kolonialismus zu Homophobie griffen. Selbst wenn diese Männer gefoltert oder getötet würden, trügen sie also eine Mitschuld, weil sie die Gefahr heraufbeschworen hätten, indem sie „ausländische Moden“ nachgeahmt und sich nach „westlichem Vorbild“ geoutet hätten. Nach dieser quälenden Logik wurden diese Männer, wenn sie sich öffentlich als schwul oder homosexuell zu erkennen gaben, zu Komplizen des westlichen Imperialismus, was wiederum bedeutete, dass sie für ihre eigene Viktimisierung verantwortlich gemacht werden sollten.

Diese bedauerlichen Argumente stammten jedoch nicht von den selbsternannten progressiven Hochschullehrerinnen und -lehrern selbst, mit denen ich diskutierte. Vielmehr stammen diese Argumente aus den Arbeiten von drei populären postmodernen Intellektuellen: Joseph Massad (Columbia University), Jasbir Puar (Rutgers University) und, vor allem, Judith Butler (UC Berkeley). In Desiring Arabs (2007) argumentiert Massad, dass „westliche, männliche, weiß dominierte“ schwule Aktivisten unter der Ägide der „Gay International“ ein „missionarisches“ Unterfangen unternommen hätten, um die binären Kategorien von Heterosexualität und Homosexualität Kulturen aufzuzwingen, in denen solche Subjektivitäten nicht existieren würden. Massad zufolge sei die arabische Welt in Wirklichkeit „geschlechtlich fließend“ und tolerant gegenüber sexuellen Unterschieden, die sich nicht auf westliche Weise ausdrücken würden.

Puar, die antisemitischste und antizionistischste unter ihnen, treibt diese Logik sogar noch weiter und argumentiert in Terrorist Assemblages (2007) und The Right to Maim (2017), dass arabische Queers eine „differenziertere und nuanciertere“ Perspektive auf Sexualität hätten als ihre westlichen Gegenstücke, ganz zu schweigen von einer „gesunden Skepsis“ gegenüber westlichen Identitätsklassifizierungen. In Abwandlung der Pinkwashing-Behauptung argumentiert sie außerdem, dass die israelische Regierung, die pro-natalistisch [Kinderreichtum und damit Bevölkerungswachstum fördernd, Anm. d. Red.] ist, schwulen und lesbischen israelischen Juden nur deshalb Bürgerrechte einräume, weil sie sich als Eltern in das israelische „nationale Projekt“ „einfügen“ und Nachkommen zeugen würden, die Palästinenser verstümmeln oder anderweitig handlungsunfähig machen würden.

Judith Butler als antizionistische Heldin

Die einflussreichste dieser postmodernen Kritiker ist jedoch Judith Butler, eine der Begründerinnen der Queer Studies, die das heute weit verbreitete Konzept entwickelt hat, dass Geschlecht eine „Performance“ ist und dass Individuen ihre Identitäten gegen einen natürlichen Zustand der „Gender-Fluidität“ aufführen. Butler steht seit der Veröffentlichung von Gender Trouble (1990) an der Spitze der Queer und Gender Studies: Feminism and the Subversion of Identity (Feminismus und die Subversion der Identität), dass ihr eine akademische Position in Berkeley einbrachte. In den folgenden Jahren wurde Butler zu einer der wenigen echten Berühmtheiten der postmodernen akademischen Linken und zu einer Art Heldin für die kleine Clique antizionistischer Juden in Amerika, die einen übergroßen Einfluss in der akademischen und medialen Landschaft ausüben.

In Gender Trouble, ihrem bekanntesten Buch, lehnt Butler die Vorstellung ab, dass es zwei biologische Geschlechter gibt. Vielmehr definiert sie Geschlecht und Sex als „essentialistische“ (ein schmutziges Wort) Konzepte, die den Menschen aufgezwungen werden, die in Wirklichkeit „geschlechtlich fluide“ sind. Butler betrachtet also Sex und Gender als sozial konstruierte Vorstellungen. Menschen, die sich selbst als heterosexuell bezeichnen,  würden fälschlicherweise glauben, dass ihr Verhalten eine zugrundeliegende Wahrheit widerspiegele, und engagieren sich daher in erzwungenen Gender-Performances, die aus den Gesten, der Sprache und den sozialen Zeichen bestünden, die üblicherweise mit „Männlichkeit“ oder „Weiblichkeit“ assoziiert werden. Durch unzählige Institutionen  hätten sie solche performativen Illusionen durchgesetzt, als wären sie in irgendeinem grundlegenden, vorbewussten oder biologischen Sinne real. Heteronormative Menschen erniedrigen oder bestrafen Leistungen außerhalb dieser kontrollierten Grenzen als unnatürlich, pervers, unmoralisch oder minderwertig.

Solche Argumente liegen Butlers Kampf gegen die Heteronormativität zugrunde. Wie andere Postmodernisten überschätzt sie jedoch die Rolle der Sprache bei der Gestaltung des menschlichen Realitätssinns. Dieselben problematischen Behauptungen über die übermäßige Macht der Sprache spielen schließlich eine entscheidende Rolle in ihrem leidenschaftlich antizionistischen Werk, Parting Ways: Jewishness and the Critique of Zionism (2014), wo sie (wie Puar) locker und erfinderisch mit den Fakten umgeht.

Ein Beispiel dafür sind die Kommentare, die Butler 2006 während eines Teach-In in Berkeley zum Krieg zwischen Israel und der Hisbollah machte. Butler wurde gefragt, ob das Zögern der Linken, terroristische Gruppen aufgrund ihrer Gewaltanwendung zu unterstützen, der palästinensischen Solidarität schade. Hier war ihre Antwort: „Es ist äußerst wichtig, die Hamas und die Hisbollah als soziale Bewegungen zu verstehen, die progressiv sind, die zur Linken gehören, die Teil einer globalen Linken sind.“ Sowohl die Hisbollah als auch die Hamas sind explizit fundamentalistische, religiöse Organisationen mit Satzungen, die – gelinde gesagt – reaktionär sind, was ihre Haltung gegenüber Frauen, Schwulen, Lesben und religiösen Minderheiten angeht. Dennoch erklärt Butler sie selbstbewusst zu einem Teil der Linken, als ob diese Aussage wichtiger wäre als die materiellen Realitäten des Lebens unter der Herrschaft von Hamas und Hisbollah.

Ablehnung des Nationalstaats als Butlers Ethik

Um die Absurdität noch zu vertiefen, behauptet Butler, sie sei gegen den jüdischen Staat, weil sie einer persönlich erfundenen Tradition der jüdischen Ethik anhänge, die nicht nur „staatlich geförderte Gewalt“ ablehne, sondern auch den Juden auftrage, als wohlwollende „Mitbewohner“ mit den Anderen zu leben. Nach der jüdischen ethischen „Tradition“, die Butler in ihrem intellektuellen Mixmaster spinnt, sollten Juden auf einen eigenen Nationalstaat verzichten, um die Anderen nicht zu marginalisieren – gemeint sind die Palästinenser, die angeblich einheimische Bewohner sind, die vom jüdischen „Siedlerkolonialismus“ vertrieben worden seien.

Obwohl Butler selbst in einem Nationalstaat lebt, der indigene Völker ausgerottet und vertrieben hat, besteht sie darauf, dass die Juden die Spule der Geschichte abwickeln und ihren Staat auflösen, den sie als ein irriges Projekt interpretiert, das auf einer Fehlinterpretation der Lehren des europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts und des Holocausts beruht. Obwohl sie es nie ausspricht, deutet Butler an, dass Juden als Reaktion auf den Holocaust die schreckliche Natur aller Nationalstaaten anerkennen müssen und dass sie trotz ihrer historischen Erfahrungen mit Verfolgung und Massenvernichtung die Chance ergreifen sollten, in anderen Staaten zu leben. Im Gegensatz zu Butler sind die meisten Juden der Meinung, dass eine eigene, unvollkommene Heimat bei weitem vorzuziehen ist.

Anstelle einer jüdischen Heimat plädiert Butler für einen einzigen „Staat“, der das Rückkehrrecht für Juden aufheben, die derzeitigen Grenzen auflösen und die Institutionen und Symbole der jüdischen Souveränität beseitigen würde. Juden würden „palästinensische Identitäten“ in ihre eigene „Persönlichkeits-Identität“ integrieren. Was Butler damit genau meint, bleibt quälend und vielleicht absichtlich vage, denn dieses Konzept ist phantasmatisch. Es ist unklar, wie dieses Schema in einem tatsächlichen politischen Rahmen funktionieren würde oder wie solche Menschen tragfähige Formen des institutionellen, wirtschaftlichen oder sozialen Austauschs bilden würden. Wenn man der Geschichte und der Geopolitik des Nahen Ostens Glauben schenken darf, würde sich die Situation in einem binationalen „Staat“ schnell in Chaos und Zerstörung auflösen. Der Libanon an der Nordgrenze Israels ist ein nützliches Beispiel für Menschen, die tatsächlich in diesem Teil der Welt leben, auch wenn es für Butler von ihrem Büro in Kalifornien aus schwer sein mag, die Tatsachen vor Ort zu sehen.

Butler behauptet, dass sie den jüdischen Staat ablehnt, weil sie sich ihrer persönlich erfundenen Tradition der jüdischen Ethik verpflichtet fühlt.

Trotz dieser und anderer fataler Probleme mit ihrer binationalistischen (oder bi-ethnischen) Fantasie-Fiktion werden ihre Ideen von einem akademischen Publikum, das weit entfernt von den Realitäten und Komplexitäten des israelisch-palästinensischen Konflikts lebt, mit begeisterter Dankbarkeit aufgenommen. Endlich eine ideale Lösung für ein unlösbares Problem, die den „viktimisierten Anderen“ privilegiert und die Juden in ihre traditionelle „ethische“ (wenn auch marginalisierte) Position als entmachtete (wenn auch unverzichtbare) „Mittelsmänner“ zurückführt. Und da eine weltberühmte Jüdin diesen Plan unterstützt, kann er unmöglich antisemitisch sein. Trotz ihrer Einwände gegen das Konzept der Authentizität spielt Butler die Rolle des „tugendhaften Juden“ für ihr Publikum.

Woke Kälte gegenüber Juden

Und das mit Erfolg, muss man sagen. An den Universitäten werden Butlers Doktrinen heute wie religiöse Dogmen wiederholt. Gelegentlich wird über ihre undurchschaubare Prosa gewitzelt oder über ihre intellektuellen und ethischen Missgeschicke geflüstert, aber meistens wird sie als eine Ikone des jüdischen Intellekts und des Queerismus verehrt. Ihr Kanon ist in den Geisteswissenschaften und zunehmend auch in den Sozialwissenschaften so mächtig geworden, dass er die akademische Freiheit und intellektuelle Innovation bedroht. Wie ich beobachtet habe und mir gesagt wurde, werden Doktoranden, insbesondere jüdische, regelmäßig von „woke“-Professoren mit Sprüchen über Juden (und Israelis) konfrontiert, die sie bei anderen Minderheiten nie in Erwägung ziehen würden. Diejenigen, die gegen die Ausgrenzung und Dämonisierung Israels Einspruch erheben, werden oft kalt behandelt, erhalten schlechte Noten oder bekommen keine Empfehlungsschreiben, wenn ihre Identität oder Verbundenheit bekannt wird. Jüdische Studenten werden in den Büros ihrer Professoren und Lehrbeauftragten mit Plakaten mit der Aufschrift „END THE OCCUPATION OF PALESTINE“ oder mit Karten, die Israel ausradieren, angegriffen.

