Liebich und die Folgen für das Selbstbestimmungsgesetz
Rechtsextremistin Marla-Svenja Liebich hat die Diskussion um das Selbstbestimmungsgesetz wieder entfacht. Trotzdem sich Liebich einer Haftstrafe durch Untertauchen entzogen hat, kehrt keine Ruhe ein. Was die Fürsprecher des Gesetzes nicht wahrhaben wollen: Der Fall entspricht exakt dem Grundgedanken des Gesetzes.
Eine Demo in Schottland 2023 und mehrere Schilder mit dem Slogan „Trans Rights Now“: Das Prinzip der reinen Sprechakttransition gilt im internationalen Menschenrechtsdiskurs als Goldstandard (Foto von Thiago Rocha auf Unsplash).
7. September 2025 | Jan Feddersen
Die Entscheidung, sozusagen, ist vertagt: Marla-Svenja Liebich hat sich dem Haftantritt in der JVA Chemnitz durch Flucht entzogen, die deutschen Behörden wissen nicht, wie sie ihrer habhaft werden können. Mehrere Hundert verurteilte Rechtsextremisten haben sich der Verbüßung ihrer Haftstrafen entzogen und sind untergetaucht, Liebich ist nun eine dieser Personen.
Ihr Fall ist jedoch spezieller als andere, denn Liebich hat in den vergangenen Monaten Furore gemacht, weil sie sich trotz biologischer Männlichkeit als Frau identifizierte und in ein Frauengefängnis inhaftiert werden wollte. Wahrscheinlich exakt dafür wurde eine Änderung des Geschlechtseintrags von „männlich“ zu „weiblich“ vorgenommen. Das ist nach dem aktuell geltenden Selbstbestimmungesetz ohne Nachweise über die Plausibilität dieses Änderungsbegehren möglich. Und daraus folgt nun: Liebich hat in jeder Hinsicht rechtlich als Frau wahrgenommen zu werden.
Rechtsextrem und trans?
Öffentlich führte das zu erheblicher Resonanz: Wie kann das sein, dass ein bekennend queerfeindlicher Rechtsextremist sich als Frau identifiziert? Ist das ein Dilemma, weil das wesentlich dem queeren und grünen Identitätsaktivismus zu verdankende Gesetz einem Menschen nützlich wäre, der gemäß seiner rechtsextremistischen Gesinnung Queerem lieber ein Ende setzen würde? Dazu erklärte der an der Hochschule Merseburg lehrende Sozialwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß im MDR:
Das Selbstbestimmungsgesetz habe sich insofern bewährt, als „auch eine Person, die eher dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet wird und auch entsprechend verurteilt ist, eben davon Gebrauch macht, sich ‚Marla-Svenja Liebich‘ nennt und sich selbst als Frau bezeichnet und verortet. Aus meiner Sicht gilt es dann nach dem Selbstbestimmungsgesetz, dem wiederum Rechnung zu tragen, wie bei anderen Personen auch.“
Selbstbestimmung ohne Nachfragen
Und er hat völlig recht: Liebich, ob man diese Person nun, wie manche Medien, mit ihrem vormals männlichen Namen oder eben entsprechend der als weiblich amtlich dokumentierten Identität anspricht, hat das Selbstbestimmungsgesetz im Wortsinn mit Leben erfüllt. Die Gründe für die möglicherweise nur vordergründig neue Identitätskonfiguration dürfen nicht erfragt werden. Das Selbstbestimmungsgesetz hat ja gerade zum Ziel, die Beweggründe einer Person für eine andere Geschlechtsidentität nicht zu hinter- oder befragen. Transaktivistas behaupteten immer wieder, solche Befragungen seien traumatisierend und demütigend.
Das wirft in der Tat auf das Gesetz selbst ein mieses Licht: Ist das Selbstbestimmungsgesetz juristischer Sondermüll, seine Etablierung durch die vormalige Ampel-Regierung (und besonders durch die Grünen und die FDP) nur modischen Umständen der Zeit geschuldet? Oder war das immer im Spiel dieser durch das Gesetz eingeräumten Lebensmöglichkeiten? Spekuliert wird ja, dass sich Liebich bessere Haftumstände in einem Frauengefängnis verspricht. Oder dass diese Person durch die Aktion das Gesetz selbst der Lächerlichkeit preisgeben wollte? Wir wissen es nicht, Liebich selbst gab hierzu keine Auskunft.
Queere Aktivisten verteidigen Gesetz
Die realexistierende LGBTI*-Szene verteidigt das Gesetz – einige kommentieren nun jedoch, der Fall Liebich dürfe nicht das Selbstbestimmungesetz zur Disposition stellen. Bodo Niendel, vormals Experte in der Linkspartei-Bundestagsfraktion für Queeres, schreibt im nd:
„Das Hochjazzen der Causa Liebich und der Versuch der Union, das SBGG wieder zu kippen, will Mehrheiten in der Mitte und weiter rechts gewinnen. Minderheiten sollen Menschenrechte verwehrt und der Neoliberalismus weiter forciert werden.“
Das ist hübsch und für die Linkspartei weltanschaulich klassisch formuliert und zugleich am Problem vorbeigemogelt: Werden inhaftierte Frauen nicht durch medizinisch-pharmakologisch untransitionierte Personen (also: körperliche Männer) gerade in geschlossenen Räumen wie einem Gefängnis potenziell in Gefahr gebracht? Oder sollte man der Aktivistin Nora Eckert beipflichten, die auf queer.de befindet:
„Wie durchschaubar das schäbige Manöver ist, einen Einzelfall zur Krise des Rechtsstaats hochzustilisieren und einen Neonazi als Kronzeugen aufzurufen, um Minderheitenrechte in Frage zu stellen und lächerlich zu machen“.
Eckert weiter:
„Das SBGG muss sicher gemacht werden gegen jene, die es mit unlauteren Absichten in Misskredit bringen wollen.“
Doch das ist am Problem vorbeiargumentiert: Zu sagen, dass das Gesetz nur für nichtbinäre, Trans- und Interpersonen gelte, ist lächerlich. Das Gesetz definiert eben nicht, was unter „Nichtbinär“, „Trans“ oder „Inter“ zu verstehen wäre.
Mit anderen Worten: Das Gesetz, das sich vor dessen Beschlussfassung im Bundestag keiner Rechtsfolgenprüfung unterziehen musste, gilt auch für Personen wie Marla-Svenja Liebich. Ohne Prüfung. Nur durch Sprechakt. Dass Bundesinnenminister Alexander Dobrindt nun eine Kartei mit den Deadnames von seit 2024 sprechakttransitionierten Personen anlegen lassen möchte: Das ist die Folge eines Gesetzes, das juristisch einfach schlecht gemacht ist und der Reform nötiger denn je bedarf, und zwar gründlich.
Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
Das Selbstbestimmungsgesetz: Ein Desaster mit Ansage
Der Fall von Marla-Svenja Liebich konfrontiert wie kein anderer die Öffentlichkeit mit den Schwachstellen des Selbstbestimmungsgesetzes. Sogar dem Transaktivismus sonst zugeneigte Medien berichten in der Folge kritischer. Für Frauen ist es ein Desaster, dass erst Liebich die Aufmerksamkeit für die Risiken der selbstbestimmten Geschlechtsidentität brachte.
Blick in den Zellentrakt einer Haftanstalt in Berlin. In Deutschland gilt in Sachen Geschlecht das Trennungsgebot bei der Haftunterbringung (Foto von Matthew Ansley auf Unsplash).
1. September 2025 | Till Randolf Amelung
Marla-Svenja Liebich, eine rechtsextremistische Person aus Sachsen-Anhalt, machte in den vergangenen Monaten Schlagzeilen, weil sie ihren Personenstand und ihren Vornamen mithilfe des Selbstbestimmungsgesetzes ändern ließ und seither allen Anwaltspost zukommen lässt, die behaupten, sie sei nicht schon immer eine Frau gewesen. Und noch wichtiger: Liebich wurde inzwischen rechtskräftig zu 18 Monaten Haft verurteilt und wurde zum Antritt der Haft in die Frauen-JVA nach Chemnitz vorgeladen. In den Medien diskutierte man nun, ob Liebich trotz nicht vollzogener medizinischer Angleichung an den weiblichen Geschlechtseintrag in das Frauengefängnis aufgenommen werden muss oder was es sonst noch für Optionen geben würde. Inzwischen steht fest, dass wir vorerst nicht erfahren werden, zu welchem Ergebnis man gekommen wäre, da Liebich kurzerhand untergetaucht ist.
Warnungen vor Risiken im Selbstbestimmungsgesetz
Das Selbstbestimmungsgesetz ermöglicht es seit November 2024 allen erwachsenen BürgerInnen in Deutschland, ohne Plausibilitätsnachweis den Vornamen und Geschlechtseintrag zu ändern. Es war eines der Lieblingsprojekte der Ampel-Koalition unter dem ehemaligen sozialdemokratischen Kanzler Olaf Scholz. Bereits vor der Verabschiedung im Bundestag gab es viele Warnungen, dass eine voraussetzungslose Personenstandsänderung für Probleme sorgen wird. Insbesondere, dass es dann schwieriger wird, biologische Männer mit einer solchen Personenstandsänderung aus Frauenräumen zu verweisen.
CDU/CSU haben das Selbstbestimmungsgesetz von Anfang an abgelehnt, auch mit Verweis auf die Sicherheitslücken. Die aktuelle Liebich-Farce war also absehbar. Daher kommt nun von Innenminister Dobrindt (CSU) der Vorstoß, dass man diese Lücken im Gesetz schließt und nicht mehr bis zur im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD vereinbarten Evaluation des Selbstbestimmungsgesetzes abwartet.
Seine Parteikollegin Susanne Hierl hat das Selbstbestimmungsgesetz bereits in der vorherigen Legistlaturperiode kritisch begleitet:
„Der Fall Liebich zeigt eindrücklich, wozu die Möglichkeit einer voraussetzungslosen Änderung des Geschlechtseintrags führt. Unsere Bedenken waren begründet – selbst beim offensichtlichen Missbrauch des Gesetzes kann die Änderung des Geschlechtseintrags nicht verhindert werden. Dieses Gesetz wird dem Schutz vulnerabler Gruppen und auch den wirklich Betroffenen nicht gerecht. Für mich ist klar: Das Selbstbestimmungsgesetz ist so nicht tragbar. Spätestens nach der vereinbarten Evaluierung muss ernsthaft über eine Neuregelung gesprochen werden.“
Doch die SPD hat bereits klargestellt, dass es mit ihr keine Änderungen am Selbstbestimmungsgesetz geben werde, wie deren rechtspolitische Sprecherin Carmen Weggemann gegenüber dem ZDF sagte. Falko Droßmann, der queerpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, sagte gegenüber dem Spiegel: „Pauschale Verschärfungen oder ein Rückdrehen des Gesetzes lehne ich klar ab“.
„Das Recht, das eigene Geschlecht beim Standesamt ändern zu lassen, wird zunehmend skeptischer gesehen. Diese Möglichkeit sieht das von der Ampelregierung verabschiedete Selbstbestimmungsgesetz vor. Die GLES-Forscher befragten dazu erstmals im Oktober 2022 die Bevölkerung: Damals fanden sie eine knappe Mehrheit, die diesem Vorhaben ganz oder eher zustimmte. Inzwischen bewertet es nur noch ein Drittel der Befragten positiv. Etwa vierzig Prozent lehnen das Gesetz inzwischen ab.“
Womöglich wären die Ergebnisse schon 2022 anders ausgefallen, hätten die Medien damals in Sachen Selbstbestimmungsgesetz ihren Job richtig gemacht und differenziert über das neue Gesetz aufgeklärt. Die Ergebnisse der Zeit-Umfrage passen aber in ein Muster, was bereits in anderen Ländern beobachtet wurde: Sobald in der Bevölkerung besser verstanden wird, welche Konsequenzen transaktivistische Forderungen haben können, desto eher sinkt die Zustimmung.
Volker Beck, ehemaliger Bundestagsabgeordneter für die Grünen, äußerte sich daher jetzt selbstkritisch im Kurznachrichtendienst X:
„Erste Entwürfe dieses Gesetzes stammen zwar von mir. Ich habe aber schon in der letzten Wahlperiode geraten: ‚Wir müssen aufpassen, dass wir die Gesellschaft mitnehmen. Mit dem Kopf durch die Wand lässt sich Respekt für Trans* nicht durchsetzen.'“
Biologische Männer als Sicherheitsrisiko
Wahrscheinlich atmen gerade einige in deutschen Behörden und in den Parteien erleichtert auf, dass Liebich sich offenbar entschlossen hat, die Möglichkeiten mit einem Personenstandswechsel in Haft nicht weiter juristisch auszuloten, sondern unterzutauchen. Für Frauen ist es ein Schlag ins Gesicht, dass es erst eine rechtsextremistische Person brauchte, um die dem Transaktivismus mehrheitlich wohlgesonnenen Medien aufzuscheuchen und den Scheinwerfer auf die Schwachstellen des Selbstbestimmungsgesetzes zu richten.