Dies ist auch nicht auf den Universitätscampus beschränkt. Lesbenmärsche in Chicago, Washington, D.C., und anderen Städten im ganzen Land haben die israelische Flagge aus ihren Paraden verbannt mit der Begründung, dass es sich um antizionistische Veranstaltungen handelt und das Zeigen des jüdischen Davidsterns „die Menschen verunsichern könnte“.

Jüdische und zionistische Verbündete erhalten die Botschaft, dass sie verachtet und unerwünscht sind. In Studiengängen für Queer Studies und Women‘s Studies wird das Thema Palästina regelmäßig in die unwahrscheinlichsten Zusammenhänge eingefügt, und zwar so sehr, dass mir eine Studentin in einem Kurs über queere Geschichte erzählte, dass sie nichts anderes als Palästina diskutierten. Die bittere Ironie besteht darin, dass die Ausgrenzung und Marginalisierung von Juden im Namen einer postmodernen Ideologie der Queerness dazu führt, dass queere Menschen weniger sicher sind. Ich muss es wissen: Ich bin eine von ihnen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in englischer Sprache am 3. Februar 2023 im Magazin „Tablet” unter tabletmag.com und wird mit freundlicher Genehmigung veröffentlicht.


Corinne E. Blackmer unterrichtet Englisch und ist Leiterin der Judaic Studies an der Southern Connecticut State University. Ihre jüngste Veröffentlichung ist Queering Anti-Zionism: Academic Freedom, LGBTQ Intellectuals, and Israel/Palestine Campus Activism (2022).


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Verfolgung von Schwulen, Lesben und Transgender in Gaza und dem Westjordanland stoppen

Die Initiative Queer Nations hat sich dem Aufruf angeschlossen, der den Schutz von LGBT in Gaza und dem Westjordanland fordert und sich zugleich von terrorverharmlosender, israelhassender Hamas-Propaganda distanziert, wie sie von den sogenannten „Queers for Palestine“ verbreitet wird. Wir dokumentieren den Aufruf mit Erstunterzeichner*innen in unserem Blog.

Bild von freepik

19. Juli 2024 | Redaktion

Der Angriff der Terrororganisation Hamas auf friedliche feiernde Menschen hat uns zutiefst erschüttert. Nichts kann diese Gewalt rechtfertigen.

Uns empört, dass in der öffentlichen Debatte über den von der Hamas ausgelösten Krieg die Lage von Schwulen, Lesben und Transgender völlig aus dem Blick geraten ist. In Palästina ist die Situation für Schwule, Lesben und Transgender bedrückend, die Region belegt weltweit einen der letzten Plätze bei den Menschenrechten von Schwulen, Lesben und Transgender. Es ist völlig undenkbar, sich in Gaza mit der Regenbogenflagge zu zeigen. Immer wieder wird von abscheulichen Morden berichtet. Wer überleben möchte, muss sich besonders in Gaza verstecken.

Deswegen rufen wir die Bundesregierung dazu auf, den Schutz des Lebens von Schwulen, Lesben und Transgender zu einem Teil der möglichen Friedenslösung für Gaza nach der Entmächtigung der Hamas zu machen. Die brutale Verfolgung und Ermordung von Schwulen, Lesben und Transgender unter dem Regime der Hamas muss gestoppt werden.

Israel dagegen ist Schutzmacht, Anziehungspunkt und Zufluchtsort für Schwule, Lesben und Transgender, auch und gerade aus Palästina, auch wenn dies durch den Krieg weiter erschwert wird. Die Möglichkeit, in Israel offen und selbstbestimmt zu leben, ist in der ganzen Region einzigartig. Der Hass der Hamas auf Israel richtet sich auch gegen diese Diversität und damit direkt gegen uns. Deswegen sind wir der Meinung, dass jegliche Tolerierung der Hamas und jegliche Relativierung der Menschenrechtsverletzungen in Gaza und dem Westjordanland in unserer Community nichts verloren haben.

Der Aufruf als Google Doc


Erstunterzeichnerinnen und -unterzeichner:

  1. Aaron Knappstein 
  2. Anastasia Sudzilovskaya
  3. Andre Lehmann Aktivist, Volkswirt und stellv. Bundesvorsitzender der Liberalen Schwulen, Lesben, Bi, Trans und Queer
  4. André Schmitz    , Staatssekretär für Kultur des Landes Berlin a.D.
  5. Anette Detering    
  6. Angelika Thaysen
  7. Anton Kotelnikov
  8. Arceny Dimant
  9. Axel Hochrein    
  10. Bastian Finke    
  11. Candy Spilski
  12. Christa Arnet
  13. Claus  Vinçon    
  14. Cornelia Jönsson    
  15. Dirk Braitschink, LSU Bundesvorstand
  16. Dirk Schönhoff    
  17. Dirk Sprengler
  18. Dr. Alexander Zinn    
  19. Dr. Bertold Höcker, Superintendent i.R.
  20. Dr. Christian Messer    
  21. Dr. Thomas Welter    
  22. Dr. Torsten Flüh    
  23. Erik Jödicke, LGBTIQ*Aktivist
  24. Frank Sarfeld
  25. Frank Wilde
  26. Fritz Ey
  27. Gero Dimter
  28. Halina Bendkowski
  29. Heinz-Dieter Suerth
  30. Helmut Metzner
  31. Henny Engels    
  32. Hugo Winkels    
  33. Ingo Rose    
  34. Jan Feddersen    
  35. Jens Meyer    
  36. Johannes Kram, Autor    
  37. Jörg Höhn    
  38. Jörg Marius Ebel,
  39. Jörg Noll
  40. Jörg Steinert
  41. Katharina Kaden
  42. Kathrin Schultz
  43. Kim  Robin Stoller    
  44. Klaus Jetz    
  45. Konstantin Sherstyuk (WostoQ-Regenbogen e.V.)
  46. Lala Süsskind, Solidarisch gegen Hass
  47. Luke Niederer
  48. Mari Günther    
  49. Marius Niespor
  50. Marko Martin, Schriftsteller/Berlin
  51. Mark Stanitzki
  52. Martina Kapuschinski
  53. Martin Niewendick    
  54. Max B. Schlüter, Rechtsanwalt
  55. Max Lucks MdB, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss
  56. Michael Roth MdB, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages 
  57. Monica Wüllner
  58. Petra Merkel, ehem. MdB    
  59. Pieke Biermann    
  60. Prof. Dr. Claudius Ohder
  61. Prof. Dr. Höppe Henning
  62. Prof. Dr. Torsten F. Barthel, LL.M., Rechtsanwalt
  63. Rafael Galejew
  64. Reinhard Thole
  65. Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages a. D.
  66. Seyran Ateş, Rechtsanwältin, Autorin und Frauenrechtlerin
  67. Sophia Dallwitz
  68. Stefan Hensel    
  69. Stefan Ide, 1. Vors. Dt. Gesellschaft f. Körperpsychotherapie
  70. Stefan Meinke    
  71. Stephan Runge    
  72. Susanne Bischoff
  73. Thorsten Manske
  74. Till Randolf Amelung, Publizist und Veranstaltungsmanager
  75. Ulf Plessentin
  76. Uwe Schummer
  77. Vivian Kanner    
  78. Volker Beck
  79. Wiebke Hoogklimmer, Sängerin und Produzentin
  80. Wolfgang Beyer
  81. Wolfgang Erichson, Bürgermeister Heidelberg a.D. 
  82. Florian Greller, Just Gay Germany
  83. Jens Spahn, MdB, CDU, Bundesgesundheitsminister a.D.

Was ist eine gute Lesbe?

Emily Lau würdigt lesbische Beiträge im Jahrbuch Sexualitäten 2024

Am 5. Juli wurde das Jahrbuch Sexualitäten 2024 in der taz Kantine präsentiert. Emily Lau, eine „junge Lesbe alter Schule“, wie sie sich selbst nennt, hat alle lesbischen Beiträge im Jahrbuch gelesen und stellt sie uns vor. Wir dokumentieren ihre Rede zum Nachlesen im Blog.

Die Reiseanbieterin für lesbische Kreuzfahrten, Olivia Travel (Foto: Screenshot)

17. Juli 2024 | Emily Lau

Ich darf heute Patin der lesbischen Fraktion des diesjährigen Jahrbuchs sein und wir gehen wie immer direkt ans Eingemachte bzw. in Lesbias Res

Waren Sie schon mal in einem „SLINTA Darkroom“? Nein? Die Queer Lecture im diesjährigen Jahrbuch Sexualitäten von Chantalle El Helou erspart Ihnen diesen Gang.  Das „S“ in SLINTA ersetzt das „F“ im herkömmlichen FLINTA. „F“ stand dabei für „Frauen“. „S“ steht nun für „sapphisch“, was so viel heißen soll, wie sich unabhängig vom eigenen Geschlecht zu irgendeiner wabernden Weiblichkeit hingezogen fühlen. Der Tausch dieser Buchstaben ist für die Autorin symptomatisch für das queersexistische Fundament, das diesen erst herbeiführen konnte.

Queerer Sexismus

In der Lecture geht es der Politikwissenschaftlerin Chantalle El Helou darum, zu erörtern, warum Lesben eigentlich nicht viel von “queer” zu erwarten haben. Lesben – damit sind Frauen gemeint, die andere Frauen begehren. Und wir reden hier nicht von der Idee einer Frau, sondern von einer faktischen Frau mit all ihren herkömmlichen Erhebungen und Vertiefungen. Aber vom eigenen Geschlecht aus soll man niemanden begehren. Es soll maximal von der eigenen Identität aus passieren.

„How to sapphisch lieben“ nach Butler und Sabine Hark? Oder was ist eine gute Lesbe? Die Queertheoretiker*innen wissen, dass die Frau nur in der heterosexuellen Matrix, als das sich zum Mann konstituierende Andere existiert. Dadurch wird der Lesbe bei Butler zugeschrieben jenseits der Kategorie des Geschlechts zu stehen. Allein weil sie die Heterosexualität ablehnt, stelle sie sowohl das anatomische Geschlecht als auch die Geschlechtsidentität radikal in Frage. Butler entlarvt sich an dieser Stelle als höchst unbewandert in echtem Sapphismus. Ließe man sie einmal in den Kopf einer TÜV-geprüften Lesbe gucken, wüsste sie, wie affirmativ repräsentiert dort gerade die knallharte Anatomie ist. Kfz-Werkstätten und Butch-lesbische Sexualität sind übrigens auch gar nicht so weit voneinander entfernt. Aber dazu ein anderes Mal mehr.

Jedenfalls schlafen nach Butler die Lesben nicht mit dem Körper einer Frau, sondern maximal noch mit dekonstruierten Einzelteilen. Also wer da nicht direkt Lust bekommt. Und das alles täten sie selbstlos im Namen der großen Mission, also der Unterwanderung der Heteronorm – immer schön solidarisch bleiben.

Emily Lau spricht auf der Release-Party am 5. Juli 2024

Sexualität wird auf Identität reduziert

Echtes Lesbischsein ist damit nach Butler und Hark noch viel schlimmer als Hetentum. Heten tun wenigstens nicht, als seien sie subversiv. Eine gute queere Lesbe muss sich offen halten so ziemlich alles zu repräsentieren. Lesbischsein muss also eine Frage bleiben. Das, so stellt El Helou so treffend heraus, ist das Gegenteil von Selbstbehauptung und Selbstbewusstsein. Die Gebungsart, die queer von Lesben verlangt ist übrigens eine herkömmlich weibliche, die die langjährig unsichtbaren und unsicheren Lesben dahin zurückdrängt, wo sie hergekommen waren. Nämlich zurück in den Closet. Denn queertheoretische Überlegungen legen nahe, dass Sexualität nur noch als Identität und damit als selbstversichernde Herrschaft über den anderen denkbar ist. Dadurch erscheinen exklusiv lesbische Räume – Räume der weiblichen Körper, Räume, in denen, wie El Helou sagt, die Sexualität in Homosexualität hervorgehoben ist – als Bedrohung. Sexualität ist als Mittel der Dekonstruktion erlaubt. Rein genital ist sie ausgrenzend und machthaberisch. Diese feine, hier nur angerissene Analyse von Chantalle El Helou lohnt sich sehr, da es eine Kritik an Butler durch Butler ist.

Es gilt, letzten Endes, als exkludierend und „-phob“, wenn man darauf verzichtet sich Penisträger*innen ins Bett zu holen, obwohl es, lassen Sie uns lesbisch ehrlich, ehrlich lesbisch oder wie es im englischen heißt lesbi-honest, es sich um exakt das Accessoire handelt, das in der Begehrenslogik weiblicher Homosexualität nichts zu suchen hat.

Solltet ihr also eingeladen werden zu einem „SLINTA-FLINTA-Abend“, hier ein paar Trigger-Warnings, die sich aus der Erfahrung von Chantalle El Helou ergeben: Es erwartet euch ein sich als hypersexuell befreit gebender Raum, mit Emo-Runden voller Pflicht- und Schuldbewusstsein bezüglich der eigenen so schrecklich mächtigen Triebstruktur sowie intersektionale Masturbationsrunden, die sich letztlich um einen erigierten Phallus versammeln. Also ich glaube, ich habe an dem Abend schon was vor…

Luise F. Pusch und ihr schwerer Weg zum Coming-out

So, da wir eben die Gegenwart ein wenig aufgeräumt haben, können wir uns jetzt getrost einem Stückchen lesbischer Geschichte widmen.

Luise Pusch, Urmutter der feministischen Linguistik und Erfinderin der Gender-Pause, erzählt im Interview mit Jan Feddersen davon, was es bedeutet als junge Lesbe der 50er Jahre bis zu 25 Jahren in Unsichtbarkeit gelebt zu haben. Wenn sie da so drüber spricht, klingt es wie eine unerträgliche und prägende Zeit, in der man sich an die wenigen Überlebenshilfen klammert, die man findet.

Für Luise Pusch war es zum Beispiel “Frauen in Uniform” – ein Film mit Romy Schneider und Lilli Palmer. Überlebenshilfen gab es in den homophoben Jahren der 50er-80er in Deutschland jedoch nicht für alle. Sonja, Die damalige Partnerin von Luise Pusch beging Suizid. Dieser Schlag brachte Pusch dazu, Sonjas und ihre tragische Lebens- und Liebesgeschichte und damit die Geschichte von vielen der unsichtbaren Lesben aufzuschreiben. Das Buch brachte sie 1981, 5 Jahre nach Sonjas Tod, unter dem Pseudonym  Judith Offenbach heraus. Zunächst so, da sie um ihre wissenschaftliche Karriere fürchtete. Zwei Jahrzehnte später erst, gab es eine Neuauflage unter Klarnamen. Mit “Sonja” stellte Luise Pusch ihrer lesbischen und schwulen Nachwelt nun die Überlebenshilfe, die sie damals vielleicht selbst gebraucht hätte. Das Ganze ist so schmerzlich wie ermutigend.

Luise Puschs langes Leben im Versteck mag dazu beigetragen haben, aus der Not eine Tugend zu machen. Ihr ganzes Leben widmet sie bis heute dem Kampf der Sichtbarmachung von Frauen. Frauen sollten nicht mehr im generischen Maskulinum begraben werden und die Rhetorik ist, wie wir wissen, keineswegs übertrieben und keineswegs nur eine Metapher. Also wer mehr von dieser Pionierin im lebhaften und detailgenauen Gespräch mit Jan Feddersen hören möchte, darf sich das neue Jahrbuch nicht entgehen lassen!

Emanzipation in den feministisch bewegten 70er Jahren

Und alle, die sich innerhalb der letzten Minuten in Luise Pusch schockverliebt haben, die muss ich leider enttäuschen. Denn wie der im Jahrbuch anschließende Beitrag auf schicksalshafteste Art darlegt, ist sie glücklich und vergeben. Der Beitrag ist nämlich von Luise Puschs Ehefrau Joey Horsley. Er trägt den Namen „Unchained Melody“. Ein Lied, Sie alle kennen es, das von einsamen Flüssen und hungrigem Warten handelt.

In ihrem Beitrag erzählt uns Joey Horsley, Professorin für Germanistik und Women’s Studies, von ihren Jahren als jungenhaftes Kind, ihrer Pubertät und Collegezeit, in der sie zur gesellschaftlich anerkannten heterosexuellen Frau “avancierte” und schließlich ihrer Ehe mit Don. Und nein, Don war nicht der Kose-Name ihrer Butch-Ex-Wife. Sie heiratete einen Mann nach dem College, denn ihre Heterosexualität hatte sie nie hinterfragt. Joey Horsley berichtet davon, dass sie zwar nicht unglücklich war, aber die ganze Sache mit der Ehe und den Kindern eher als engagiert angegangenes Gruppenarbeitsprojekt gesehen wurde.

Dann kam mit den 70er Jahren plötzlich die feministische Welle, die Joey Horsley mitriss und ihren einsamen Fluss in die offenen Arme des lesbischen Meeres trieb. Sie war plötzlich so inspiriert von den Frauen, dass sie in ihren Vorlesungen glühend die Gedichte von Sappho vortrug. Sie wusste es selbst noch nicht, aber einige ihrer lesbischen Studentinnen nickten sich bereits wissend zu.

Ich will das Kennenlernen von Joey und Luise jetzt nicht komplett vorwegnehmen. Nur das möchte ich noch gesagt haben: es muss sich angefühlt haben wie ein Epochensprung. Joey Horsley wollte Luise Pusch nämlich als Gastautorin für ihre Konferenz in Boston beherbergen. Sie holte sie am Bahnhof ab, sah sie und fragte vorsichtig: „Warten Sie auf jemanden?“ Und Luise Pusch antwortete: „Ich warte auf Joey Horsley!“ Einen Satz, den beide heute noch gerne wiederholen, als erstes Zeichen für ihre gemeinsame Vorherbestimmtheit.

Lesbische Kreuzfahrt als Fotoromanza

Der letzte Beitrag, sozusagen das Grand Lesbian Finale im neuen Jahrbuch, erscheint in Form einer Fotoromanza. Es geht um eine lesbische Kreuzfahrt! Das Motto der einsamen Flüsse zieht sich also durch! Wenn die Lesben schon keine herkömmlichen Cruising Areas wie die Schwulen für sich beanspruchen können, dann sollen sie doch wenigstens über den Ozean cruisen dürfen. Allein das Gleiten auf den Wellen lässt sich hier schon als lesbisches Fundament der Reise verstehen.

In diesem außergewöhnlichen Beitrag des Jahrbuchs beschreibt Wiebke Hoogklimmer, eine deutsche Altistin und Musiktheaterregisseurin, ihre Reise mit “Olivia Travel”, einem Reiseunternehmen, das Kreuzfahrten anbietet, die sexclusiv lesbisch sind. Man merkt dem Stück an, wie erleichternd und gut es sich angefühlt haben muss einfach nur unter sich gewesen zu sein, nicht das kleine Schwarze zum Dinner tragen zu müssen und niemanden durch das eigene Auftreten zu irritieren, sondern sogar zu begeistern.  Also ich wünsche allen Lesben aber auch den SBTIQ + FLINTAs und ja, auch den SLINTAS da draußen, dass wir so etwas wie „Olivia Cruise“ entweder mal live erleben oder zumindest als Geisteszustand in unser Leben integrieren!

Denn was durch diese Kreuzfahrt ganz klar wird und im Grunde all die lesbischen Texte des Jahrbuchs eint, ist, dass lesbische Freizügigkeit keineswegs eine Selbstverständlichkeit war und ist. Daher: lasst uns unverschämt und zusammen dafür einstehen! Und damit wünsche ich euch einen Happy Pride. Wir sehen uns beim Dyke-March!

Emily Laus Rede auf YouTube anschauen:


Emily Lau studierte im Bachelor Psychologie, im Oktober 2024 wird sie ihr Masterstudium am Zentrum für interdisziplinäre Antisemitismusforschung der TU Berlin beginnen. Sie schrieb bereits im „Zeit Magazin“ zu queeraktivistischen Belangen und war für das Jahrbuch Sexualitäten auch 2022 schon als Erstleserin unterwegs.


Jahrbuch Sexualitäten 2024

Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen.

Mit Beiträgen von Marko Martin, Thomas Großbölting, Vojin Saša Vukadinović, Blake Smith, Tae Ho Kim, Björn Koll, Martina Lenzen-Schulte, Chantalle El Helou, Aaron Gebler, Sigi Lieb, Joey Horsley, Luise F. Pusch, Jan Feddersen, Clemens Schneider, Manuel Schubert, Meike Lauggas, Michael Wunder, Till Randolf Amelung, Adrian Daub, Marion Hulverscheidt, Wiebke Hoogklimmer, Richard F. Wetzell, Thomas Weber, Norbert Finzsch, Norman Domeier und Ketil Slagstad.

294 S., 22 z.T. farb. Abb., geb., Schutzumschlag, 15 x 22,3 cm, ISBN 978-3-8353-5725-9

Preis: € 34,00 (D) / € 35,00 (A)

Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Queeres Netzwerken

CSD Berlin e.V. lädt Aktive zu einem Vernetzungstreffen ein

Der CSD Berlin e.V hat Vertreter*innen anderer queeren Initiativen aus dem ganzen Bundesgebiet zuerst zu einem Vernetzungstreffen und anschließend zu einem Parlamentarischen Abend nach Berlin eingeladen. Auch die Initiative Queer Nations e.V. war dabei.

Einer Einladung nach Berlin kann man nicht widerstehen! (Foto von Florian Wehde auf Unsplash.)