Die Insassinnen der JVA Chemnitz haben bereits 2023 leidvolle Erfahrungen mit dem Vorrang einer Geschlechtsidentität vor biologisch-körperlichen Tatsachen machen müssen: Dort wurde ein biologischer Mann aufgrund einer geäußerten Transidentität in die Frauen-JVA verlegt, obwohl keine körperliche Angleichung vollzogen wurde. Dieser Häftling soll weibliche Mithäftlinge und Wachpersonal sexuell belästigt und bedroht haben. Auch soll er im Flur seinen Penis entblößt und masturbiert haben. Erst, nachdem die Insassinnen sich an die Medien gewandt haben, wurde dieser Mann in ein Männergefängnis verlegt.
Ein anderer Fall ist der von Henrico Hilton G., der 2024 in einem Potsdamer Asylheim einen Wachmann erstochen hatte und sich „Cleopatra“ nannte. Trotzdem keine Änderung des Geschlechtseintrags und auch keine medizinische Angleichung stattgefunden hatte, wurde er zunächst monatelang in einem brandenburgischen Frauengefängnis untergebracht. Wie die Welt berichtete, soll er dort weibliche Häftlinge schikaniert und Morddrohungen gegen sie ausgesprochen haben. Ebenso soll G. alle mit Lärm am Tag und in der Nacht über die Heizungsrohre und durch Schlagen gegen die Zellenwände terrorisiert haben. Hinzu seien regelmäßig abwertende, vulgäre und rassistische Beleidigungen von G. ausgesprochen worden. Auch hier wurde dem Spuk schließlich durch die Überführung in eine Männer-JVA ein Ende bereitet, wo er eigentlich von Beginn an hätte untergebracht werden müssen.
„Der Fall Liebich ist kein kurioser Einzelfall, er ist ein Menetekel. Er zeigt, wie leichtfertig die Ampel-Regierung ein ideologisches Projekt durchgedrückt hat: Ohne Rechtsfolgenabschätzung, ohne Blick auf Sicherheit, ohne Rücksicht auf Frauenrechte.“
Die SPD wäre gut beraten, sich endlich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen und Verantwortung für den auch von ihnen begangenen schwerwiegenden Fehler namens Selbstbestimmungsgesetz zu übernehmen. Anstatt zu blockieren, sollte man sich mit der Union zusammensetzen und ein neues Gesetz erarbeiten, was das Selbstbestimmungsgesetz ablöst. Denn: Die nächsten kontroversen und zugleich vermeidbaren Fälle lassen sicher nicht lange auf sich warten.
Wenn man aus dieser Farce etwas lernen sollte, dann dass auch Forderungen von vulnerablen Minderheiten sorgfältig zu prüfen sind. Ebenso muss man standhaft gegenüber moralischen Erpressungen sein, wenn Forderungen einen deutlichen Haken für andere haben.
Till Randolf Amelungist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.
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Folsom und Schwestern der Perpetuellen Indulgenz: Hommage an zwei Institutionen schwuler Kultur
Am heutigen Sonntag endet das Folsom Europe Straßenfest in Berlin – das Hochamt für die Fetischcommunity. Auch die Schwestern vom Orden der Perpetuellen Indulgenz, die seit der Aidskrise für karikative Projekte in der Community sammeln waren wieder dabei. In einer sehr persönlichen Rede hat der Schauspieler Gustav Peter Wöhler berichtet, welche Bedeutung Folsom und die Schwestern für ihn als schwuler Mann haben.
Gustav Peter Wöhler (Foto: Jeanne Degraa).
Redaktionelle Vorbemerkung: Dieser Text dokumentiert die Rede von Gustav Peter Wöhler, die er bei der Release-Party des Jahrbuch Sexualitäten 2025 am 18. Juli in der taz Kantine gehalten hat. Darin würdigt er als Erstleser die Essays „Ist der Ledermann noch zeitgemäß?“ von Denis Watson und „Schluss mit der Schuld!“ von Schwester Daphne Sara Maria Sanguina Mater d`Or.
31. August 2025 | Gustav Peter Wöhler
Wenn du eine Community sichtbar machen willst, musst du ihr eine Bühne geben.
Alain Rappsilber, Box Magazin Nr. 325, September 2020
Als mein schwules Erwachen 1978 begann, waren Lederkerle für mich das Non plus Ultra ! Ich wollte so einem Mann gehören, ein devoter Meisterschüler meines Herrn werden. Aufgewachsen in dörflicher Ödnis, wo der Bauer in der Nachbarschaft mit seinen Gummistiefeln schon Erektionen hervorrief, kam ich dann 1982 nach Hamburg. Hier liefen die Leder-und Fetischkerle mutig und selbstbewusst durch die Lange Reihe oder die Talstrasse. Ein El Dorado.
Doch habe ich es bis heute nicht einlösen können, mich mit Leder oder Gummi einzukleiden. Da war zuviel Angst und Scham, trotz meines offensiven Auftretens als Schwuler. Ein Lederschwuler war noch einmal ’ne Ecke höher angesiedelt , jedenfalls für mich. Und mein damaliger Regisseur Peter Zadek schrie seine Kostümbildnerin an, als sie es wagte mich in einem Shakespeare Stück, in eine enge Lederchaps zu zwängen: „Ich will auf dieser Bühne keine faschistischen Klamotten sehen!“
Ich las dann Eppendorfers: „Der Ledermann spricht mit Hubert Fichte“. Beide durfte ich noch in Hamburg zu ihren Lebzeiten kennenlernen. Der Ledermann ist ein Kerl, ein Mannsbild ein weicher und sensibler Mensch.
Nicht nur kinky Straßenparty
Und Folsom Street Fair oder Folsom Europe ist nicht bloß eine kinky Straßenparty für Fetisch Fans und ihre Voyeure, die sich anschließend darüber aufregen, dass ihre Fantasien nicht eingelöst wurden bzw. dass ja auch kleine Kinder zusehen mussten und ihre Eltern jetzt damit löchern, auch so eine schöne Hunde-oder Pferdemaske zu Weihnachten auf dem Gabentisch vorzufinden.
Es ist ein Fest, um das Leben zu feiern, das Leben, das vielen queeren Menschen durch die HIV und AIDS Jahre genommen wurde. An diese Menschen zu erinnern und der Prävention unter die Arme zu greifen, wurde die „Folsom Street Fair“ 1984 in San Francisco ins Leben gerufen. Patrick Toner, einer der Mitbegründer sagte es in seinen Worten:
„Es war ein Statement: Wir sind hier, wir sind laut und wir lassen uns nicht auslöschen, weder durch eine Krankheit noch durch die Politik.“
Dass es vor allem Leder und Fetisch Schwule waren, die sie gegründet haben lag wohl auch an der traurigen Situation, dass aus diesen Kreisen, die wohl häufigsten HIV- und Aidsfälle und -tode beklagt werden mussten.
Folsom Europe wurde 2004 erstmals in Schöneberg veranstaltet. Es hat sich im Lauf der Jahre zu einem vielfältigen Schauplatz unterschiedlichster Gruppen und Fetische entwickelt und zeigt die Bandbreite und Lust sexueller Identitäten auf, ohne dabei die politischen und sozialen Aspekte, die damit zusammenhängen, unter den Tisch zu kehren. Ich danke Denis Watson sehr für seinen Beitrag im Jahrbuch Sexualitäten 2025. Ich habe vieles neu erfahren. Viele Klischees wurden aufgeklärt und entwirrt
Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen.
Mit Beiträgen von: Kerstin Söderblom, Dinçer Güçyeter, Zaal Andronikashvili, Manuela Torelli, Chantalle El Helou, Till Randolf Amelung, Ioannis Dimopulos, Julia Kaiser, Denis Watson, Schwester Daphne Sara Maria Sanguina Mater dʼOr OSPI, Karl-Heinz Steinle, Norbert Finzsch, Aaron Gebler, Werner Renz, Clemens Schneider, Vojin Saša Vukadinović und Alexander Zinn. 232 S., gebunden mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-8353-5917-8, 34,00 Euro.
Perpetuelle Indulgenz und schwules Selbstbewusstsein
Ebensolchen Dank spreche ich Schwester Daphne Sara Maria Sanguina Mater d’Or vom Orden der Schwestern der Perpetuellen Indulgenz für ihren Beitrag in diesem Jahrbuch aus.
Auf keinem Folsom, auf keinem CSD, auf so gut wie allen schwulen Festivitäten und queeren Demonstrationen trifft man sie an und sie geben mir jedes Mal das Gefühl, am richtigen Ort zu sein. Ihre Art mit den Menschen das Fest der Liebe, des schwulen Selbstbewusstseins, der Würde und des politischen Zusammenhalts zu feiern, zu leben, zu lieben, packt mich jedes Mal an der Wurzel meiner eigenen Empathie.
Perpetuelle Indulgenz: dauerhafte Gnade, Güte, Nachsicht, Nächstenliebe. Diese Nonnen bezeichnen sich auf ihrer Website als aktivistisch, spirituell und ein bisschen verrückt. Sie wollen uns die „Schuld“ nehmen, uns mit Ihrer Liebe und Verbundenheit, das Recht auf Lust und Freude an der schwulen, queeren Sexualität wiedergeben oder den ersten Schritt dazu, zu wagen.
Und sie erinnern uns mit jeder Geste und mit jeder Erscheinung daran, all die Bedürftigen und Kranken nicht zu vergessen und die vielen Freunde, PartnerInnen, LiebhaberInnen, die an AIDS sterben mussten, zu ehren und sie durch unsere Liebe und Gedanken unter uns zu wissen. Gegründet wurde der Orden 1979 in San Francisco und wurde schnell zu einem Bestandteil der Folsom Street Fair. Mittlerweile hat sich der Orden über die ganze Welt verbreitet.
Ihre farbenfrohe Erscheinung ist bis heute überall auf der Welt bei schwulen Festen und Demos nicht mehr wegzudenken. Ihre weiß geschminkten Gesichter symbolisieren den Tod und die bunten bis schrillen Ornate, die sie tragen, und die in jedem Land, in dem ihr Orden existiert, anders ausfallen, das Leben und die Freude und Lust. Ihre Spiritualität zeugt von allumfassender Liebe und Verständnis.
Selbstverständlich wird auf all diesen Events fleißig die Kollekte gesammelt, die 100 Prozent an die bedürftigen Stellen weitergeleitet wird. Die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz sind anerkanntes Mitglied der Deutschen Aidshilfe e.V. und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Landesverband Berlin e.V.
Wer jetzt auf den Gedanken kommt, eine dieser Nonnen zu werden, sollte schnellstens dieses Buch kaufen und Schwester Daphnes Beitrag lesen oder ins Gespräch mit Schwester Daphne Sara Maria Sanguina Mater d`Or kommen. Es wird ein harter, entbehrungsreicher Weg, um in diesen Orden einzutreten. Prüfungen und Exerzitien wechseln einander ab, doch wer durchhält wird von Liebe und Glückseligkeit durchströmt und bekommt auf jedem CSD-Truck den besten Platz. Umsonst!
Gustav Peter Wöhler ist ein deutscher Schauspieler, Sänger und Hörspielsprecher. Als Theaterschauspieler hat er mit Regisseuren wie Claus Peymann und Peter Zadek zusammengearbeitet. Im Fernsehen ist er vor allem durch Krimiserien bekannt geworden. 2013 erhielt er den Deutschen Hörbuchpreis als Bester Interpret. Mit seinem Mann Albert Wiederspiel lebt er in Berlin. Im Februar 2021 nahm er an der Initiative #actout im SZ-Magazin mit 184 anderen queeren SchauspielerInnen teil.
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Folsom Europe 2025: Mehr als nackte Kerle in Leder
Warum Folsom Europe alle angeht, und wieso queeres Leben ohne Fetisch unvollständig erzählt wäre. Ein Gastbeitrag.
Besucher des Folsom Europe (Foto: Heinrich von Schimmer).
27. August 2025 | Denis Watson
Ja, Ich gebe es zu, wenn man „Folsom Europe“ hört, denken viele sofort an halbnackte Männer in Leder und Latex, mit Hundemasken auf der Straße. Berlin im Ausnahmezustand quasi, Sodom und Gomorrha auf der Fuggerstraße. Klingt spektakulär, ist aber nur die halbe Wahrheit.
Denn was hier im Spätsommer jedes Jahr in der Fuggerstraße stattfindet, ist viel mehr als eine schrille Freakshow für Voyeur*innen. Es ist ein internationales Treffen einer Community, die sonst oft im Schatten steht: Menschen, die Sexualität nicht nur im Schlafzimmer, sondern auch als Ausdruck von Identität, Nähe und Solidarität verstehen. Kink, Fetisch, BDSM, dass sind Begriffe, die viele mit Pornoklischees verbinden, sind für uns Teil eines gelebten queeren Spektrums.
Und genau darum geht es: Queeres Leben ist vielfältig und Fetisch gehört halt auch dazu. Wer von queerer Sichtbarkeit spricht, sollte neben den Regenbogenfahnen uund Prideparaden auch diejenigen, die sich in Leder, Gummi oder Uniformen zuhause fühlen nicht vergessen. Denn auch wir fordern nichts anderes ein als alle anderen: das Recht, offen zu leben, wie wir sind.
Folsom Europe ist dabei mehr als nur ein Straßenfest. Es ist eine Plattform für Sichtbarkeit. Jedes Jahr kommen Tausende aus aller Welt nach Berlin. Sie bringen ihre Geschichten mit, ihre Kulturen, ihre Lust und finden hier einen Safe Space, an dem sie nicht schief angeschaut werden, sondern Schulter an Schulter feiern können. Die Botschaft: Du bist nicht allein.
Und weil es nicht nur ums Feiern geht, sammeln wir jedes Jahr Spenden an den Eingängen. Hunderttausende Euro sind so über die Jahre zusammengekommen. Geld, das in Gewaltprävention, Aidshilfe, Aufklärungskampagnen fließt. Das mag weniger sexy klingen als ein Lederharnisch, ist aber mindestens genauso wichtig.
Ja, wir sind laut, manchmal provokant und natürlich immer gut poliert. Aber vor allem sind wir eine Community, die füreinander da ist. Die Bilder von Männern in Harnesses, von Pups in Hundemasken oder von Paaren in Latex sind schön fürs Auge, aber die Substanz liegt darunter: Zusammenhalt, Solidarität, Sichtbarkeit.
Warum also sollte Folsom Europe alle angehen? Weil es zeigt, dass Freiheit nicht verhandelbar ist. Dass queeres Leben immer mehr ist als das, was man auf den ersten Blick sieht. Und dass unsere Gesellschaft genau davon profitiert, wenn auch jene sichtbar werden, die sonst am Rand stehen.
Fetisch ist nicht der Gegensatz zu Politik – er ist politisch. Er erinnert daran, dass Körper, Lust und Lebensformen nicht der Norm gehorchen müssen, um wertvoll zu sein. Und er lädt alle ein, sich darauf einzulassen. Vielleicht mit Verwunderung, vielleicht mit einem Schmunzeln, aber hoffentlich immer mit Respekt.
Folsom Europe ist, um es mit einem Augenzwinkern zu sagen: The sexiest social. Aber es ist eben auch ein politisches Statement. Und das geht uns alle an.
Denis Watson, geb. 1987, Grafiker und Vorstand des Folsom Europe e. V., eines der größten europäischen Fetisch-Events mit starkem Fokus auf queere Community-Arbeit; er engagiert sich aktiv für die Sichtbarkeit und Vernetzung queerer Subkulturen, insbesondere im Bereich Fetisch und Puppy Play; seine Arbeit umfasst Grafikdesign, PR und die Entwicklung von Merchandising-Strategien, zudem beschäftigt er sich mit der Darstellung queerer Ästhetik in visuellen Medien.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
SEGM und EPATH: Zwei medizinische Konferenzen zu Trans
Im September finden im Abstand von nur einer Woche zwei medizinische Fachkonferenzen statt: eine trans-affirmativ orientierte in Hamburg und eine mit kritischer Haltung gegenüber dem affirmativen Modell in Berlin. Es ist eine vertane Chance, den fachlichen Diskurs in einer gemeinsamen Veranstaltung zu suchen und somit der Verantwortung insbesondere gegenüber Minderjährigen gerecht zu werden.
Berlin: SEGM wird in der Bundeshauptstadt eine Konferenz abhalten (Foto: Claudio Schwarz).
24. August 2025 | Till Randolf Amelung
Nicht nur politisch, auch in medizinischer Hinsicht gibt es im Themenfeld „Trans“ Kontroversen. Besonders wenn es um die Frage geht, ob bereits Kinder und Jugendliche in einer vom biologischen Geschlecht abweichenden Geschlechtsidentität bestätigt werden sollen, auch mit Hilfe von Medikamenten wie Pubertätsblocker. Im September werden in Deutschland gleich zwei Fachkonferenzen stattfinden, die sich mit diesen aktuellen stritten Fragen beschäftigen wollen: Vom 4. bis 6. September veranstaltet die European Professional Association for Transgender Health (EPATH) in Hamburg eine Konferenz. Nur eine Woche später lädt die Society for Evidence-Based Gender Medicine (SEGM) nach Berlin ein.
Proteste gegen SEGM-Veranstaltung
Doch der Umgang mit diesen beiden Veranstaltungen unterscheidet sich erheblich: Gegen die Konferenz der SEGM wird zu Protest aufgerufen. Die Deutsche Gesellschaft für Trans*- und Inter*geschlechtlichkeit e.V. (dgti) schrieb gar am 10. Juni in einer Pressemeldung:
„Vor der Teilnahme an dieser Tagung wird an dieser Stelle ausdrücklich gewarnt, weil diese Veranstaltung aufgrund begründeten Verdachts gegen die Gesundheitsversorgung geschlechtsdiverser Menschen gerichtet ist.“
„Wir lassen nicht zu, dass in Berlin transfeindliche Hetze als seriöse Wissenschaft verkauft wird. Wir treten ein für eine Gesundheitsversorgung, die auf den Bedürfnissen, Rechten und der Selbstbestimmung von trans Menschen basiert und nicht auf Ideologie und Falschinformation.“
Ein Blick in das sehr dichte Konferenzprogramm zeigt, weshalb Transaktivistas so auf die SEGM-Veranstaltung reagieren. Der Fokus dieser Konferenz liegt auf dem Feld „Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen“ und thematisiert wesentliche Aspekte, die in den vergangenen Jahren für Kontroversen gesorgt haben. Insbesondere versammeln sich dort Personen, die das von Transaktivistas promotete gender-affirmative Modell bei Kindern und Jugendlichen kritisieren. Mit „gender-affirmativ“ ist gemeint, die geäußerte Geschlechtsidentität ohne Umwege zu bestätigen und so früh wie möglich mit Pubertätsblockern sowie gegengeschlechtlichen Hormonen in die körperliche Entwicklung einzugreifen.
Schwache Evidenz
Doch die medizinische Evidenz für diesen Ansatz ist schwach, was bedeutet, dass langfristige Risiken für die mit Pubertätsblockern Behandelten unbekannt sind und daher nicht ausgeschlossen werden können. Besonders eindrücklich belegte dies der Cass-Report aus Großbritannien, weitere Paper aus anderen Ländern stützen den Befund. Vorliegende Berichte legen auch nahe, dass bei dem affirmativen Ansatz Kinder und Jugendliche durchs Raster rutschen, die andere Unterstützung für ihre Probleme mit dem Geschlecht benötigen, aber keine medikamentösen Eingriffe in die biologische Entwicklung.
Es ist bekannt, dass gerade Mädchen und Jungen mit einer krisenhaften homosexuellen Entwicklung Geschlechtsdysphorie empfinden können. Ebenso sind Mädchen generell anfälliger für Pubertätskrisen mit geschlechtsdysphorischen Empfinden. Weitere Risikogruppen sind Minderjährige mit Autismus sowie Belastungen durch schwerwiegende frühe Traumatisierungen, insbesondere durch sexuelle Gewalt.
Für Transaktivistas und ihre Verbündeten im medizinischen Feld gilt jedoch, dass in allen Fällen die Affirmation der Geschlechtsidentität Vorrang haben soll. Eine ausführliche psychiatrische Differentialdiagnostik und ein Erforschen anderer Lösungsmöglichkeiten wird als „transfeindlich“ abgekanzelt. Dies wird von anderen medizinischen und psychotherapeutischen Fachleuten zunehmend in Zweifel gezogen, auch vor dem Hintergrund, dass es in den vergangenen zehn Jahren einen spürbaren Anstieg an Behandlungssuchenden gab, der bislang nicht plausibel erklärt werden kann. Außerdem gibt es zunehmend Berichte über junge Menschen, die sich im Nachhinein durch irreversible Eingriffe einer Transition geschädigt fühlen, da ihnen vorher keine alternativen Wege aufgezeigt wurden.
Nur gender-affirmativ?
Im Programm der SEGM-Konferenz werden all die strittigen Fragen aufgegriffen und zur Diskussion gestellt. Niemand der gelisteten Referenten will eine Gesundheitsversorgung für „geschlechtsdiverse Menschen“ abschaffen. Gleichwohl aber wird in Frage gestellt, ob es nur „affirmation only“ geben darf – und das ist nicht nur legitim, sondern angesichts der Irreversibilität medizinischer Transitionsmaßnahmen und der besonderen Schutzbedürftigkeit von Minderjährigen auch notwendig.
Im Gegensatz dazu wirkt das Programm der EPATH-Konferenz so, als würden kritische Perspektiven auf das affirmative Modell keine faire Würdigung erhalten. Hier treten, soweit auf der Website des Veranstalters ersichtlich, nur VerteidigerInnen dieses Ansatzes auf. Auch der Psychiater Georg Romer und seine Schweizer Fachkollegin Dagmar Pauli werden dort sprechen, beide verantworten maßgeblich die umstrittene deutsche S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnose und Behandlung“.
Wie schwer sich Romer mit Kritik am von ihm vertretenen affirmativen Ansatz zu tun scheint, offenbarte sich 2024 auf der Jahreskonferenz der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP). Dort war eine Diskussionsveranstaltung im Programm geplant, bei der neben Romer auch zwei Kritiker am affirmativen Modell, Florian Zepf und Veit Rössner, sprechen sollten. Jedoch waren die Bedingungen kurzfristig so gestaltet worden, dass Zepf und Rössner keinen gleichberechtigten Raum bekamen, ihre Kritik vorzutragen und zogen daher ihre Teilnahme wieder zurück.
Politische Wertschätzung für trans-affirmative Konferenz
Interessant ist zudem, wie unterschiedlich die Aufmerksamkeit der Politik ist, die den Konferenzen zuteilwird: Die trans-affirmative EPATH-Konferenz wird von der Hamburger Wissenschaftssenatorin Maryam Blumenthal (Bündnis 90/ Die Grünen) mit einem Grußwort beehrt, was freilich zur Linie ihrer Partei passt. Auf der SEGM-Konferenz wird sich offenbar kein politischer Vertreter sehen lassen. Dafür wird diese Konferenz aber von der International Association of Child and Adolescent Psychiatry and Allied Professions (IACAPAP), der internationalen medizinischen Fachorganisation der Kinder- und Jugendpsychiater, empfohlen. Auf der Website der EPATH-Konferenz sieht man hingegen kein Logo einer medizinischen Fachgesellschaft bei den Unterstützern.
Nun werden im kommenden Monat also zwei inhaltlich gegensätzliche Konferenzen stattfinden. Dabei wäre es notwendig, diese unterschiedlichen Perspektiven in einer gemeinsamen Konferenz zu diskutieren, um die bestmöglichen Behandlungsansätze für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie zu entwickeln.
Wohin das Beharren auf Ideologie, anstatt auf ethischer Verantwortung und medizinischer Evidenz führen kann, ist eindrucksvoll am Beispiel der USA zu sehen. Dort haben Trumps MAGA-Republikaner das Thema erfolgreich besetzen können und reihenweise gesetzliche Verbote für Behandlungen nach dem affirmativen Modell bei Minderjährigen erlassen. Zuletzt bestätigte der Supreme Court, dass solche Verbote nicht gegen die Verfassung verstoßen.
Gesetzliche Verbote sind die Blutgrätsche, die ein Staat einsetzen muss, wenn die Fähigkeiten zur Korrektur in einem wissenschaftlich-medizinischen Feld nicht mehr vorhanden sind. Die deutschen Transaktivistas und ihre Allies wären also gut beraten, nicht gegen die SEGM-Konferenz zu protestieren, sondern das Gespräch mit den dortigen Fachleuten zu suchen und sich zu fragen, ob man mit „affirmation only“ wirklich allen hilft.
Till Randolf Amelungist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
Cancel Culture: Wie verletzte Gefühle Meinungskorridore zusperren
Der Vorwurf von Transfeindlichkeit kann wie nichts anderes dafür sorgen, dass man Mechanismen der Cancel Culture am eigenen Leib erfährt – bis hin zur Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz. An einem Fall zeigt sich, wie hochgradig manipulativ Aktivistas diesen Vorwurf einsetzen – und damit nicht nur Personen, sondern auch einer demokratischen Debattenkultur schaden.
Cancel Culture: Kein Durchkommen für eine demokratische Debattenkultur (Foto von Othman Alghanmi auf Unsplash).