15. Juli 2024 | Till Randolf Amelung

Am vergangenen Freitag lud der CSD Berlin e.V., der Trägerverein der großen Pride-Demo, Vertreter*innen anderer queeren Initiativen sowie engagierte Einzelpersonen aus dem ganzen Bundesgebiet zuerst zu einem Vernetzungstreffen und anschließend zu einem Parlamentarischen Abend in das Berliner Büro des Konzerns „Microsoft“.

Diese Veranstaltungen unter dem Titel „Starkes queeres Netzwerk Deutschland!“ sind Teil der ausgewählten programmatischen Schwerpunkte des diesjährigen Pride Month Berlin, der mit einem vierwöchigen, abwechslungsreichen Programm das Vorspiel zur Parade am 27. Juli ist. „Deutschland rückt nach rechts. Wie können wir ein gemeinsames gefestigtes Netzwerk aufbauen, um dieser Entwicklung zu begegnen?“ so die Zielbeschreibung des Veranstalters.

Umstrittener Gastgeber

Der Autor dieses Text links unten von hinten fotografiert beim Parlamentarischen Abend im Publikum sitzend
Der Autor dieses Text links unten von hinten fotografiert beim Parlamentarischen Abend (Foto: CSD Berlin e.V. auf Facebook)

Der Gastgeber CSD Berlin e.V. ist seinerseits nicht unumstritten, in den vergangenen Jahren waren immer wieder Kontroversen zu diesem Verein publik geworden. 2023 gab es beispielsweise Berichte um finanzielle Unstimmigkeiten. Vor allem aber wird dem Verein seit Jahren vorgeworfen, zu weiß, cis, Mainstream und unpolitisch zu sein, also nicht den Vorstellungen einer radikalen queer-intersektional-ideologischen Bubble zu entsprechen. Umso interessanter, sich vor Ort ein Bild zu machen, wer diese Einladung annehmen wird. Kann überhaupt eine Initiative oder ein Verein von sich behaupten, für alle zu sprechen, die mit „LGBTI“ oder „Queer“ assoziiert sind?

Der Nachmittagsteil sollte verschiedene Aktivist*innen zusammen ins Gespräch bringen und bestand thematisch aus zwei Blöcken: „Starkes queeres Netzwerk Deutschland“ und „Ostdeutschland“. Geschätzt 50 Teilnehmende kamen an diesem Nachmittag zusammen, unter ihnen viele Schwule. Auch Transpersonen und sich als nichtbinär verstehende Personen waren in bemerkenswerte Zahl dabei, jedoch im Verhältnis dazu recht wenig Lesben.

Inklusion und Diversity

Im ersten Block tauschten sich die Teilnehmenden in wechselnden Kleingruppen darüber aus, wie es um ein derzeitiges Netzwerk steht und wie inklusiv/divers die eigenen Vereine sind, was man für Diversifikation tun könnte. Ebenso, wie man mit Menschen umgehen möge, die eine andere als die in diesen Gruppen übliche Meinung haben. Danach ging es mit einer Paneldiskussion zur Situation in Ostdeutschland weiter, darüber, wie man queere Menschen dort unterstützen könnte. Moderiert wurden alle Nachmittags-Teile vom Journalisten Chiponda Chimbelu, der für die „Deutsche Welle“ arbeitet.

Hier offenbarte sich der aktuelle Zustand dessen, was man „Community“ nennt. Konkrete Streitthemen wurden vermieden – zum Beispiel ein immer offensichtlicher werdendes Antisemitismusproblem in queeren Kreisen sowie Interessenskonflikte zwischen transaktivistischen Forderungen und Frauen.

Diskussionen führten so selten über Allgemeinplätze hinaus, denn wer will schon grundsätzlich gegen Inklusion und Diversität sein? Auch die identitätspolitischen queer-intersektionalen Phrasen sitzen: Mehrfach war zu hören, man müsse erstmal die eigenen Privilegien checken, sie gar abgeben.

In den Plenumsdiskussionen war es einem Transmann gleich zweimal wichtig zu schimpfen, dass doch gerade weiße schwule Cis-Männer am privilegiertesten seien. Einige der Anwesenden schüttelten empört mit den Köpfen, doch offen widersprechen mochte von ihnen niemand. „Privilegien“ meint im intersektional-ideologischen Sinn unverdient erlangte Vorteile, die eine gesellschaftlich komfortablere Position ermöglichen.

Privilegien als moderne Erbsünde

Der „Privilegien“-Vorwurf gehört zur Grundausstattung der queer-intersektionalen Ideologie und funktioniert vor allem wie ein moderner Ablasshandel, wie in einem Religionsersatz. Die Signalwörter „weiß“ und „cis“ haben die biblische Erbsünde abgelöst. Es geht nicht darum, Individuen mit ihrer individuellen Biografie zu würdigen, sondern um Projektionen. Wer als „weiß“ und „cis“ gilt, muss in erster Linie Schuld bekennen. Wie wohl in den 1970ern bei den linksradikalen K-Gruppen, muss man auch bei den Q-Gruppen bekennen, dass man heute schon wieder versagt hat, die Revolution voranzutreiben. Ein solcher Zugang wird niemandem gerecht, auch nicht schwulen Männern. Mit einer tatsächlich befreiten Gesellschaft haben diese Bekenntniszwänge ebenfalls nichts zu tun.

Eine weitere Formel, die in diesem Kontext auch bei der Veranstaltung nicht fehlen durfte, war „Marginalisierten zuhören“. Zuhören sollte man immer, aber nicht ohne kritische Auseinandersetzungen mit den Forderungen. Denn Forderungen anderer müssen nicht ausschließlich vorteilhaft für die eigenen Ziele sein oder gar von derselben Vorstellung geprägt sein, wie eine Gesellschaft sein sollte. Doch eine kritische Auseinandersetzung wollen queer-intersektionale Vertreter*innen zumeist gar nicht, wenn daraus Schlüsse folgen, die der reinen Lehre zuwiderlaufen.

Queer in Ostdeutschland

Doch zurück zur Veranstaltung: Im zweiten Nachmittagsteil zum Thema „Ostdeutschland“ wurde es dann auch mal konkreter. Ostdeutsche Aktivist*innen beschrieben ihre Erfahrungen, wie unglaublich engagiert sie an ihren jeweiligen Orten wirken – ob nun CSD-Veranstaltungen und andere Aktivitäten. Als Gefahr wird auch die Beendigung oder Kürzung von Fördermitteln benannt, wie es dem Leipziger Verein „Rosa Linde e.V.“ passiert ist.

Beklagt wird, dass gerade westdeutsche und vor allem Berliner Queers oft geringschätzig auf Ostdeutschland schauen: „Da leben doch sowieso nur Nazis!“  Eine Panelteilnehmerin rief gegen Ende dieser Diskussionsrunde dazu auf, doch auch mal in den Osten zu kommen, gar dort hinzuziehen. In dieser Einladung liegt auch ein wichtiger Kern, denn Landflucht überlässt den Raum anderen.

Parlamentarischer Abend

Zum anschließenden Parlamentarischen Abend mit Vertreter*innen aus dem Berliner Abgeordnetenhaus füllte sich der Raum deutlich, alle Plätze waren nun belegt. Der Berliner Queerbeauftragte Alfonso Pantisano, seit nunmehr einem Jahr im Amt, eröffnete die Veranstaltung. Unter dem Eindruck des antisemitischen Vorfalls auf der Soli-Party des Dyke March am 8. Juli in der „Möbel Olfe“ sprach Pantisano die Kriege in der Ukraine und in Nahost als Herausforderungen für die Pride-Parade und den Dyke March an, auf die man sich einstellen müsse.

Im Mittelpunkt der anschließenden Diskussion mit Max Landero (SPD, Staatssekretär für Integration, Antidiskriminierung und Vielfalt), Laura Neugebauer (Bündnis 90/Die Grünen) und Lisa Knack (CDU) standen die sechs Kernforderungen, die der CSD Berlin e.V. in diesem Jahr an die Politik richtet.

In einer Mentimeterumfrage ließ man das Publikum diese Forderungen nach Priorität anordnen. Die beiden wichtigsten Themen waren mit deutlichem Abstand die Aufnahme sexueller und geschlechtlicher Identität in Artikel 3 des Grundgesetzes sowie Maßnahmen gegen Hasskriminalität.

Ultimatum für Artikel 3

Besonders für Diskussionsstoff sorgte das Ultimatum des CSD Berlin e.V. an den Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU). Während die einen, darunter auch Staatssekretär Landero, solche Mittel eher für kontraproduktiv halten, wenn es darum geht, das Gespräch aufrecht zu erhalten, finden andere, dass es das gute Recht der Veranstalter ist, politische Vertreter danach zu wählen, wie glaubwürdig sie die Ziele unterstützen.

Einig sind sich alle darin, dass sich für die Erreichung des Ziels der Erweiterung von Artikel 3 GG gerade das Zeitfenster schließt und die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit ohne die CDU nicht zu haben ist.

Die Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses, Laura Neugebauer (Bündnis 90/Die Grünen) und Lisa Knack (CDU) in der Diskussionsrunde, im Hintergrund die Kernforderungen des CSD Berlin
Die Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses, Laura Neugebauer (Bündnis 90/Die Grünen) und Lisa Knack (CDU) in der Diskussionsrunde, im Hintergrund die Kernforderungen des CSD Berlin (Foto: CSD Berlin e.V. auf Facebook).

Gerade mit der qua Defintion nichtlinken CDU fremdeln viele im queer-aktivistischen Milieu, das wurde auch am Freitagabend wieder sichtbar. Manches ging dabei aber auch ins Absurde. Zum Beispiel, als eine sich als nichtbinär identifizierende Person bekundete, dass ihr die Aufnahme von geschlechtlicher Identität in Artikel 3 GG besonders wichtig sei, weil man dann gegen die vor allem gerade in CDU-geführten Bundesländern erlassenen Verbote von Gendersternchen und Ähnlichem klagen könne. Das Gendersternchen zu verbieten, würde Menschen verbieten. Hier wird Butlers queerideologisches Sprechaktverständnis dann doch ein wenig überstrapaziert, ja, in gewisser Hinsicht auch ins Allgemein-Alberne transferiert.

Sicherheit für jüdische Queers

Für einen überraschenden Moment sorgte an dem Abend Anette Detering, Organisatorin des East Pride und ehemaliges Mitglied des Berliner Abgeordnetenhaus für die Grünen. Als die Diskussion zum Thema „Hasskriminalität“ wechselte, nutzte Detering den Moment und fragte insbesondere die Vertreter vom CSD Berlin e.V. nach einem Sicherheitskonzept für die Teilnahme von jüdischen und israelischen Queers. Dabei berichtete sie auch von dem Vorfall in der „Möbel Olfe“.

Das Thema schien viele der Anwesenden unvorbereitet zu treffen. Ein Vertreter des CSD Berlin versicherte, man würde sich mit dem Thema auseinandersetzen und dass Antisemitismus keinen Platz habe.

Man wird sehen, ob das eingelöst werden kann. Dazu müsste man auch alles auf den Prüfstand stellen, was in den letzten Jahren unter dem Modewort „Intersektionalität“ Eingang in den queeren Aktivismus gefunden hat. Dieser Abend jedoch wird erst mal mit einem Imbiss und einer alkoholischen sowie alkoholfreien Getränkeauswahl beschlossen.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.



Judenhass im queeren Gewand

Antisemitischer Mob bedroht jüdische Queers auf Soliparty des Dyke March Berlin

Hat der Dyke March ein Antisemitismusproblem? Ein Vorfall auf der Soliparty am 8. Juli lässt Fragen aufkommen, wie sicher die Parade für lesbische Sichtbarkeit für jüdische Teilnehmer*innen ist.

Eine Person steht mit dem Rücken zur Kamera und trägt eine Regenbogenflagge mit Davidstern.
Wie sicher sind Pride-Veranstaltungen für jüdische Queers? (Foto von Levi Meir Clancy auf Unsplash.)

13. Juli 2024 | Till Randolf Amelung

In Europa, die ehemaligen Ostblockstaaten ausgenommen, sorgen vermehrt antisemitische Vorfälle und Übergriffe seit dem 7. Oktober 2023 für Angst unter Jüdinnen und Juden, wie eine aktuelle Befragung der EU-Agentur für Grundrechte sichtbar macht. Die Reaktionen auf den Hamas-Terror haben offenbart, wie weit verbreitet Antisemitismus, getarnt als Israelhass, in vielen Teilen vor allem der progressiven Milieus ist. 

Jüngster Eklat: am Abend des 8. Juli in Berlin auf der Soli-Party des Dyke March Berlin im Kreuzberger Szenelokal „Möbel Olfe“, die, wie es sich selbst beschreibt, „Trinkhalle am Kotti“, eine Art abendliche Zentrale der queeridentitären Szene. Bei dem Dyke March Berlin handelt sich um eine Demo für lesbische Sichtbarkeit, die seit 2013 am Tag vor der großen CSD- und den anderen, kleineren Paraden stattfindet.

Mit der Soliparty in der „Olfe“ wollten die Veranstalterinnen des Dyke March Gelder für die Finanzierung ihrer Demo  sammeln, doch bereits vor Mitternacht musste die Party abgebrochen werden. Grund waren aggressive Angriffe von Pro-Palästina-Aktivistinnen auf eine kleine Gruppe jüdischer Queers und ihre Unterstützerinnen.  Auf dem Online-Magazin „Aviva“ ist ihre ausführliche Darstellung der Ereignisse zu finden. 

Zur Vorgeschichte: Ein Instagram-Posting weckt Zweifel

Einige Tage vor dem Abend entdeckten die jüdischen Queers auf Instagram einen inzwischen gelöschten Beitrag auf dem Account des Dyke March, in dem es hieß: „This year’s theme of Dyke March Berlin is LOVE DYKES – FIGHT FASCISM. This means we explicitly oppose the German, European and global rise of the far right, oppose racism, antimigration mobilizations, antisemitism, islamophobia, settler colonialism, genocide and apartheid. We stand with all the oppressed globally.“ Garniert wurde der Beitrag noch mit Wassermelonen-Emojis, die zum Symbol des antiisraelischen Pro-Palestine-Aktivismus geworden sind.

Der wieder gelöschte Instagram-Beitrag des Dyke March (Foto: Aviva).

In diesem Insta-Post zählte der Dyke March pflichtschuldig auch „Antisemitismus“ mit auf, aber die weiteren Begriffe, etwa „Siedlerkolonialismus“, „Apartheid“ und „Genozid“, mit denen die inzwischen gängige Verleumdungen gegen Israel und seinen Kampf gegen den Hamas-Terror kolportiert werden, ließen in Verbindung mit den Wassermelonen erahnen, dass sich dies als Lippenbekenntnis entpuppen könnte.

Die jüdischen Queer und ihre Begleiterinnen hatten daraufhin Sorge, dass der Dyke March für jüdische Menschen und Israelis nicht sicher sein wird, weshalb sie den Kontakt zu den Veranstalterinnen suchten. Diese hätten zugesichert, dass alle kommen und mitlaufen könnten.

Rote Hamas-Dreiecke auf der Werbung

Der Flyer für die Soli-Party

Doch nicht nur dieser Instagram-Posting hat Zweifel an der Sicherheit für jüdische Queers aufgeworfen, auch die Werbung für die Soliparty in der „Olfe“ verstärkten diese. Die umgedrehten Dreiecke neben dem Schriftzug „Möbel Olfe“ sind üblicherweise gelb koloriert. Auf der Werbegrafik waren diese Dreiecke plötzlich in rot zu sehen – und ähnelten dem auch in Berlin oft zu sehenden Dreieck der Hamas-Propaganda, mit dem zu vernichtende Ziele gekennzeichnet werden. Seit dem 7. Oktober wird es auch als Symbol der Solidarität mit dem eliminatorischen Antisemitismus der Palästinenser verwendet.

Diese problematische Symbolik wurde von den jüdischen Queers und ihren „Allies“ ebenfalls angesprochen, doch von den Veranstalterinnen als Überinterpretation abgetan. Doch auch die Werbung für den Dyke March selbst lässt aufgrund ihrer Farbgestaltung, die an die Palästina-Flagge erinnert und ein rotes Dreieck beinhaltet, Fragen aufkommen.

Werbung für denn Dyke March Berlin 2024

Jüdische Sichtbarkeit sorgt für Eskalation

Die Gruppe habe beschlossen, trotzdem zur Party in die „Olfe“ zu gehen und dabei als jüdische Queers mit Unterstützerinnen sichtbar zu sein.  Dazu legten sie ein Plakat mit der Aufschrift „safe table for Jews and Israelis“ auf ihren Tisch und hängten eine Regenbogenflagge mit Davidstern auf.

Diese Sichtbarkeit sorgte dann offenbar für die weitere Eskalation, wie im „Aviva“-Bericht zu lesen ist: Es habe mit vereinzelt bösen Blicken begonnen, und im Verlauf des Abends seien immer mehr Gäste mit Palästinensertuch gekommen. Schließlich habe eine Mitarbeiterin der „Olfe“ verlangt, die Flagge wieder einzupacken, und eine weitere Person in einem weißen Hemd habe geschrien, „dass in der Möbel Olfe kein Platz“ für sie sei und das Olfe sich darüber einig sei. Eine Person aus der angegriffenen Gruppe fragte zurück: „In der Olfe gibt es keinen Platz für Juden und Jüdinnen?“ Sowohl die Mitarbeiterin der Olfe als auch die Person neben ihr hätten geantwortet, dass hier kein Raum für die offen jüdische Gruppe sei.

Man wolle in der „Olfe“ keine nationalistischen Symbole sehen. Die Gruppe trug jedoch nur die Regenbogenflagge mit Davidstern und erklärte, dass dies das Symbol für queeres Judentum sei. Hingegen seien die Personen mit den Palästinensertüchern – naheliegend als nationalistische Symbole erkennbar – nicht gebeten worden, diese einzupacken.

Weitere Eskalation

In der Beschreibung der jüdischen Queers und Allies auf „Aviva“ heißt es weiter: „Ca. 50 Personen haben sich inzwischen vor der Gruppe versammelt. Sie sagten, die Gruppe dürfe hier nicht sein. Sie wurden von der Menge als ‚Zionistenschweine‘, ‚zionist rapists‘, ‚Faschisten‘ und ‚genocide supporters‘ beschimpft, mehrfach aufgefordert zu gehen und bedrängt.“  

Eine Person habe versucht, die Regenbogenflagge mit dem Magen David vom Tisch zu reißen und das Plakat wegzunehmen. Jemand fragte die Person im weißen Hemd, ob sie die BDS-Bewegung unterstütze, worauf diese gesagt habe: „Ja, ich stehe dahinter“.

Weiter heißt es im Bericht der angegriffenen Gruppe: „Die Menge stimmte schließlich im Chor ‚Free, free palestine‘ und ‚shame on you‘ an, zwischendurch wurde die Gruppe der jüdischen Personen und Allies immer wieder als Faschisten beschimpft. Sie wurden dann schließlich von der Dyke* March Orga aufgefordert zu gehen, damit der Abend weitergehen könne. Als sie sich weigerten, wurde wieder ein ‚shame on you‘-Chor angestimmt.“

Die Party wird beendet

Schließlich habe die Veranstalterin entschieden, die Party zu beenden. Die jüdischen Personen seien wieder als Erste aufgefordert worden zu gehen, obwohl sich inzwischen auch draußen vor der Tür eine Menschenmenge angesammelt habe. Diese hätten von außen an das Fenster geschlagen und bedrohende Gesten gezeigt.

Anstatt ein sicheres Verlassen zu gewährleisten, hätten Barpersonal und Veranstalterinnen die Gruppe weiter beschimpft. Als sie auf die aufgebrachte Menschenmenge vor der Tür hinwiesen, seien sie ausgelacht und gefragt worden, ob sie denn Angst hätten. Nachdem mehrfach Hilfe verweigert worden sei, habe die Gruppe schließlich selbst die Polizei gerufen. Das „Olfe“-Personal und die Veranstalterinnen hätten der Gruppe vorgeworfen, sie hätten die Situation provoziert und seien „schuld daran, dass die Party abgebrochen werden musste“. Die Veranstalterinnen hätten außerdem noch „ihr habt uns den Abend ruiniert“, „ihr seid unsolidarisch“ gesagt. Schließlich sei die Polizei gekommen und habe die jüdischen Queers und ihre Begleitungen aus der bedrohlichen Situation befreit.

Zunächst kein Statement vom Dyke March

Während die angegriffene Gruppe die Geschehnisse von Montagabend zeitnah öffentlich zu machen versuchte, fehlte hingegen zunächst ein Statement des Dyke March. Doch nachdem das Portal „Aviva“ am 10. Juli den Bericht der angegriffenen Gruppe veröffentlichte, es bereits am Vortag in der „taz“ eine Meldung gab und der „Tagesspiegel“ schließlich auch noch berichtete, konnte die Dyke-March-Orga nicht länger versuchen, den Vorfall auszusitzen. Am 12. Juli veröffentlichten sie ein Statement auf Facebook und Instagram sowie später auf der eigenen Website. Die „Möbel Olfe“ hat hingegen bis heute keine Stellungnahme dazu veröffentlicht. Auch queere Medien schweigen dazu.

Dafür äußerten sich nun andere, wie das Berliner schwule Anti-Gewalt-Projekt Maneo, die auf Instagram fordern, dass die Sicherheitskonzepte auf kommenden Pride-Events überprüft werden, „Antisemitismus darf in unseren Szenen nicht toleriert werden und keinen Platz finden“, heißt es außerdem im Maneo-Statement.

Allerdings zeigt der Vorfall auf der Soliparty, wie tief sich miefiger antisemitischer stalinistischer Sowjet-Agitprop festgefressen, queeren Aktivismus gar gekapert hatnicht nur in der Berliner Szene. Auch beim Dyke March in New York fühlen sich jüdische Lesben nicht mehr sicher und machen nun getrennte Veranstaltungen, wie das Portal „Mena-Watch“ berichtete. Die Organisatorinnen des US-Pendants solidarisierten sich offen mit antisemitischen Gruppen und sammelten gar Geld für diese.