20. August 2025 | Till Randolf Amelung
Ein kleiner Fall zeigt eindrucksvoll, wie Cancel Culture funktioniert: Die Kommunikationsberaterin Sigi Lieb wurde vom Berufsverband Vielfalt und Karriere e.V. (früher: Völklinger Kreis) für einen Workshop zum Thema „Gendern für Profis“ gebucht. Doch wenige Tage nach dem Start der Werbung für diese Veranstaltung, wurde diese vom Bundesvorstand des Verbands wieder abgesagt. Wie Lieb auf der Plattform LinkedIn in einem öffentlichen Beitrag schreibt, seien an die Adresse der Veranstalter Beschwerden gerichtet worden, sie wäre transfeindlich. Kurios: Dabei wäre es in der Veranstaltung um Fragen der praktischen Umsetzung von geschlechtersensibler Sprache und nicht um das Thema „Trans“ gegangen.
Lieb traf die darauf folgende Absage unvorbereitet, und sie machte ihrer Frustration Luft:
„Seit Erscheinen meines Buches ‚Alle(s) Gender‘ im März 2023 gibt es eine radikalisierte Minderheit, die gegen mich hetzt, mobbt, hinter meinem Rücken Auftraggeberinnen kontaktiert und versucht, meine wirtschaftliche Existenz zu zerstören. Ich dachte, der Völklinger Kreis sei stabil und zeige Rückgrat. Tut er nicht, sondern knickt ein, fragt mich nicht einmal, sondern sagt ab. Danke für nichts. Diese Art von Hetze ist nicht nur eine psychische Tortur, sondern auch eine körperliche Erfahrung. Ich habe kaum geschlafen und mich viel übergeben. Die wirtschaftliche Bedrohung brauche ich nicht zu erklären.“
Frank Sarfeld, ein Mitglied des Bundesvorstands des VK, reagierte auf Liebs Öffentlichmachen der Veranstaltungsabsage ebenfalls auf LinkedIn und bestätigte darin, dass jene an den Vorstand herangetragenen Bedenken den Ausschlag für die Ausladung Liebs gaben:
„Die für den 8. September geplante Veranstaltung ‚#Gendern für Profis‘ war die Initiative einiger Mitglieder unseres Verbands. Kurz nach Veröffentlichung der Einladung erreichten uns zahlreiche Rückmeldungen mit Bedenken zur Person der Referentin, insbesondere im Hinblick auf ihre Positionen zu #trans* Themen. Nach Abwägung aller Aspekte kam der Vorstand des VK zu dem Schluss, dass unter diesen Umständen der offene und unbefangene Austausch, den wir bei unseren Veranstaltungen anstreben, nicht gewährleistet gewesen wäre. Wir nehmen die geäußerten Bedenken ernst und bedauern gleichzeitig den Unmut der Referentin. Angesichts des Zeitplans war die Absage die einzig sachgerechte Entscheidung.“
Unkonkrete Vorwürfe
Die Bedenken wurden jedoch nicht weiter konkretisiert – auch nicht gegenüber der Referentin selbst, wie diese sagte. In einem Hintergrundgespräch von IQN mit einem Vertreter des VK wurden ebenfalls keine Details offenbart. Lieb macht das fassungslos, da sie sich nach eigener Darstellung immer darum bemühe, Transpersonen nicht zu misgendern (d.h. nicht mit abgelegten Namen und Anrede zu adressieren) sowie sich seit Jahren für geschlechtergerechte Sprache einsetze – trotz Anfeindungen aus dem politisch rechten Spektrum.
Aus anderen Cancel-Fällen ist bekannt, dass es selten detaillierte Begründungen braucht, um von Veranstaltern zu verlangen, dass eine bestimmte Person nicht auftreten/engagiert/gebucht werden darf. Unter dem LinkedIn-Beitrag von VK-Vorstandsmitglied Sarfeld wird dies dankenswerterweise von anderen Mitgliedern der Plattform in den Kommentaren vorgeführt. Ein Mann, der auch Mitglied im VK ist, schrieb:
„Wir stehen für Respekt, Vielfalt und Miteinander – und dafür, dass sich alle bei unseren Veranstaltungen sicher und willkommen fühlen können.“
Lieb wiederum ging in die Offensive und kommentierte darunter ihre Vermutung, weshalb ihr „Transfeindlichkeit“ vorgeworfen wird:
„Ich bin der Meinung, wir müssen über Interessenskonflikte zwischen Frauenrechten, Homosexuellenrechten und Transrechten offen reden und dürfen diese Debatte nicht rechten Medien überlassen. Es gibt Teile [der Transaktivistas, Anm. d. A.], die fordern ‚No Debate‘. Aus dieser Ecke kommt, soweit ich das beobachte, die Verleumndung [sic!] und der Hass gegen mich und gegen alle, die es wagen, offen debattieren zu wollen.“
Wie bestellt, kommentierte dort auch eine Transfrau und richtete sich an Lieb:
„Dann lesen Sie sich mal durch, mit welchen unsinnigen Argumenten Sie gegen das Selbstbestimmungsgesetz öffentlich agitiert haben. Glauben Sie, dass die Art und Weise, in Sie das dort verbreiten, dem Thema angemessen ist?“
Lieb reagierte darauf:
„Bitte nennen Sie mir konkret, welches Argument Sie warum kritisieren. Dann können wir uns in Sachargumenten und in Respekt austauschen.“
Doch die Transfrau schlug Liebs Angebot aus:
„Ich werde als gelernte Politikwissenschaftlerin und Jursitin [sic!], die selbst zum gesellschaftlichen Spektrum der trans Gender gehört, sicher keine Diskussion mit Ihnen über dieses Thema führen, weil ich mich durch Ihre Haltung in meiner Würde verletzt fühle.“
Verletzte Würde als Manipulationstaktik
Mit Verweis auf (vorgeblich) verletzter Würde oder eine (behauptete) herausragende Vulnerabilität (Verletzlichkeit) lässt sich vor allem beim Thema „Trans“ jede Sachdebatte abwürgen. Wer nicht zu hundert Prozent die Positionen und Forderungen transaktivistischer Akteure und Verbände bejaht, wird von diesen bekämpft. Doch was wird im Fall Sigi Liebs eigentlich bekämpft?
In ihrem Blogbeitrag zum Inkrafttreten des Selbstbestimmungsgesetz erläutert sie, welche Kritikpunkte es am Gesetz gibt. Insbesondere der Verzicht auf jedweden Nachweis über die Motivation für eine Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags öffnet Tür und Tor für Personen, denen es offensichtlich um andere Gründe als um einen Einklang zwischen Identität und Ausweisdokumenten geht. Besonders gefährdet sind davon Frauen, weshalb einige von ihnen vehement gegen das Selbstbestimmungsgesetz kämpfen.
Seit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes gibt es Berichte über fragwürdige Fälle und Schlupflöcher. Zuletzt machte der Fall von Marla-Svenja Liebich Schlagzeilen, da bei der Person aus der rechtsextremistischen Szene von Halle erhebliche Zweifel bestehen, ob die Inanspruchnahme des Selbstbestimmungsgesetzes tatsächlich auf einen Konflikt mit dem Geschlecht beruhte oder nur eine drohende Inhaftierung vermieden werden sollte. Nun wurde bekannt, dass Liebich in ein Frauengefängnis soll – trotz nicht vollzogener körperlicher Angleichungsschritte an das weibliche Geschlecht.
Auch die Schlupflöcher, die sich durch das Selbstbestimmungsgesetz auftun, sind interessant. Eine auf Steuerrecht spezialisierte Anwaltskanzlei informiert offen über die Möglichkeit, mittels einer Änderung des Geschlechtseintrags Steuern einzusparen:
„Die voraussetzungslose Änderung des Geschlechtseintrags aufgrund der neuen Rechtslage nach dem SBGG kann vor einer Schenkung oder Veräußerung gegen Leibrente zu steuerlichen Vorteilen führen.“
Eine vorherige, sorgfältige Rechtsfolgenabschätzung war jedoch von den Verfechtern des Selbstbestimmungsgesetzes unerwünscht – auch hier wurden gern verletzte Würden und Gefühle ins Feld geführt. Wie lange kann man noch auf diese Weise manipulativ notwendige Debatten abwürgen?
*Redaktioneller Hinweis: Uns erreichte telefonisch die Klarstellung eines Vertreters des VK, dass sie der Referentin ein Ausfallhonorar zahlen werden und sich von Vorwürfen einer Existenzgefährdung distanzieren. Wir weisen darauf hin, dass es in der beanstandeten Passage um ein Muster geht, was über diesen einzelnen Fall hinausreicht. Das Zitat Sigi Liebs beinhaltet ja bereits, dass es weitere Fälle gab. In der Summe hat es sehr wohl Auswirkungen auf die wirtschaftliche Existenz. Daher bleiben wir bei unserer Darstellung.
Till Randolf Amelungist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
Ralf König – der schwule Szene-Chronist feierte seinen 65. Geburtstag
Der für seine Knollennasen berühmte Comiczeichner Ralf König ist am 8. August 65 Jahre alt geworden. Seit den 1980er Jahren begleitet er die queere Szene als Chronist durch alle Wirren und wird heute von einer großen Fangemeinschaft geschätzt. Doch auch er machte bereits Bekanntschaft mit aktivistischem Tugendfuror, worüber er im Jahrbuch Sexualitäten 2020 berichtete.
Ein echter Ralf König aus dem Jahrbuch Sexualitäten 2020: Zwietracht den Unzüchtigen! (Foto: Ralf König).
17. August 2025 | Redaktion
Mit etwas Verspätung gratuliert auch die IQN Ralf König zum 65. Geburtstag! Niemand hat so treffend und so humorvoll die queere Szene in Comics festgehalten, wie er. Sein Humor, mit dem er pointiert und mit liebevoller Verbundenheit die Dinge beim Namen nennt, zeigt er auch in seinem Essay „Brüsseler Spitzen“ für das Jahrbuch Sexualitäten 2020, wo er über den queerfeministischen Furor gegen ein Wandgemälde in Brüssel berichtet. Anlässlich seines Geburtstages stellen wir diesen Essay kostenfrei als PDF zur Verfügung.
Diskriminierendes Wandgemälde
2019 wurden in Brüssel Vorwürfe gegen ein zu diesem Zeitpunkt bereits vier Jahre existierendem Wandgemälde von Ralf König erhoben, auf dem ein Tableau an Menschen im berühmten Knollennasenlook vertreten war, was die Vielfalt der queeren Szene zeigen sollte. Vier Jahre nach der Einweihung wurde das Bild von Aktivistas mit den Worten „RACISM“ und „TRANSPHOBIA“ besprüht. Die Darstellungen einiger der Figuren sei rassistisch und transphob – bemängelt wurden dicke rote Lippen bei einer schwarzen Frau und das Aussehen einer männlichen Figur in Frauenkleidung. Deshalb solle der Künstler das Gemälde überarbeiten.
Allerdings wurde in der Berichterstattung deutlich, dass sich die queerfeministischen Aktivistas nicht mit Königs Bildsprache auseinandergesetzt haben. Dicke rote Lippen sollen geschminkte Lippen symbolisieren und der Mann im Kleid mit Perücke ist eher als Tunte oder Dragqueen zu lesen, anstatt als Transfrau. Das stellte auch Ralf König in einer Antwort an die Brüsseler Aktivistas klar. Doch es half nichts, von ihren Interpretationen wollten die Aktivistas nicht abrücken.
Verbissene Interpretationen
Im Essay kommentierte König diese verbissene Interpretation:
„Es ist also verwirrend. Plötzlich bin ich als Zeichner transphob. Rassistisch gar, zusätzlich zu dicken- und frauenfeindlich. Letzterer Vorwurf begleitet mich schon seit den frühen Anfängen, obwohl auch meine schwulen Männchen wenig würdevoll testosteronbesoffen durch die Geschichten irrlichtern und meine Heterokerle oft grunzende Idioten sind. Zum Glück sind gut die Hälfte meiner Leser Leserinnen, die das nicht so verkniffen sehen und mitlachen.“
Ralf Königs Gedanken sind über den konkreten Anlass hinaus auch heute noch lesenswert, denn Interpretationskonflikte um Kunstwerke gibt es immer wieder. Erst im Mai dieses Jahres wurde beispielsweise aus dem Foyer eines Bundesamts in Berlin eine nackte Frauenstatue, eine Nachbildung der in Florenz ausgestellten „Venus Medici“ entfernt. Die Gleichstellungsbeauftragte hatte Sorge, diese Figur könnte als anstößig und sexistisch wahrgenommen werden.