Mangelndes Problembewusstsein für Antisemitismus

Das Statement des Dyke March Berlin zum Vorfall in der „Möbel Olfe“ zeigt, dass kein Problembewusstsein für Antisemitismus vorhanden ist. Darin wurde der jüdischen Gruppe vorgeworfen, provoziert zu haben und eine Spaltung vorantreiben zu wollen.

„Um die Sicherheit aller anwesenden Gäste zu gewährleisten hat das Dyke* March‐Orgateam in Absprache mit dem Team der Möbel Olfe die Veranstaltung beendet und alle Gäste gleichermaßen darum bitten müssen, die Bar zu verlassen. Die besagte Aktions‐Gruppe ist unserer wiederholten Aufforderung, die Bar zu verlassen lange Zeit nicht nachgekommen“, heißt es in der Darstellung des Dyke March.

Die Organisatorinnen beschweren sich auch noch, dass die Polizei gerufen wurde.  Weggelassen wird jedoch, wie bedrohlich die Situation für die kleine Gruppe war und sie die Hilfe der Polizei brauchten, um körperlich unversehrt aus der Lage zu kommen.

Weiter heißt es: „Während wir auf den Straßen Berlins demonstrieren, möchten wir unsere Solidarität mit marginalisierten, unterdrückten Gruppen weltweit bekräftigen. So verurteilen wir die derzeitigen Genozide in Palästina und anderen Teilen der Welt. […]  Wir sind gegen Kriege, gegen Propaganda und Zensur und damit gegen die Unterdrückung von individuellen Freiheiten – in Berlin, Deutschland, Europa und der Welt.“

Dieser Abschnitt zeugt in mehrfacher Hinsicht von einem gravierenden Realitätsverlust: In Gaza findet schlicht kein Genozid statt, auch wenn Pro-Palästina-Aktivistinnen diese Lüge unermüdlich wiederholen. Wer zudem individuelle Freiheiten sichern will, sollte am besten keinen Aktivismus unterstützen, der zuvörderst einer Organisation wie der Hamas dient.

Der US-amerikanische Antisemitismusforscher Jeffrey Herf beschrieb die Hamas treffend in einem Interview mit der „taz“: „Menschen, die sich selbst als links oder liberal betrachten, nehmen eine Organisation billigend in Kauf, die ihre Wurzeln in einer Mischung aus religiösem Fundamentalismus und dem Vernichtungsantisemitismus der Nazis hat. Die Hamas ist eine Bewegung der extremen Rechten: Ihre Auslegung der islamischen Religion ist islamistisch, ihre entsetzlichen Ansichten über Frauen, Queers, Juden und natürlich über die Demokratie sind rechts.“

Antisemitismus ist gefährlich

Es ist eine Sache, unterschiedliche Ansichten über den Nahost-Konflikt zu haben, wie falsch oder richtig sie auch sein mögen. Dies aber zum Vorwand zu nehmen, Jüdinnen und Juden aus allen Lebensbereichen zu drängen, sie gar zu bedrohen, ist Antisemitismus. „Wenn die Linke die Rückkehr des mörderischen Antisemitismus nicht spürt, ist das ihr Ende“, sagte Eva Illouz zum katastrophalen Umgang mit dem 7. Oktober. Man muss ergänzen: Es ist ebenfalls das Ende von Queer.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.



Initiative Queer Nations gibt Jahrbuch Sexualitäten 2024 heraus und wählt neuen Vorstand

Pressemitteilung

Marion Hulverscheidt (links im Bild) und Jan Feddersen (rechts im Bild) sitzen in der taz Kantine auf der Bühne und moderieren die Release-Party für das Jahrbuch Sexualitäten 2024.
Marion Hulverscheidt und Jan Feddersen moderieren die Release-Party für das von ihnen und Rainer Nicolaysen herausgegebene Jahrbuch Sexualitäten 2024 (Foto: Screenshot)

Berlin, 9. Juli 2024 | Redaktion

Am vergangenen Freitag wurde die diesjährige Ausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ mit seinen Beiträgen bei der Queer Release Party in der taz Kantine von den Herausgeber*innen Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen vorgestellt.  Zuvor wurde in der Mitgliederversammlung ein neuer Vorstand gewählt.

Lesbischer Schwerpunkt

Ein Highlight in dieser neunten Ausgabe des von der Initiative Queer Nations e.V. seit 2016 herausgegebenen Periodikums sind die dezidiert lesbischen Beiträge, von denen es in dieser Ausgabe gleich vier gibt: Eine kritische Auseinandersetzung der Politikwissenschaftlerin Chantalle  El Helou über die Grenzen der Inklusionsfähigkeit von queer, ein Gespräch mit der Linguistin Luise F. Pusch über ihr Coming-out, ein Text ihrer Frau Joey Horsley und ein Bericht über eine Kreuzfahrt für Lesben der in Berlin lebenden Altistin Wiebke Hoogklimmer.

Der Vorstandsvorsitzende und Mitherausgeber Jan Feddersen dazu: „Wir haben zu unserer großen Freude einen lesbischen Schwerpunkt in dieser Ausgabe, was mich persönlich sehr glücklich macht!“

„In lesbias res“ geht die Laudatorin dieser Beiträge, die Psychologin Emily Lau. In klaren Worten skizziert sie, was alle vier Beiträge eint: die Zurückweisung der queertheoretischen Norm, Identität über den Körper zu stellen und ein waberndes, diffuses Bild von „Weiblichkeit“ zu behaupten, also lesbisches Begehren von Körperlichkeit zu entkoppeln. 

Damit setzt auch die neue Jahrbuch-Ausgabe fort, wofür die IQN steht: In Sachen queerer Lebensweisen zu fragen, wie es tatsächlich ist und nicht nur, wie es sein soll. „Mainstream ist uns fremd, wir machen uns unsere eigenen Köpfe!“, ist das Motto, was die Unabhängigkeit des Vereins hervorhebt, die auch dadurch gewährleistet wird, dass man nicht auf staatliche Zuwendungen angewiesen ist.

Neuer Vorstand gewählt

Die ebenfalls am Freitag erfolgte Vorstandswahl bestärkt diesen Kurs. Jan Feddersen wurde als Vorsitzender bestätigt, Clemens Schneider als sein Stellvertreter ebenfalls. Neu in den Vorstand gewählt wurden die Medizinerin und Jahrbuch-Mitherausgeberin Marion Hulverscheidt als Schatzmeisterin sowie der Öffentlichkeitsarbeiter Till Randolf Amelung als Beisitzer. Den beiden bisherigen Vorstandsmitglieder Peter Obstfelder und Manu Schubert sei für ihr bisheriges Engagement herzlich gedankt.

Amelung, der bereits seit einem halben Jahr den IQN-Blog redaktionell betreut, zu seiner Wahl: „Ich freue mich über das entgegengebrachte Vertrauen und möchte meinen Beitrag leisten, die IQN als Diskursraum zu stärken, wo nicht die förderpolitische Erwünschtheit in die Themen diktiert.“

Ausblick auf künftige Veranstaltungen und Projekte

Zu den Schwerpunkten der nächsten Queer Lectures und damit auch zum nächsten, dann zehnten Jahrbuch Sexualitäten zählt, dass wir drei unserer Vorträge der Fetisch- und Lederszene widmen – in Kooperation mit dem Verein Folsom Europe e.V. Zu den Arbeitsschwerpunkten der kommenden Monate zählt ebenso die Vorbereitung auf den 20. Geburtstag der IQN e.V.

Wir freuen uns auf alle Unterstützung, die wir bekommen – und auf uns selbst, die wir das Projekt eines Queeren Kulturhauses weiterhin mit Verve im Blick behalten.

Über uns

Die Initiative Queer Nations (IQN) befördert durch Vorträge, Publikationen und die Schaffung von Förderstrukturen die Erforschung von Sexualitäten und Geschlechtlichkeiten in einem breiten Sinn. Zu den größten bisherigen Erfolgen von IQN zählt die Einrichtung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld im Jahr 2011.

Das Jahrbuch Sexualitäten ist ein jährlich erscheinendes Periodikum der Initiative Queer Nations, herausgegeben im Wallstein Verlag, Göttingen. Den Kern des Jahrbuchs bilden Aufsätze, die auf öffentlich vorgetragenen Queer Lectures und Talks basieren. Daneben enthält das Jahrbuch die Rubriken Essay, Gespräch, Miniaturen und Rezensionen. Sie nehmen auf aktuelle Debatten Bezug oder regen solche an.

Die Aufzeichnung der Release-Party können Sie auf YouTube ansehen:


Jahrbuch Sexualitäten 2024

Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen.

Mit Beiträgen von Marko Martin, Thomas Großbölting, Vojin Saša Vukadinović, Blake Smith, Tae Ho Kim, Björn Koll, Martina Lenzen-Schulte, Chantalle El Helou, Aaron Gebler, Sigi Lieb, Joey Horsley, Luise F. Pusch, Jan Feddersen, Clemens Schneider, Manuel Schubert, Meike Lauggas, Michael Wunder, Till Randolf Amelung, Adrian Daub, Marion Hulverscheidt, Wiebke Hoogklimmer, Richard F. Wetzell, Thomas Weber, Norbert Finzsch, Norman Domeier und Ketil Slagstad.

294 S., 22 z.T. farb. Abb., geb., Schutzumschlag, 15 x 22,3 cm, ISBN 978-3-8353-5725-9

Preis: € 34,00 (D) / € 35,00 (A)



Homos sagen Ja zu Israel

Erfahrungsbericht vom israelsolidarischen East Pride

Am vergangenen Samstag demonstrierten Teilnehmer*innen des East Pride unter dem Motto „Homos sagen Ja zu Israel“ und bezogen damit Stellung gegen Antizionismus. IQN-Autorin Chantalle El Helou war vor Ort.

Ein Demoschild auf dem East Pride Berlin sagt "Queers for Israel"
Ein Demoschild sagt „Ja“ zu Israel (Foto: Steffi Reichert –streichphotography)

2. Juli 2024 | Chantalle El Helou

Am Samstag dem 29. Juni fand in Berlin eine außergewöhnliche und wichtige Pride Parade statt. Die Veranstalter Wolfgang Bayer und Anette Detering widmen den East Pride stets queerpolitisch relevanten politischen Entwicklungen. Letztes Jahr wurde auf der East Pride für die Rechte Homosexueller in Uganda demonstriert, sich das Jahr davor mit der Ukraine solidarisiert. Nun wendet sich die Demo unter dem Motto „Homos sagen Ja zu Israel“ explizit gegen den Antizionismus der queeren Szene.

Zum Zustand der queeren Szene

Unter Queeren ist eine ablehnende Haltung zu Israel ebenso weit verbreitet wie in vielen linken Kreisen. Hier wird der Antizionismus um die eigene Opfererfahrung erweitert: Im Glaube selbst von der Welt missachtet zu sein, schlägt man sich in blindem Aktivismus auf die Seite der vermeintlichen Opfer – der „Palästinenser“, von denen nicht nur Hamas-Kämpfer, sondern auch viele Zivilisten an den Gräueltaten des 7. Oktober 2023 beteiligt waren.