Widersprüchliche Anforderungen
Auch darüber, wie sich Begrifflichkeiten wandeln und Anforderungen von Tugendwächternden widersprüchlich sein können, räsoniert König:
„Diese Anekdote und meine Verwirrung darüber beschrieb ich wiederum in meiner Kolumne, die ich quartalsmäßig für die Berliner »Siegessäule« schreibe, benutzte dabei unbedarft meinen vertrauten alten, weißen Wortschatz und bekam den Text vom Redakteur mit Bitte um Korrektur zurück. Ich weiß noch, wie ich mit Olaf, meinem Freund, vor dieser E-Mail saß und wir versuchten zu verstehen, worum es geht. Wir wussten bis dahin tatsächlich nichts von Begriffen wie »Cis-Mann« und »PoC«! Ich fürchte sogar, Wörter wie »Ausländer« oder »farbig« benutzt zu haben, mea culpa! Aber auch von meinen Kölner Freunden wusste kaum jemand, was ein »Cis-Mann« sein soll. Warum der Begriff »farbig« nicht geht, »People of Color« aber okay ist, will mir nicht einleuchten.“
Festhalten lässt sich diese von ihm formulierte Erkenntnis:
„Ebenjenes Motiv meines Brüsseler Wandbildes wurde übrigens zum Welt-Aids-Tag 2019 in Paris für eine HIV-PrEP-Aufklärungskampagne auf Taschen und Rucksäcke gedruckt und fotogen von Schwulen, Lesben, Drags, Schwarzen und François Sagat in die Kamera gehalten. Offenbar gibt es in der Szene keineswegs Einigkeit in der Frage, was PC ist und was nicht. Aber es gibt Diskussionsstoff, und niemand hat Anspruch auf alleingültige Wahrheiten. Und das ist gut so.“
Und damit auch von uns: Alles Gute nachträglich zum Geburtstag, lieber Ralf König!
Hinweis: Eine Weiterverbreitung ist nur mit Angabe der jeweiligen Quelle, also der entsprechenden Jahrbuch-Ausgabe, zulässig. Ebenso ist eine Verwendung für kommerzielle Zwecke ohne Genehmigung untersagt.
Jahrbuch Sexualitäten 2020
Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von: Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf.
Mit Beiträgen von Seyran Ateş, Dinos Christianopoulos, Adrian Daub, Stefan Donath, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Christiane Härdel, Patrick Henze, Manfred Herzer-Wigglesworth, Marion Hulverscheidt, Marco Kammholz, Roman Klarfeld, Ralf König, Anike Krämer, Adrian Lehne, Rainer Nicolaysen, Dierk Saathoff, Karsten Schubert, Vojin Saša Vukadinović und Benedikt Wolf.
262 S., 7 z.T. farb. Abb., geb., Schutzumschlag, 15 x 22,3 cm, ISBN 978-3-8353-3786-2
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
Solidarische Zwischenräume für queeres Miteinander
In queeren Communities knirscht es immer öfter, Konflikte scheinen nicht gut gelöst zu werden. Kerstin Söderblom, evangelische Theologin und lesbische Aktivistin, plädiert im Jahrbuch Sexualitäten 2025 für das Aushalten von Differenzen im LGBTIQ-Spektrum, aber auch für das Zusammenstehen gegen rechtspopulistische Kräfte.
Redaktionelle Vorbemerkung: Dieser Text dokumentiert die Rede von Philipp Gessler, die er bei der Release-Party des Jahrbuch Sexualitäten 2025 am 18. Juli in der taz Kantine gehalten hat. Darin würdigt er als Erstleser den Essay „Aus der Lebensschule für solidarische Zwischenräume. Suchen und Forschen nach dem Dazwischen“ von Kerstin Söderblom.
9. August 2025 | Philipp Gessler
Ich habe den Essay „Aus der Lebensschule für solidarische Zwischenräume. Suchen und Forschen nach dem Dazwischen“ von Kerstin Söderblom zweimal gelesen. Und erst beim zweiten Mal habe ich ihn, wie ich glaube, verstanden. Das liegt nicht daran, dass etwa die Sprache von Kerstin Söderblomzu kompliziert oder die von ihr geschilderten Sachverhalte zu komplex oder allzu schwer zu verstehen sind. Es liegt daran, dass ich erst beim zweiten Mal die Zwischentöne erkannt habe – und es sind diese Zwischentöne, die ihren Text wirklich lesenswert machen.
Kerstin Söderblom ist Theologin, evangelische Pastorin, also ordiniert, seit 2020 Hochschulpfarrerin an der Evangelischen Studierendengemeinde in Mainz und zusätzlich noch Supervisorin, Mediatorin, Coach und Autorin von queer-theologischen Artikeln, Blogbeiträgen und Büchern, wie sie sich am Anfang ihres Essays selbst vorstellt. Ihr Text beschreibt ihren Lebens- und Lernweg als homosexuelle (oder lesbische – das Wort mochte sie anfangs nicht so gern, wie sie schreibt) Theologin und Aktivistin vor allem in kirchlichen, feministischen und queeren Zusammenhängen über knapp vier Jahrzehnten nach ihrem Coming-out Mitte der 1980er Jahre.
Platz zwischen den Stühlen
Man kann sagen, Kerstin Söderblom ist eine Pionierin. Ihr Engagement, oder besser: ihr Kampf für die Anerkennung von lesbischen und queeren Menschen in all ihrer bunten Vielfalt vor allem in der Kirche und in der Theologie war lang und hart. In ihrem Essay nimmt sie uns mit zu Stationen ihres Lebens, lässt uns Menschen begegnen, die sie und ihr Denken geprägt haben. Es ist eine Reise und Selbsterkundung in aller Welt, von Jamaica über Brasilien und Südkorea bis nach Oslo, Hamburg und Bad Boll.
Kerstin Söderblom nennt sich an einer Stelle leicht ironisch-distanziert eine (offenbar ein Szeneausdruck) „Kirchenlesbe“, und das zeigt schon, dass sie es lange gewohnt war, nicht so ganz dazu zu gehören, weder in der Kirche als Lesbe, noch in der traditionellen lesbischen Szene als Frau der Kirche. Kerstin Söderblom aber hat sich diesen Platz zwischen den Stühlen als den ihren erobert – und darin, wie sie schreibt, viel Solidarität, ja auch eine internationale, bunte Familie gefunden. Ein Leben in den Zwischenräumen, im Dazwischen eben.
Das ist die vordergründige Geschichte von Kerstin Söderblom. Beim zweiten Lesen aber habe ich den Text zu ihrer Lebens- und Lerngeschichte noch mehr zu schätzen gelernt, weil ich, wie gesagt, die Zwischentöne entdeckt habe, in denen sie aktuelle Streitpunkte in der lesbischen oder queeren Szene anspricht. Dass ich diese Töne zwischen den Zeilen hören konnte, lag daran, dass der vorliegende Band der „Sexualitäten“ schon vor der Vorstellung heute Abend stark kritisiert wurde, in einer ausführlichen, ich würde sagen: nicht sehr fairen Rezension auf queer.de, die mir von einer lesbischen Nachbarin weitergeleitet wurde. Darin ist Kerstin Söderbloms Artikel fast der einzige, der ausdrücklich gelobt wird – und das half mir, glaube ich, ihren Essay richtig zu lesen, ja das Wesentliche darin zu verstehen.
Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen.
Mit Beiträgen von: Kerstin Söderblom, Dinçer Güçyeter, Zaal Andronikashvili, Manuela Torelli, Chantalle El Helou, Till Randolf Amelung, Ioannis Dimopulos, Julia Kaiser, Denis Watson, Schwester Daphne Sara Maria Sanguina Mater dʼOr OSPI, Karl-Heinz Steinle, Norbert Finzsch, Aaron Gebler, Werner Renz, Clemens Schneider, Vojin Saša Vukadinović und Alexander Zinn. 232 S., gebunden mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-8353-5917-8, 34,00 Euro.
Kerstin Söderblom schildert eben nicht nur ihren Lebens- und Lernweg, sondern nutzt diese Schilderung auch für ein großes, aus dieser Vita sich ergebendes Plädoyer der Versöhnung, wie man es theologisch sagen könnte und wie es sich für eine Pfarrerin, der Botschaft Jesu verpflichtet, auch gehört. Der Essay von Kerstin Söderblohm plädiert dafür, die Streitigkeiten in der queeren Community, (also zum Beispiel: Ist das wirklich eine Frau? Bestimmen die Schwulen hier nicht alles? Ist das nun eigentlich trans*feindlich?) wenn nicht zu lösen, so doch in Solidarität zu ertragen. Warum? Um für gemeinsame Ziele zu kämpfen – und gegen einen Zeitgeist, der viele Rechte und Errungenschaft der queeren Community in aller Welt wieder kassieren will oder erst gar nicht ermöglichen möchte.
Oder, wie Kerstin Söderblohm es schreibt:
„Wenn alle Beteiligten sich bemühen, ist es möglich, dass sich Personen aus verschiedenen queeren Communities (und anderen Minderheitengruppen) und ihre Unterstützer*innen zusammenraufen und sich gemeinsam gegen rechtspopulistische und rechtsnationale religiöse und säkulare Kräfte engagieren.“
Dass man für diesen Kampf nur Gottes Segen wünschen kann, ist auch ein Verdienst von Kerstin Söderblom, der Pionierin.
Philipp Gessler, Jahrgang 1967, war viele Jahre Redakteur der taz und von Deutschlandfunk Kultur. Seit 2017 ist er Redakteur von zeitzeichen. Er ist Autor der Bücher »Der neue Antisemitismus. Hinter den Kulissen der Normalität« (2004), »Wolfgang Huber. Ein Leben für Protestantismus und Politik« (2012), »Phrase unser« (2020) und »Kampf der Identitäten« (2021) (beide mit Jan Feddersen).
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
Joanne K. Rowling wird 60: Geburtstagsgrüße an eine Ikone
Joanne K. Rowling begeisterte die Welt mit dem Zauberlehrling Harry Potter, doch in den letzten Jahren machte sie vor allem Schlagzeilen mit ihren Positionen zur Transfrage. Sie streitet für die Relevanz des biologischen Geschlechts und kritisiert gar zu voreilige Gaben von Pubertätsblockern an Minderjährige. Während sich ihr Werk nach wie vor großer Beliebtheit erfreut, ist sie unter vielen Queeren zur Persona non grata geworden.
Joanne K. Rowling im Dezember 2019 in New York (Foto: Shutterstock).
31. Juli 2025 | Till Randolf Amelung
Joanne K. Rowling, vielen Menschen als Schöpferin der magischen Welten von Harry Potter bekannt, feiert heute ihren sechzigsten Geburtstag. Auch für viele Queers hatten die Harry-Potter-Bücher einen Kultstatus, oft waren sie gar eine Fluchtmöglichkeit aus einem Alltag, in dem man sich unverstanden fühlte. Doch seit ungefähr sechs Jahren polarisiert Rowling vor allem mit öffentlichen Äußerungen zur Transdebatte – womit sie Aufmerksamkeit auf bemerkenswerte Abgründe richtete. Und in queeren Kreisen zum Voldemort wurde. Sogar die jetzt erwachsenen Stars der Harry-Potter-Verfilmungen distanzierten sich deshalb von ihr. Es ist nicht übertrieben zu sagen: Rowling allein hat mit ihrer Prominenz und ihrem Geld den Siegeszug des Transaktivismus durchkreuzt.
Ikone in Schlammschlacht
Dabei hätte sich Rowling nicht in diese Schlammschlacht stürzen müssen. Sie hätte stattdessen weiter über den Dingen schwebend von ihrem auf Harry Potter begründeten Weltruhm zehren können. Doch indem sie Partei für die Rechte von biologischen Frauen und die körperliche Unversehrtheit von Minderjährigen ergriff, trat sie selbst von einem Sockel herunter. Nicht zuletzt haben die meisten Medien – national und international – die Hintergründe der Auseinandersetzungen, deren Teil Rowling wurde, zumeist unvollständig, wenn nicht gar falsch dargestellt. Anlässlich ihres runden Geburtstags ist es Zeit, dieser medialen Verzerrung etwas entgegenzusetzen.
Richtig viral ging die Aufregung erstmals 2019, als Rowling im Dezember mit einem Tweet im damals noch Twitter und heute X genannten Kurznachrichtendienst Steuerexpertin Maya Forstater unterstütze, deren Vertrag bei einer NGO aufgrund von genderkritischen Ansichten nicht verlängert wurde. Rowling schrieb damals: „Kleiden Sie sich, wie es Ihnen gefällt. Nennen Sie sich, wie Sie möchten. Schlafen Sie mit jedem einwilligenden Erwachsenen, der Sie haben möchte. Leben Sie Ihr bestes Leben in Frieden und Sicherheit. Aber Frauen aus ihrem Job drängen, weil sie behaupten, biologisches Geschlecht sei real? #IStandWithMaya #ThisIsNotADrill“
Dress however you please. Call yourself whatever you like. Sleep with any consenting adult who’ll have you. Live your best life in peace and security. But force women out of their jobs for stating that sex is real? #IStandWithMaya#ThisIsNotADrill
Kern dieser Auseinandersetzung war – und ist immer noch – wie mit einer Differenz zwischen Geschlechtsidentität und biologischem Geschlecht umgegangen werden sollte. TransaktivistInnen und ihre Verbündeten in queeren NGOs, der Wissenschaft sowie der Politik wollen, dass allein die Geschlechtsidentität maßgeblich dafür ist, welchem Geschlecht ein Mensch angehört. Das Schlagwort der Stunde war „Self-ID“ – also Selbstidentifikation als Grundlage der Geschlechtsbestimmung.
Dagegen formierte sich vor allem unter Frauen Widerstand, denn biologische körperliche Realität und damit verbundene gesellschaftspolitische Fragestellungen spielen bei Self-ID keine Rolle mehr. Für Frauen ist dies auch eine Sicherheitsfrage, denn wenn niemand mehr wissen will, was eine Frau ist, wie sollen Schutzräume für Frauen weiterhin gewährleistet bleiben?
Der Tweet zu Forstater blieb nicht Rowlings einziger zur Transfrage, es folgten weitere. Zum Beispiel ein ironischer Kommentar zu einem Artikel auf einem Portal für Entwicklungshilfe, der nicht von „Frauen“, sondern von „Menschen, die menstruieren“ schrieb. Jeder Tweet entfachte den Furor des transaktivistischen Lagers, doch dieser drückte sich nicht einfach nur in verärgerten Kommentaren aus, sondern oft mit Mord- und Vergewaltigungsandrohungen oder auch Doxxing – also dem Öffentlich machen von Wohnadressen.
‘People who menstruate.’ I’m sure there used to be a word for those people. Someone help me out. Wumben? Wimpund? Woomud?
Opinion: Creating a more equal post-COVID-19 world for people who menstruate https://t.co/cVpZxG7gaA
Rowlings Engagement platzte in Großbritannien mitten in politische Vorhaben, die Regelung für die Änderung des amtlich dokumentierten Geschlechtseintrags zu vereinfachen. Mit der Reform des Gender Recognition Act, der britischen Variante des Transsexuellengesetzes, sollte künftig jedweder Nachweis wie eine medizinische Diagnose als Voraussetzung für eine Änderung des Geschlechtseintrags entfallen. Das heißt, eine solche Änderung sollte allein auf der Basis der selbsterklärten Geschlechtsidentität ermöglicht werden.
Steigende Zahlen bei Teenagern
Parallel dazu gab es einen Anstieg unter biologisch weiblichen Teenagern, die Pubertätsblocker und Testosteron begehrten, um eine Geschlechtsangleichung an das männliche Geschlecht zu vollziehen. Diese Mädchen kamen alle in die damals landesweit einzigen Ambulanz in der Londoner Tavistock-Klinik, die vom nationalen Gesundheitsversorger NHS betrieben wird. Zunehmend wurde in der Öffentlichkeit Kritik laut, da diese jungen Patientinnen oftmals keine ausführliche psychotherapeutische Anamnese erhielten, sondern sofort in ihrer Geschlechtsidentität bestätigt wurden.
J. K. Rowling griff all diese Entwicklungen immer wieder in Tweets auf und verstärkte dadurch deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Im Juni 2020 veröffentlichte sie auf ihrer Website eine sehr persönliche Erklärung, in der sie ihre Positionen darlegte. Sie erläuterte darin nicht nur, dass ihr Geschlechtsdysphorie in der Pubertät selbst nicht fremd war, sondern auch ihre Erfahrungen mit einem gewalttätigen Ehemann und warum biologische Frauen Schutzräume für sich brauchen. In ihrer Erklärung würdigte sie zugleich die prekäre Situation von Transfrauen und positionierte sich jedoch gegen Geschlecht als etwas rein Selbstdefiniertes:
„Ich glaube, dass die Mehrheit der transidenten Menschen nicht nur keine Gefahr für andere darstellt, sondern aus all den von mir genannten Gründen verletzlich ist. Trans-Menschen brauchen und verdienen Schutz. Wie Frauen werden sie am ehesten von ihren Sexualpartnern getötet. Transfrauen, die in der Sexindustrie arbeiten, insbesondere farbige Transfrauen, sind besonders gefährdet. Wie jede andere Überlebende von häuslicher Gewalt und sexuellen Übergriffen, die ich kenne, empfinde ich nichts als Mitgefühl und Solidarität mit Trans-Frauen, die von Männern missbraucht wurden.
Ich möchte also, dass Transfrauen sicher sind. Gleichzeitig möchte ich nicht, dass gebürtige Mädchen und Frauen weniger sicher sind. Wenn man die Türen von Badezimmern und Umkleidekabinen für jeden Mann öffnet, der sich für eine Frau hält oder fühlt – und, wie ich bereits sagte, können Bescheinigungen über die Bestätigung des Geschlechts jetzt ohne chirurgische Eingriffe oder Hormone ausgestellt werden – dann öffnet man die Tür für alle Männer, die eintreten wollen. Das ist die einfache Wahrheit.“
Autoritäre Transaktivistas
Rowling schilderte in ihrer Erklärung auch eindrücklich, wie autoritär und aggressiv sich Transaktivisten und ihre Allies gegenüber allen verhalten, die nicht auf ihrer Linie sind. Bereits ein versehentlich gesetzter „Like“ führte bei Rowling dazu, dass die transaktivistische Inquisition sich rührte und ihr erstmalig auf den Pelz rückte. Doch das war noch nichts gegen das, was losbrach, als sie sich tatsächlich mit Tweets in der Debatte positionierte. Rowling wurde überschüttet von einer Flut an Todes- und Vergewaltigungswünschen, an Beschimpfungen wie „Schlampe“, „Fotze“. Auch inszenierte Bücherverbrennungen gab es.
Endless death and rape threats, threats of loss of livelihood, employers targeted, physical harassment, family address posted online with picture of bomb-making manual aren't 'mean comments'. If you don't yet understand what happens to women who stand up on this issue, back off. https://t.co/qWTcGZML97
All dies erlebten, und erleben immer noch, vor allem andere Frauen, die sich kritisch äußern. Gerade deshalb erhielt Rowling auch eine überwältigende Menge an Zuspruch. Viele andere Betroffene ziehen sich aufgrund der Heftigkeit solcher transaktivistischen Reaktionen schnell wieder zurück, zumal es die vor Wut rasenden Aktivistas oftmals auf die soziale und wirtschaftliche Existenzvernichtung abgesehen haben. Nicht zuletzt mittels aufdringlicher Belagerung von ArbeitgeberInnen, KooperationspartnerInnen und Ähnlichem. Dieses Verhalten von Transaktivistas offenbart einen Abgrund an narzisstischer Kränkung und toxischer Männlichkeit.
Erst Rowlings Prominenz führte dazu, dass Medien berichteten. Obwohl viele Medien es nicht schafften, das widerliche Verhalten vieler Aktivistas im Netz als solches zu benennen, machten sich zunehmend mehr bislang unbeteiligte Menschen ein eigenes Bild. In Großbritannien drückt sich das mittlerweile in messbar sinkender Zustimmung in der Bevölkerung zu transaktivistischen Überzeugungen aus.
Wie sehr das aggressive transaktivistische Verhalten nicht dazu beigetragen hat, andere zu überzeugen, zeigte sich beispielsweise 2023 am Release des Games „Hogwarts Legacy“. Auch deutsche Transaktivistas wollten, dass das Spiel boykottiert wird und attackierten Gaming-Experten wie den als „Gronkh“ bekannten Erik Range, nachdem er ankündigte, „Hogwarts Legacy“ in einem Livestream zu spielen. Öffentlich-rechtliche Medien wie das ZDF griffen das Thema im Sinne der Transaktivistas auf, aber in den Kommentaren auf Sozialen Medien konnte man sehen, dass die Vorwürfe gegen Rowling die Fans entweder nicht interessierten oder aber sie der Autorin sogar zustimmten. Jedenfalls wurde „Hogwarts Legacy“ weltweit eines der jemals bestverkauften Games.
Joanne K. Rowling hält Kurs
Während Rowling 2020 noch versuchte, auch bei Transaktivistas um Verständnis für ihre Positionierung zu werben, hat sie dies fünf Jahre später aufgegeben. Mit klarem Kompass hält sie ihren Kurs und unterstützt nicht nur ideell, sondern auch finanziell neben vielem anderen Belange rund um Frauenschutz. 2022 gründete sie in Edinburgh mit „Beira’s Place“ ein Frauenhaus, dessen Zielgruppe ausschließlich biologische Frauen sind. Damit reagierte Rowling auf einen Bedarf, den bestehende, staatlich finanzierte Schutzeinrichtungen nicht mehr erfüllten. Doch Rowlings privat bezahlte Eigeninitiative war dem transaktivistischen Furor wieder nicht recht, aber inzwischen hat sich auch dieses Frauenhaus im schottischen Hilfesystem etabliert.
Ebenso finanziell unterstützt hat sie die Organisation For Women Scotland, die sich bis hoch zum britischen Supreme Court klagte, da die schottische Regierung das Gleichstellungsgesetz zur paritätischen Besetzung von Gremien so auslegte, dass unter „Geschlecht“ nicht nur biologische Frauen gemeint sind, sondern auch Transfrauen. Der Supreme Court urteilte vor Ostern, dass „Geschlecht“ im Gleichstellungsgesetz das biologische Geschlecht meint. Rowling kommentierte den Sieg im Kurznachrichtendienst X: „Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert!“ – dazu ein Selfie mit Zigarre und einem alkoholischen Getränk. Unzweifelhaft eine popkulturelle Referenz an den Charakter „Hannibal“ aus der TV-Serie „The A-Team“.
„Da sitzt sie nun, die triumphierende Milliardärin, angefeuert in den Kommentaren von Leuten wie Elon Musk. Ausgerechnet die Frau, die mit »Harry Potter« eine Geschichte über den Kampf gegen Diskriminierung schrieb – über einen dunklen Magier namens Voldemort, der eine »reine« Zauberwelt schaffen wollte, in der nur zaubern darf, wer in die richtige Familie geboren wird.“
Allerdings blieb es nicht nur bei der Unmutsbekundung – die Frau Schöler im Sinne der Meinungsfreiheit so äußern kann, sondern wie so oft in den Medien verknüpfte es sich mit einer fehlerhaften Darstellung:
„Das Gericht entschied einstimmig, dass »Geschlecht« ausschließlich als das bei der Geburt zugewiesene biologische Geschlecht zu verstehen sei, was trans Personen vom Antidiskriminierungsschutz ausschließt.“
Das ist nachweislich falsch, denn das Gericht stellte klar, dass auch Transpersonen durch Antidiskriminierungsgesetze geschützt sind. Zudem empfahl es einen pragmatischen Umgang, sodass operativ angeglichene Transpersonen mit Passing weiterhin Toiletten und Umkleiden ihres Identitätsgeschlechts nutzen können.
Berechtigte Einwände
Während J. K. Rowling regelmäßig für Erregung im den Transaktivistas zugeneigten linksprogressiven Medienestablishment sorgt, zeigen die Entwicklungen der vergangenen fünf Jahre, dass Rowlings prominent vorgetragene Einwände berechtigt waren: Die umstrittene Ambulanz für geschlechtsdysphorische Kinder und Jugendliche musste als Konsequenz aus den im Cass-Report dokumentierten schwerwiegenden Behandlungsmängeln schließen. Kinder und Jugendliche wurden in ihrer Geschlechtsidentität bestätigt und mit Pubertätsblockern sowie gegengeschlechtlichen Hormonen behandelt, andere mögliche Ursachen für das Unbehagen mit dem biologischen Geschlecht fanden keine Berücksichtigung. Das sorgte für Fälle wie den von Keira Bell, die als junge Erwachsene detransitionierte und 2020 vor Gericht feststellen ließ, dass Minderjährige einem so experimentellen Ansatz nicht zustimmen könnten.
Ein britisches Selbstbestimmungsgesetz ist nie Realität geworden und ein schottischer Alleingang, vorangetrieben von Ex-Premier Nicola Sturgeon, wurde durch den Fall Isla Bryson vollständig diskreditiert. Bryson war ein wegen Vergewaltigung angeklagter biologischer Mann, der im Verlauf des Strafverfahrens eine weibliche Geschlechtsidentität äußerte und daher zunächst auch ohne körperliche Angleichung in eine Frauenhaftanstalt verlegt wurde. Die gesellschaftliche Entrüstung war so groß, dass sie schließlich für die Rückverlegung Brysons in ein Männergefängnis sorgte und Nicola Sturgeon das Amt als Premierministerin Schottlands kostete.
Inzwischen hat auch die Labour-Partei, die britische Version der Sozialdemokratie, sich von Self-ID verabschiedet – das Supreme-Court-Urteil wurde begrüßt – und die Erkenntnisse aus dem Cass-Report wurden ebenso anerkannt. Ende 2024 verlängerte Gesundheitsminister Wes Streeting (Labour) zudem ein noch unter der vorherigen Tory-Regierung erlassenes Verbot von Pubertätsblockern.