Nicht einen Moment wird anerkannt, dass das zionistische Projekt eine emanzipatorische Erfolgsgeschichte ist, dass die Gründung des Staates Israel eine tatsächlich gelungene Befreiung von der Willkür der potenziell antisemitischen Mehrheit der Nicht-Juden war. Man sollte daher meinen, dass eine derartige Befreiung aus der Ohnmacht bei Queeren auf eine leidenschaftliche Verteidigungshaltung stoßen müsste.

Kampagnen wie „Queers for Palestine“, aber auch der jederzeit spürbare Common Sense in der queeren Szene beweisen das Gegenteil. So ist es bei vielen die unangefochtene und jederzeit kundgetane Gewissheit, dass Israel der eigentliche Aggressor ist. Homo-Bars und -Clubs, die zuvor nicht israelfeindlich waren, haben nach 10/7 eindeutig Stellung bezogen, selbstverständlich gegen Israel. Unangenehm aufgefallen sind beispielsweise das K-Fetisch oder die Oya-Bar.

Die ideologische Verwahrlosung findet auch direkt Eingang ins Ästhetische, sodass nicht einmal bei Meidung aller Gespräche den weltanschaulichen Abgründen des Gegenübers entronnen werden kann. Die Kufiya – ein nationalistisches und antiisraelisches Symbol der arabischen Palästinenser – wird nun in der Hitze des Sommers gern als Ersatz des Oberteils praktisch um die Brüste gebunden. Auch bei Dragshows und queeren Performances werden gern Paliflaggen und Wassermelonensymbole in die Lack- und Lederoutfits integriert: Die massiv sexuelle Aufladung von Symbolen antisemitischer Vernichtung komplettiert die Barbarisierung der Szene.

Der Antizionismus linker Akteure ist ein moralistischer – Israel wird als rassistisch-kolonialistischer Unterdrücker dargestellt. Manch einer glaubt sogar, dass ein Sieg Israels in Gaza einer Niederlage im Kampf um das Wohl der gesamten Menschheit gleichkommen würde. Die Existenz des jüdischen Staates erscheint als das Unrecht schlechthin und der wehrhafte Jude als Hindernis auf dem Weg in die heile Welt.

Den antiisraelischen Konsens brechen

Dieser verheerende Zustand macht eine solche Demonstration wie den East Pride umso wichtiger. Geschätzt 300 Leute versammelten sich an der Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg, um von dort über den Alexanderplatz bis zur Oranienburger Straße am Monbijoupark zu laufen. Ein mit Israel- und Regenbogenflaggen geschmückter Wagen fuhr voran und heizte den Demonstranten mit israelischen Popsongs und queeren Hits ein. Die Stimmung war trotz anfänglicher Nervosität ausgelassen.

Viele große Transparente und Flaggen begleiteten die Demo. Zu lesen war unter anderem „Queers for Israel“, „Es geht um Israel – gegen antisemitische Mobilisierung“, „Vergewaltigung ist kein Widerstand“, „Believe Israeli Women“ oder „This Butch is a Zionist“. Für die Sache und gegen den antizionistischen Konsens traten auch sich ansonsten kritisch gegenüberstehende Gruppen – Radikalfeministinnen und Transaktivisten – nebeneinander auf.

Eine Butch bezieht auf der Demo Stellung (Foto: Steffi Reichert –streichphotography).

Ideologiekritischer Moment fehlte

Die Redebeiträge – so sehr die Entschlossenheit der Redner auch zu schätzen ist – waren durchwachsen und ließen teilweise den ideologiekritischen Moment vermissen. Wer die Hamas verdammt, sollte sich auch ihrer Unterstützung durch weite Teile der palästinensischen Bevölkerung bewusst sein und die grundlegend antisemitische Strukturierung ihrer Gemeinschaft erkennen. Der Antisemitismus ist von der Geburt an stetiger Begleiter in Erziehung und Ausbildung und gemeinschaftsstiftendes Element. Der Antisemitismus in der Queerbewegung mag ein Übel sein, die UNRWA (The United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees) und damit der Terror gegen Israel wird aber u.a. von deutsch-staatlicher Seite finanziert. Das hätte deutlich bezeichnet und kritisiert werden müssen.

Besonders herausstechend war in den Reden der Wunsch, sich von Israels aktueller Regierung unter Benjamin Netanyahu abzugrenzen und die eigene Israelsolidarität mit dem nachdrücklichen Hinweis auf die demokratische Staatsform Israels zu legitimieren. Das lässt daran zweifeln, ob das Bekenntnis zu Israel wirklich aus der Einsicht in die Notwendigkeit eines jüdischen Staates hervorgeht. Die andere Seite wird der Hinweis auf die demokratische Verfasstheit Israels niemals überzeugen: Antizionisten wenden sich gegen einen jüdischen Staat unabhängig seiner Regierungsform. Es muss daher festgehalten werden: Egal unter welcher Regierung und egal welche Maßnahmen Israel zu seinem Schutz ergreift: Israel ist und bleibt der einzige jüdische Staat und der Zionismus darum zu verteidigen.

Am beeindruckendsten war die spontane und leidenschaftliche Rede einer jungen Israelin über ihre Angst, sich in der queeren und lesbischen Szene als israelische Staatsbürgerin zu erkennen zu geben. Sie beschrieb, viele Freundschaften zu anderen Lesben nach 10/7 verloren zu haben und von homosexuellen Bekannten von einen auf den anderen Tag ignoriert worden zu sein. Seitdem meidet sie lieber queere Bars und Veranstaltungen in Berlin.

Fehlende Resonanz großer queerer Vereine

Während die Demonstranten selbst in entschlossener Ausgelassenheit die Passanten zu motivieren versuchten, sich der Demo anzuschließen, fielen die Reaktionen am Rand sehr unterschiedlich aus. Hin und wieder entrüstetes Kopfschütteln, oft aber freudiges Zulächeln, Winken und Klatschen. Am häufigsten zeichnete sich auf den Gesichtern aber tiefe, ehrliche Überraschung und Fassungslosigkeit ab. Spontane Störungen von Kufiya-Trägern blieben vereinzelt und wurden von der Polizei professionell abgefangen. Zwei junge Kopftuchträgerinnen geleiteten beispielsweise den Zug, um den Rednern immer wieder mit „Free Palestine“ ins Wort zu fallen und die Kufiya zu schwenken.

Dass die Demo klein und schlechter besucht war als die vorangegangenen East Prides liegt höchstwahrscheinlich nicht nur an leidenschaftlicher Israelfeindschaft in der queeren Bewegung, sondern auch an leidenschaftsloser Israelsolidarität derjenigen, die in dieser Szene weiterhin anerkannt werden wollen. Bezeichnend ist in diesem Sinne auch die mangelnde Resonanz großer queerer Vereine nicht nur auf die Ankündigung der diesjährigen East Pride, sondern auf den grassierenden Antisemitismus in der Szene generell. Gerade deswegen war der diesjährige East Pride ein wichtiges Zeichen gegen den antisemitischen Konsens in der queeren Szene und für deren jüdische und israelische Mitglieder.


Chantalle El Helou, geb. 2000, B.A. in Politikwissenschaft, zurzeit Masterstudium in Gesellschaftstheorie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; auf Ideologiekritik fokussiert, Publikationen zur Kritik an Prostitution, Queertheorie und Antizionismus, engagiert im lesbischen Nachtleben Berlins.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Politik statt Evidenz bei WPATH-Leitlinie

Hat US-Regierungsmitglied Einfluss auf Standards of Care genommen?

Die Standards of Care der WPATH gelten in der Medizin als Leitstern, an dem sich international die Behandlung von Menschen mit Geschlechtsdysphorie in allen Altersstufen orientiert. Jüngste Vorkommnisse aus dem US-Regierungsgehege wecken jedoch erhebliche Zweifel an der medizinischen Evidenz.

Blick auf das Weiße Haus in Washington, dem Symbol für die Regierung der USA (Foto von René DeAnda auf Unsplash).

28. Juni 2024 | Till Randolf Amelung

Gerade rund um die Frage, wie Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie am besten behandelt werden sollten, toben hitzige Auseinandersetzungen. In den USA ist dieses Thema längst Teil eines politischen Kampfs zwischen Demokraten und Republikaner geworden. In den letzten Jahren haben republikanisch regierte US-Bundesstaaten Gesetze erlassen, die geschlechtsidentitätsbestätigende Behandlungen an Minderjährigen drastisch einschränken, gar unter Strafe stellen.

Verbote von identitätsbestätigenden Behandlungen

In derzeit 20 Bundesstaaten dürfen Minderjährige daher keine Pubertätsblocker, gegengeschlechtliche Hormone und chirurgische Eingriffe erhalten. Einige dieser Gesetze verbieten darüber hinaus noch Teilnahmen in Sportgruppen oder die Benutzung von Toiletten, die nicht dem biologischen Geschlecht entsprechen.

Die von Präsident Joe Biden geführte US-Regierung will hingegen die Rechte von Transpersonen stärken und hat daher beim Surpreme Court einen Berufungsantrag gestellt, der die gesetzlich erlassenen Verbote in den betreffenden Bundesstaaten blockieren soll. Laut „Zeit Online“ sollen die Verhandlungen im Herbst beginnen.

Politische Einflussnahme auf Leitlinien?

Nun gerät eine Beamtin der Regierung aber selbst in die Schlagzeilen: Rachel Levine, stellvertretende Gesundheitsministerin und Transfrau, soll die World Professional Association for Transgender Health (WPATH) Einfluss bedrängt haben, in ihrer achten Fassung der Standards of Care Altersgrenzen bei den Behandlungsempfehlungen für Minderjährige zu entfernen.

Das geht laut der „New York Times“ aus E-Mails hervor, die der kanadische Sexualforscher und Psychiater James Cantor als Teil seines Berichts eingereicht hatte, den er zur Unterstützung eines gesetzlichen Verbots geschlechtsangleichender Maßnahmen im US-Bundesstaat Alabama verfasste. Cantor, der frühe gender-affirmative Eingriffe mit Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen ablehnt, wollte damit belegen, dass die WPATH die Ausarbeitung ihrer Standards of Care aus politischen und nicht aus wissenschaftlichen Erwägungen getroffen habe.

Die Standards of Care der WPATH sind international ein maßgeblicher Bezugspunkt, an dem sich die Behandlung von Transpersonen orientiert. Auch deutsche Leitlinien wie die sich in den letzten Abstimmungsprozessen befindliche S2k-Leitlinie für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie verweisen auf die der WPATH.

Umstrittene Altersgrenzen

Ende 2021 veröffentlichte die WPATH ihren Leitlinienentwurf für die achten Standards of Care. Darin wurde noch empfohlen, das Mindestalter für Hormonbehandlungen auf 14 Jahre, für Mastektomien auf 15 Jahre, für Brustvergrößerungen oder Gesichtsoperationen auf 16 Jahre und für Genitaloperationen oder Hysterektomien auf 17 Jahre festzulegen.

In den im Sommer 2022 final veröffentlichten Standards of Care waren schließlich alle Altersgrenzen aus der Textvorlage gelöscht worden. In einer ausführlichen Reportage zeichnete die „New York Times“ im selben Jahr die schon damals offenkundige Kontroverse um die richtige Behandlung von geschlechtsdysphorischen Minderjährigen nach.