Diese Entwicklungen sind auch das Verdienst von J. K. Rowling, die den Themen die nötige Publicity erst verschafft hat. Wenn man also fragt, was Rowlings bedeutendste Lebensleistung ist, dann sollte man nicht nur ihr Opus Magnum „Harry Potter“ nennen, sondern auch ihre Standhaftigkeit, in einem verminten Thema eine unpopuläre Position zu beziehen – trotz Vergewaltigungs- und Mordphantasien ihrer Gegner. Diese Hexe kriegt ihr nicht verbrannt. Und das ist auch gut so. Alles Gute zum Geburtstag, liebe Joanne K. Rowling!
Till Randolf Amelungist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
Schwulsein hat im heutigen Queeraktivismus und in queerer Theorie den Makel, nicht progressiv genug zu sein. Denn wer weiß, cis und männlich ist, bekommt den Vorwurf, Nutznießer sozialer Privilegien zu sein – unverdientermaßen. Doch eine Kritik wie diese kleidet alte homofeindliche Ressentiments lediglich in ein neues Gewand.
Erfreuen sich in queertheoretischen Umgebungen keiner sonderlichen Beliebtheit: Weiße, cis-männliche Schwule (Foto von Christian Buehner auf Unsplash).
Redaktionelle Vorbemerkung: Dieser Text dokumentiert die Rede von Dr. Dirk Sander, die er bei der Release-Party des Jahrbuch Sexualitäten 2025 am 18. Juli in der taz Kantine gehalten hat. Darin würdigt er als Erstleser den Essay „Von der Entschwulung der Welt – Wie die queere Weltanschauung den Hass auf männliche Homosexuelle modernisierte“ von Vojin Saša Vukadinović.
27. Juli 2025 | Dirk Sander
Als ich vor Wochen in der Vorankündigung auf den Einband des Jahrbuches der Sexualitäten 2025 aufmerksam wurde, resonierte gleich der Aufdruck „Entschwulung der Welt“ bei mir. Denn erstens bin ich schwul, und zweitens beschäftige ich mich beruflich mit der differenzierenden und spezifischen Entwicklung von Gesundheitsangeboten für schwule und bisexuelle Männer. Was wäre dann wohl noch zu tun in einer „entschwulten“ Welt? – Und drittens: Ich wurde auch schon gefragt: Wo sind die Schwulen? Ist schwule Sexualität noch sichtbar?
Schwule Kultur verschwindet
Und, ohne den Text zu kennen, „Entschwulung“ kann ja bedeuten, dass Schwule, Schwules, schwule Kultur verschwindet, unsichtbar wird, unsichtbar gemacht wird, sich irgendwohin auflöst, dematerialisiert etwa? – Und das erkenne ich auch in Ansätzen. Einige persönliche Beobachtungen möchte ich deshalb im Folgenden einfließen lassen.
Der wortgenaue Titel der Arbeit von Vojin Saša Vukadinović im Jubiläums-Jahrbuch der Sexualitäten 2025 lautet: „Von der Entschwulung der Welt – Wie die queere Weltanschauung den Hass auf männliche Homosexuelle modernisierte“.
Der Autor schreibt: „Inzwischen kann zweifelsfrei konstatiert werden, dass der queer-theoretische Impetus, sich an Schwulen abzuarbeiten, sich aus dem Ressentiment speist, diese als minoritäre Herrschaftsgruppe zu imaginieren, die als angeblich kontrollsüchtige Majorität der Minderheiten alle Macht an sich gerissen“ habe.
Queere Homophobie
Schon im Oktober 2022 hatte sich Dierk Saathoff in der Jungle World zu Wort gemeldet. „Queere Homophobie“ lautete der Titel seines Beitrags. Dort heißt es: „Die derzeitige queere Bewegung stellt sich im Zweifel eher schützend vor einen Heterosexuellen, der von sich behauptet, eine queere Geschlechtsidentität zu besitzen, als einem schwulen Mann oder einer lesbischen Frau beizustehen“ (…). „Queer“, das sei einmal die „Aneignung eines Schimpfwortes, dass man stolz auf sich anwendete“ gewesen.
„Heute aber, nach 30 Jahren Gender Studies, steht der Begriff nicht mehr für eine geschlechtlich liebende Minderheit, sondern beschreibt ganz grob Menschen, die die Kategorie Geschlecht prinzipiell in Frage stellen. Gleichzeitig sind die Wörter ´schwul` und `lesbisch´ fast vollständig aus dem Sprachgebrauch verschwunden.“ Aber nur fast: Vor allem auf Schulhöfen seien die Wörter `schwul´ und `Schwuchtel´ „ununterbrochen im Einsatz – als Schimpfwörter“.
Und nicht nur da, wie ich bestätigen kann. Auch im Bus, auf der Straße, oder zuletzt im Drogeriemarkt, wo ich bei zwei jung-männlich-„gelesenen“ Subjekten mithören durfte, was denn alles „schwul“ sei. Das sollte man unbedingt vermeiden!
Vukadinović rekurriert in seinem großartigen Text im Jahrbuch der Sexualitäten 2025 mit vielen Verweisen und Zitaten auf die seit dem Ende des 20. Jahrhunderts erschienenen Analysen zur „Entschwulung“, aber auch auf „groteske“ bis „bizarre“ Universitätsstudien, die in „banalster Verallgemeinerung“, „pseudokritischer Verve und jargonistischer Weise“ ihre selbstreferentiellen und selbstverliebten Thesen präsentieren. – Da wird dann auch mal locker Geschichte umgeschrieben, oder werden historische Fakten ausgeblendet.
„Aktivistische Phraseologie“, so der Autor, die aber bei nicht nur jungen „Queers“ offenbar als Tatsachen und Leitbilder verfangen. Stichworte sind hier beispielsweise: „Homonationalismus“ oder auch „anti-muslimischer Rassismus“. D.h. z.B., dass der Hinweis eines schwulen Gewaltopfers auf „salafistische Schwulenhasser“ als Täter als rassistisch eingeordnet wird. Auch hier finden Sie Belege im vorliegenden Text.
„Schwul“, so schreibt Vukadinović, war „von Anfang an eine soziale Kategorie, und als politische Identität deshalb stets eine auf Zeit, um homosexuelle Orientierung abseits medizinischer bzw. psychologischer Klassifikation begreifbar zu machen, und dem Druck zur Diskretion zu kontern“.
Schwule Safe Spaces
Schon im späten 20. Jahrhundert sei allerdings (wieder) gegen die Homosexuellen polemisiert worden, (und hier zitiert der Autor die Anthologie „Anti-Gay“ von Mark Simpson), ihnen wurde die „Überbetonung“ ihrer sexuellen Orientierung angekreidet und die „Tendenz, sich in selbstkredenzten Nestern, dörflichen Gemeinschaften mit schwulen Bars, schwulen Reiseveranstaltern, schwulen Friseuren“ einzurichten.
Man könnte solche Entwicklungen auch vorwurfsfrei als notweniges „Community-Building“ beschreiben. Etwas, dass tendenziell Siedler in feindlichen Gefilden tun. Queerisch gesprochen: Ein Safe Space! – Die Schwulen haben es also nicht erfunden, aber artgerecht stark verfeinert.
Schwule Unterdrücker
Zitiert wird auch der US-Journalist Ben Appel, der ausführte, dass „`Schwule´ im Rahmen von `LGBT´- Belangen“ zunehmend als verdächtig galten, – gar als Feinde, da sie ja „cis-männlich“ seien: „Schwul oder bi zu sein schien (in den sog. „Gender Studies“) weit weniger wichtig zu sein, wenn man zugleich auch weiß, cis und männlich war, und deshalb als jemand galt, der schon aus diesen Gründen mit den Unterdrückern unter einer Decke stecken müsse“. Diese abschätzig vorgebrachten, durch keine belastbare Empirie gestützten Sichtweisen, erinnerten stark an „eine aktualisierte Variante jener Abscheu, der sich männliche Homosexuelle schon immer ausgesetzt sahen“.
Kurioserweise hat selbst die in diesen Kreisen höchstpopuläre australische Soziologin Raewyn Connell (Stichwort: „Hegemoniale Männlichkeit“) konstatiert, dass Schwule eben nicht von der sog. „patriarchalen Dividende“ profitieren. Sie werden im Männlichkeitswettbewerb früh ausgesondert.
Nochmal zu der Frage: Wo sind die Schwulen? – Wo ist schwule Sexualität noch sichtbar? Und das ist durchaus relevant. Sind wir doch in der Aidshilfe in den 80er Jahren, zu Beginn der Aidskrise mit dem selbstgestellten, emanzipativen Auftrag gestartet, schwuler Sexualität Sichtbarkeit zu verschaffen, sie zu fördern. Einfach vor dem Hintergrund, dass die mit der eh schon (Selbst-)schambehafteten schwulen Sexualität verbundenen Ängste, Sexualität an sich zu verhindern drohten. Dabei war sie doch weiter möglich. Mit ein paar Vorkehrungen zum Schutz vor HIV bzw. Aids.
Ist schwule Sexualität verletzend?
Vor einiger Zeit wurde mir aber von einer ganz offensichtlich „queeren“ Person gesagt, dass die Darstellung schwuler Sexualität ja auch „verletzend“ sein könne. Und aktuell plage ich mich mit einer Anzeige herum, die sich auf meinen Blog zu schwuler Sexualität bezieht. Dieser Blog, eine Intervention der „Sexuellen Bildung“, sei, so die Anzeigestellenden, pornographisch und jugendgefährdend.
Eilig wird geschlossen, dass diese und andere Anzeigen aus rechtsnationalen Kreisen stammen müssten, die sich im Kampf gegen eine „Frühsexualisierung“ wähnen. Das ist aber nur zum Teil richtig, wie wiederum die Soziologen Benkel und Lewandowski2021 in ihrer Veröffentlichung „Kampfplatz Sexualität“ beschreiben: „Die Feldzüge (gegen das Sexuelle) werden (nämlich) nicht nur von traditionell erzkonservativen, den Niedergang der gesellschaftlichen Ordnung bedroht wähnenden Milieus gestartet, (…) Ihre Durchschlagskraft erhält deren antisexueller Impetus vor allem durch eine (…) Koalition mit (Neo-)Evangelikalen, radikalen Feministinnen, und klassischen bürgerlichen Eliten (…)“. Sie ahnen es schon!
„Wie sehr selbst in akademischen Kreisen inzwischen Sexualität als Bedrohung wahrgenommen wird, zeigt ein Blick auf Diskurse in amerikanische Universitäten (…), die wiederum als Blaupause für europäische Nachahmungsmodelle fungieren.“ Das kann hier in Berlin wunderbar beobachtet werden. „Als ´Safe Spaces´ werden (hier) sexualitätsfreie Räume verstanden, während zugleich in Kauf genommen wird, dass erwachsene Menschen wie unmündige Kinder behandelt werden, um sie vor der vermeintlichen Bedrohung durch Sexuelles auch dann zu schützen, wenn dies konsensuell unter Erwachsenen geschieht“. Und Im Fokus steht die männliche Sexualität, diese wird in „manchen Debatten primär als destruktiv und als zu reglementierende Gefahr verstanden“.
Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen.
Mit Beiträgen von: Kerstin Söderblom, Dinçer Güçyeter, Zaal Andronikashvili, Manuela Torelli, Chantalle El Helou, Till Randolf Amelung, Ioannis Dimopulos, Julia Kaiser, Denis Watson, Schwester Daphne Sara Maria Sanguina Mater dʼOr OSPI, Karl-Heinz Steinle, Norbert Finzsch, Aaron Gebler, Werner Renz, Clemens Schneider, Vojin Saša Vukadinović und Alexander Zinn. 232 S., gebunden mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-8353-5917-8, 34,00 Euro.
Noch zu der Frage: Wo sind die Schwulen geblieben? Sie sind in meiner Wahrnehmung nicht einfach verschwunden. Einige sind noch laut. Sie schmieden neue Allianzen: „Homos – Juden – Frauen“. Und die meisten kennen sich ja gar nicht so aus in den sogenannten „Queer-Studies“, sie merken aber, dass die Akzeptanz des Schwul Seins, der schwulen Kultur abnimmt. Hier beobachte ich auch Verwirrung: „Bist Du queer?“ – „Ja, also schwul, äh queer, -schwul?!“
Natürlich gibt es auch Opportunismus, und erstaunliche Anpassungsleistungen: Um dazugehören zu dürfen. – Manche checken auch demütig ihre – mehr oder weniger – Privilegien. – Einige tun auch das, was Schwule immer schon in repressiven Zeiten getan haben: Sie verstecken sich, z.B. im Internet-Schrank in exklusiven Chatgruppen mit Motti wie „Schwul – so wie wir sind“, oder einfach „Schwul“ mit einer Reihe von Kuss-Emojis. Soviel nur dazu.
Welche Lehren könnte man ziehen? „Nur insofern“, so schreibt Vukadinović in der Abrundung seines erhellenden Aufsatzes im Jahrbuch, „als dies zunächst einmal heißt, die Emanzipationsgeschichte der männlichen Homosexualität als unabgeschlossene zu begreifen und die queer-theoretischen Aporien als politischen Angriff, der an dieser Unabgeschlossenheit entschiedenermaßen Anteil hat, weil er sich selbst als Transgression im Dienste des Fortschritts verkauft“.