Widerstand kam demnach vor allem von transaktivistischen Akteuren, darunter auch Ärzt*innen. Nach der transaktivistischen Lesart ist jede Form von Beschränkung auf einer Stufe mit Konversionstherapien (klassisch: Umpolungstherapie, um Homosexuelle zu heterosexualisieren) zu sehen. Man solle sicherstellen, dass Kinder und Jugendliche die Behandlungen erhalten, die sie wünschen und nicht, sie vor etwas zu schützen. Nun, zwei Jahre später, wird durch E-Mails bekannt, dass offenbar auch Regierungsangehörige wie Rachel Levine intervenierten.

Einflussnahme auf Studien

Kurz danach wurde eine weitere Aktion der WPATH bekannt, die Zweifel an der medizinischen Evidenz ihrer Standards of Care befeuern: Der Journalist Jesse Singal berichtet im „Economist“, dass  Verantwortliche der WPATH in die Erstellung von Metastudien zur Evidenz gender-affirmativer Behandlungen bei Minderjährigen eingegriffen haben sollen. Ihr Ziel: Für die eigenen Ziele ungünstige Ergebnisse zu verhindern. Laut Singal hätte die WPATH beim 2018 beim Evidence-Based Practice Centre der Johns Hopkins University solche Studien in Auftrag gegeben.

Doch die WPATH habe sich von Anfang an vorbehalten wollen, die Arbeit der Wissenschaftler*innen zu kontrollieren und auch bestimmen wollen, was veröffentlicht werden solle. Die Leitung des Evidence-Based Practice Centre sah die wissenschaftliche Unabhängigkeit in Gefahr. Laut „Economist“ sagte John Ioannidis von der Universität Stanford, der Leitlinien für systematische Übersichten mitverfasst hat, dass es zu voreingenommenen Zusammenfassungen oder zur Unterdrückung ungünstiger Beweise kommen könne, wenn sich Sponsoren einmischen oder ein Veto einlegen können.

Im Ergebnis wurde schließlich nur eine einzige Metastudie veröffentlich, an der laut nun offenbar gewordener interner Dokumente eine Person der WPATH an der Abfassung des Artikels und dessen endgültiger Genehmigung beteiligt gewesen sein soll.

Relevanz für deutsche Leitlinien

Die Geschehnisse in den USA sind auch für die Auseinandersetzung in Deutschland relevant. Die Autor*innen der deutschen S2k-Leitlinien und ihr Leiter Georg Romer sehen sich in Einklang mit internationalen Standards wie eben von der WPATH und betonen, sich auf den aktuellen Forschungsstand zu stützen. Doch auch hierzulande wächst die Kritik: zwei der beteiligten Fachgesellschaften haben ein Veto eingelegt und wollen die bisherige Fassung nicht mittragen.

Auf dem Deutschen Ärztetag wurde in diesem Jahr eine Resolution verabschiedet, die auf die schwache Evidenzbasis des gender-affirmativen Ansatzes verweist, mit dem zu schnell die Weichen für eine medizinische Geschlechtsangleichung gestellt werden. Nun bestärken die jüngsten Vorkommnisse um die WPATH die Kritik. Auf dieser Basis kann an der bisherigen Fassung der deutschen Leitlinien nicht länger festgehalten werden.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Staatlich gesponserter Israelhass

Am 22. Juni fand in Kassel eine Demo vor dem Bundessozialgericht statt, zu der lokale queeraktivistische Gruppen aufriefen. Die Veranstaltung wurde mit Mitteln aus dem Programm „Demokratie leben“ gefördert. Im Demoaufruf behaupten die Veranstalter einen „Genozid in Gaza“.

Es wird Zeit, der staatlichen Förderung von antisemitischem Agitprop den Stecker zu ziehen (Foto: Tom auf Pixabay).

24. Juni 2024 | Till Randolf Amelung

Wieder einmal wird sichtbar, wie sehr eine anti-israelische Haltung in queeraktivistischen Kreisen zum politischen Tagesgepäck gehört: Für den 22. Juni riefen in Kassel mehrere Gruppen, darunter meeTIN* Up und das Queere Zentrum Kassel zu einer Demonstration vor dem dort ansässigen Bundessozialgericht auf. Anlass war das schon im letzten Jahr gefällte, aber erst im März 2024 vollständig veröffentlichte Urteil, demzufolge sich als nicht-binär definierende Menschen keinen Anspruch auf die Kostenübernahme von geschlechtsangleichenden Maßnahmen haben.

Unter dem Motto „Selbstbestimmung jetzt – Geschlecht dekolonisieren“ wurde auf Instagram mobilisiert. Im Begleittext heißt es: „Vom Bundessozialgericht wurde ein Urteil veröffentlich, dass die Rechte von trans* und nichtbinären* Menschen weiter einschränkt. Die Verschärfung des Asylrechts, die Sanktionieren von Bürgergeld und der Genozid in Gaza sind weitere Beispiele davon, wie über das Leben und die Körper von Menschen fremdbestimmt wird und zeigen wie das binäre Geschlechtersystem mit Kapitalismus, Kolonialismus, und Rassismus zusammenhängen. Deshalb: raus auf die Straße!“

Der Demoaufruf auf Instagram (Foto: Eigener Screenshot)

Lego der Ideologeme

Ein erschütterndes, für queere Anliegen sogar fragwürdiges und gefährliches Statement! Schon die Behauptung, Rechte von Transpersonen und nicht-binären Menschen würden „weiter eingeschränkt“ ist obskur – denn diese Szene hat doch erst neulich das so heiß ersehnte Selbstbestimmungsgesetz bekommen, was nun im Bundesgesetzblatt verkündet wurde und damit zweifelsfrei zu November 2024 in Kraft treten kann.

Doch es wird noch abenteuerlicher: Anstatt die Bildbeschreibung bei Instagram zu nutzen, um pointiert zu erklären, worin denn nun die vermeintlichen weiteren Einschränkungen der Rechte bestehen würden, wird ein absurdes Lego der Ideologeme präsentiert. In einem sehr weiten Bogen wird das Gerichtsurteil mit Asylrecht, Bürgergeldsanktionen und einem „Genozid in Gaza“ verbunden, und die ganz großen Todsünden queer-intersektionaler Nomenklatur, nämlich Kapitalismus, Kolonialismus und Rassismus, dürfen auch nicht fehlen.

Genozid in Gaza?

Während der typisch radikalaktivistische Größenwahn, der mit solchen Texten nur die ohnehin bereits Erweckten abzuholen vermag, belustigt, erschreckt es zutiefst, wie akzeptiert Falschbehauptungen und antijüdischer Israelhass in diesen Kreisen sind. In Gaza findet kein Genozid statt. Die israelische Armee geht gegen die radikalislamistische Terrororganisation Hamas vor, deren Angehörige am 7. Oktober 2023 ein Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung verübten und Hunderte Israelis als Geiseln verschleppten. Das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung ist fraglos schlimm, doch zugleich gehört es zum Kalkül der Hamas-Terroristen, dass es zu diesen militärischen Operationen kommt, um die nach wie vor gefangen gehaltenen Geiseln zu befreien: So kann die Suche nach den Geiseln propagandistisch gegen Israel eingesetzt werden.

Die Tragweite dessen, was geschah, bringt die Berliner Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel auf den Punkt: „Der 7. Oktober zeigte die Quintessenz von Judenhass, seine ultima ratio, den unbedingten Willen, die jüdische Existenz auszulöschen.“ Umso deutlicher führt es das moralische Versagen vieler vor Augen, gerade von Kreisen, die sich als besonders sensibel für Ungerechtigkeiten, weil queerfeministisch-intersektional oder progressiv gerieren, konstatiert auch Schwarz-Friesel.

Zuerst öffentlich gemacht wurde der jüngste Beleg dafür vom Kasseler Bündnis gegen Antisemitismus, die bereits frühzeitig vor Antisemitismus auf der documenta fifteen 2022 warnten. Das Bündnis kritisierte, dass sich an dem Demoaufruf staatlich geförderte Einrichtungen wie das mit rund 70.000 Euro bedachte Queere Zentrum Kassel beteiligen und die Veranstaltung gar selbst mit Mitteln aus dem Bundesprogramm „Demokratie leben“ ermöglicht wurde. Die Organisatoren selbst gaben auf Instagram offen zu, dass nur diese Mittel die Durchführung der Veranstaltung sicherstellten.

Kritik wird abgestritten

In den Kommentaren auf Instagram wurde meeTIN* Up mit der Kritik konfrontiert, doch es wurde abgestritten, dass man Hamas-Propaganda verbreite. Allerdings verstärken inzwischen veröffentlichte Redebeiträge auf dem Blog der Gruppe Zweifel an den Beteuerungen. In einem heißt es, die kanadische Transaktivistin und Autorin Kai Cheng Tom zitierend: „Auf dem Weg zur kollektiven Befreiung ist es absolut notwendig, dass wir die Fähigkeit zur Nuancierung entwickeln, ohne das Grundprinzip der Integrität aufzugeben. Nuanciertheit bedeutet anzuerkennen, dass es komplexe historische und kulturelle Faktoren gibt, die den Zionismus für viele jüdische Menschen attraktiv gemacht haben, und dass Antisemitismus heute lebendig und real ist. Integrität bedeutet, daran festzuhalten, dass diese Gründe den Genozid, den wir heute in Palästina erleben, NICHT RECHTFERTIGEN. Integrität bedeutet, dass Palästina befreit werden muss.“

Nützliche Idioten der Hamas

Wovon oder besser: von wem muss Palästina befreit werden? Was heißt das in letzter Konsequenz? Wie sich die islamistischen Judenhasser und ihre linkstotalitären Verbündeten die Befreiung vorstellen, hat der Hamas-Terror unmissverständlich gezeigt: „Am 7. Oktober 2023 wurden über 1200 Menschen jeden Alters gefoltert, verstümmelt, verbrannt. Mit Jubelgeschrei“, schreibt Schwarz-Friesel in ihrem Kommentar in der „Welt“.

In einer Stellungnahme vom 23. Juni auf ihrem Blog schreibt meeTIN* UP, dass sie ihre Veranstaltung diskreditiert sähen und allein für den Inhalt des Demoaufrufs verantwortlich seien. Bei ihrer Wortwahl hätten sie sich nur an Akteuren wie der UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese orientiert, die sich ihrerseits hinlänglich als blind auf dem islamistischen Auge erwiesen hat. Was auch immer sie zu ihrer Verteidigung ins Feld führen mögen – sie sind mit der kritiklosen Übernahme solcher Falschbehauptungen nur nützliche Idioten der Hamas.

Es ist bisweilen nur schwer erträglich, was unter dem Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit hingenommen werden muss, aber das zeichnet westlich-liberale Demokratien aus, die auch ihre Feinde rechtsstaatlich schützt. Und es ist gut, dass die Hürden hoch sind. Doch mit Steuergeldern muss das nicht alimentiert werden. Hier ist es höchste Zeit, einen Sumpf trocken zu legen.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog. 


 

Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.