Wohlan, die schwule Emanzipation braucht also einen Relaunch! Und ich habe in den letzten Minuten 45-mal „schwul“ gesagt. Cheers! Lesen Sie jedenfalls unbedingt den großartigen und – mutigen – Text von Vukadinović! Und: Sprechen Sie darüber! – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. Dirk Sander ist Diplom-Sozialwissenschaftler und als Referent der Deutschen Aidshilfe im Arbeitsfeld „Gesundheitsförderung für schwule und bisexuelle Männer*“ tätig.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
Jahrbuch Sexualitäten feiert 2025 sein zehnjähriges Erscheinen
Jahrbuch Sexualitäten: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! (Foto von Joshua Hoehne auf Unsplash.)
15. Juli 2025 | Redaktion
Die Initiative Queer Nations e.V. (IQN) veröffentlicht 2025 die zehnte Ausgabe des in ihrem Auftrag von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen herausgegebenen „Jahrbuchs Sexualitäten“. In diesem Periodikum werden Fragen des Sexuellen in einem weiten Sinne, das heißt in Gesellschaft, Politik, Kultur, Geistes- und Naturwissenschaften, aber auch in Religion, Medizin oder Kunst thematisiert. Alle Texte sind Originalbeiträge, sie präsentieren und kommentieren Neues aus der Forschung oder nehmen auf aktuelle Debatten Bezug. Am 18. Juli werden ausgewählte Beiträge der diesjährigen Ausgabe in der taz Kantine von prominenten Gästen, unter ihnen Frauenrechtlerin Seyran Ateş und Schauspieler Gustav Peter Wöhler, vorgestellt.
Interdisziplinäres Periodikum
Gegründet wurde das Jahrbuch vor zehn Jahren von Jan Feddersen und Rainer Nicolaysen. Der an der Hamburger Universität lehrende Historiker Nicolaysen erinnert sich: „Die Entstehung des Jahrbuchs geht auf das Jahr 2015 zurück, als Jan Feddersen und ich, gewissermaßen an einem Küchentisch in Neukölln, den Plan entwickelten, ein Periodikum zu begründen, das sich interdisziplinär und vielfältig dem weiten Feld der Sexualitäten widmen sollte.“
Um zu vermeiden, dass das Jahrbuch ein Nischenprodukt der LGBTI*-Community bleibt oder eine reine Onlinepublikation wird, sollte es in einem renommierten Verlag erscheinen. „Mit unserem Wunschverlag – dem Wallstein Verlag in Göttingen – hatten wir schon zuvor in Kontakt gestanden; unser Vorschlag eines ‚Jahrbuchs Sexualitäten‘ stieß dort sofort auf Zustimmung“, erläutert Nicolaysen die Wahl des Verlages. Finanziert wird dieses Vorhaben durch die Initiative Queer Nations e. V., einen unabhängigen Verein, der den Herausgeber*innen alle redaktionellen Freiheiten lässt.
Erfolgreich in den Diskurs
Für Nicolaysen zeichnet sich der Erfolg des „Jahrbuchs Sexualitäten“ dadurch aus, „dass wir zehn Jahre auf einem hohen Niveau durchgehalten haben, die Beiträge des Jahrbuchs immer mehr in den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs eingesickert sind und jedes Jahr wieder interessante Autor*innen Lust haben, für das Jahrbuch zu schreiben“. Hinsichtlich des Spektrums der Themen und der Autor*innen gebe es kein vergleichbares Periodikum auf diesem Feld in Deutschland, so Nicolaysen weiter. Inzwischen ist das „Jahrbuch Sexualitäten“ Teil der Bestände von vielen Hochschulbibliotheken über alle fünf Kontinente verteilt, auch in Vietnam oder Botsuana kann man es finden.
Jan Feddersen, taz-Redakteur im Hauptberuf und Vorstandsvorsitzender von IQN, resümiert: „Als Initiative Queer Nations sind wir in keinen akademischen und sonstigen gesellschaftlichen Dankbarkeits- und Ergebenheitsstrukturen. Mainstream sind andere. Das ermöglichte dem Jahrbuch-Herausgeber*innenkreis, nicht allein ideologischen Moden zu folgen.“
Themenvielfalt
Einige Beispiele aus dem neuen Jahrbuch geben einen Einblick in dessen Themen- und Perspektivenvielfalt:
Kerstin Söderblom, evangelische Pfarrerin und lesbische Aktivistin, plädiert in ihrem Essay für das Überwinden von dogmatischen Grenzen innerhalb queerer Communities.
Der Historiker Alexander Zinn stellt die Biografie von Adolf/Hertha Wind vor, die sich als behördlich bekannter Transvestit nicht nur Freiräume in der NS-Zeit erkämpfte, sondern in der frühen Nachkriegszeit auch eine amtliche Änderung des Geschlechtseintrags erwirken konnte.
In Georgien tobt nach der gefälschten Wahl von 2024 die Auseinandersetzung zwischen liberalen, nach Westen orientierten Teilen der Bevölkerung mit denen, die, wie die Partei „Der Georgische Traum“, eine Annäherung an Russland anstreben. Wie der Literaturwissenschaftler Zaal Andronikashvili erläutert, kommt Homophobie bei der Abkehr von westlichen Werten eine zentrale Rolle zu.
Vojin Saša Vukadinović hingegen, befasst sich mit der Homophobie, die von aktueller Queer Theory ausgeht, in der Schwule ausschließlich als weiße, cisgeschlechtliche Unterdrücker anderer Minderheiten charakterisiert werden.
Release-Party
Am Freitag, den 18. Juli 2025, lädt die Initiative Queer Nations zur Buchpräsentation um 19 Uhr, live in die taz Kantine, Friedrichstraße 21 in Berlin und in den Stream auf YouTube ein:
Ausgewählte Beiträge des Jahrbuchs werden vorgestellt von: Gustav Peter Wöhler, Seyran Ateş, Emily Lau, Stephan Wackwitz, Dirk Sander und Philipp Gessler. Einige Autor*innen werden ebenfalls anwesend sein. Der Eintritt ist frei.
Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen.
Mit Beiträgen von: Kerstin Söderblom, Dinçer Güçyeter, Zaal Andronikashvili, Manuela Torelli, Chantalle El Helou, Till Randolf Amelung, Ioannis Dimopulos, Julia Kaiser, Denis Watson, Schwester Daphne Sara Maria Sanguina Mater dʼOr OSPI, Karl-Heinz Steinle, Norbert Finzsch, Aaron Gebler, Werner Renz, Clemens Schneider, Vojin Saša Vukadinović und Alexander Zinn. 232 S., gebunden mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-8353-5917-8, 34,00 Euro.
Eine Übersicht über alle bisher erschienenen Ausgaben findet sich auf unserer Website. Mit freundlicher Genehmigung des Wallstein-Verlags bieten wir zudem einige Beiträge aus allen Jahrbüchern zum kostenlosen Download an.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
Dyke March 2025: Und ewig grüßt das Murmeltier … oder der Israelhass
Auch 2025 gibt es am Tag vor dem Berliner CSD wieder einen Dyke March, der von einem neuen Organisationsteam unter dem Namen „Community Dyke* March“ beworben wird. Nachdem 2024 ein antisemitischer Pro-Palästina-Block den Marsch anführte, lassen die Ankündigungen für dieses Jahr ebenfalls nichts Gutes erahnen. Die Dyke Marches sind Teil einer bedauernswerten Verwahrlosung eines sich als politisch linksprogressiv verstehenden Spektrums.
Jüdisch, queer und zionistisch – alles auf linksprogressiven Veranstaltungen nicht erwünscht (Foto von Levi Meir Clancy auf Unsplash).
14. Juli 2025 | Till Randolf Amelung
Im vergangenen Jahr zeigte sich auch auf queeren Veranstaltungen, wie tief als Israelhass verkleideter Antisemitismus in Szenen des progressiven Spektrums Einzug gehalten hat. IQN-Autorin Chantalle El Helou berichtete zum Beispiel entsprechend über den Dyke March 2024 in Berlin, der von gegen Israel gerichteten pro-palästinensischen Kräften gekapert wurde. Für dieses Jahr hat sich die bisherige Orga des Dyke March Berlins zurückgezogen – aus gesundheitlichen Gründen, wie sie am 25. Juni auf Instagram verkündeten. Eine Lücke wird nicht entstehen, denn es haben sich andere gefunden, die am 25. Juli, also einen Tag vor dem Berliner CSD, einen „Community Dyke* March“ durch die Hauptstadt laufen lassen wollen.
Keine Sensibilität für Antisemitismus
Doch bereits der Demoaufruf auf Instagram zeigt, trotz der beflissenen Aufzählung von intersektionalen Marginalitäten, dass Israelhass beim Dyke* March erneut mitmarschieren wird: „Wir solidarisieren uns mit allen FLINTA*, die weltweit unter patriarchaler und autoritärer Unterdrückung leiden. Sei es in Palästina unter Apartheid und systematischer Auslöschung, im Sudan und der Demokratischen Republik Kongo unter brutaler Kriegsgewalt oder auch in Iran und Afghanistan unter institutionalisierter, geschlechterspezifischer Gewalt.“
Wer die Phrase „Palästina unter Apartheid“ drischt, versteht unter Solidarität mit „FLINTA*“ unter patriarchaler und autoritärer Unterdrückung wohl eher nicht diejenigen, die im Gazastreifen oder im Westjordanland von ihren streng patriarchalen und islamischen Familien oft mit Gewalt davon abgehalten werden, ein offen selbstbestimmtes und queeres Leben zu führen. Nicht selten droht Queers der Ehre wegen auch der Tod.
Stattdessen adressiert „Palästina unter Apartheid“ den einzigen Staat im Nahen Osten, wo LGBTI vor Verfolgung geschützt sind – Israel. Ebenso wird die dicke Lüge ad nauseam wiederholt, in Israel herrschten Zustände wie damals in Südafrika, wo rechtlich, politisch und gesellschaftlich eine Rassentrennung herrschte, die die schwarze Bevölkerung diskriminierte.
Das Selbstverständnis des „Community Dyke* March Berlin“ auf Instagram (Foto: Eigener Screenshot).
Dyke March New York gegen Zionisten
Doch nicht nur in Berlin hat ein Dyke* March Probleme mit Israel, auch in New York wurden „Zionisten“ vom Dyke* March ausgeschlossen. Wie die Berlinerinnen, so framen sich auch die New Yorkerinnen als links, antikapitalistisch, queerfeministisch und vor allem intersektional. Israel firmiert in diesem manichäischen Weltbild als Unterdrücker, imperialistischer Kolonialist und faschistischer Feind – die Palästinenser hingegen, gelten als die „Verdammten dieser Erde“ eines antikolonialen Befreiungskampfes, für den man auf die Barrikaden müsse. Eine kritische Analyse, ob diese Positionsbestimmungen überhaupt ein solides Fundament haben, findet in diesen aktivistischen Kreisen nicht statt.
Auch Mitgefühl mit Israelis und Juden generell sucht man vergeblich, worauf Michaela Dudley jüngst in der taz hinwies:
„Weder die Demonstrierenden noch ihre Fürsprecher in Talkrunden erheben Freiheitsforderungen, die sich an die Hamas richten. Das Fehlen von Wahlen unter der Hamas seit nahezu 20 Jahren und die schwierige Lage von Frauen oder der LGBTQ+-Community werden geflissentlich ignoriert. Auf den propalästinensischen Kundgebungen wartet man vergeblich auf auch nur ein Wort Empathie für die über eintausend Opfer der Hamas vom 7. Oktober. Stattdessen wird von „Widerstand mit allen Mitteln“ gesprochen.“
Antisemitische Verwahrlosung progressiver Milieus
Die Dyke* Marches in Berlin und New York sind Teil einer antisemitischen Verwahrlosung linksprogressiver Milieus, inklusive der Popkultur. Auf dem „Glastonbury“, dem größten Musikfestival Großbritanniens beispielsweise, heizte das Grime/Punk-Duo Bob Vylan das Publikum mit „Hell yeah, from the river to the sea, Palestine must be, will be – inshallah – it will be free!“ und „Death to the IDF” an – live übertragen von der BBC.
„Die aktuelle Situation der linken Szene und der Popkultur erinnert an das, was der Philosoph Theodor W. Adorno als ‚konformistische Rebellion‘ bezeichnete. Gemeint ist eine Haltung, die sich subjektiv als moralisch überlegen und subversiv wähnt, objektiv jedoch reaktionäre und entindividualisierende Denkmuster reproduziert.
Die ‚Free Palestine‘-Rufe auf europäischen Festivals, begleitet von Schweigen über oder gar Zustimmung zu den Gräueltaten der Hamas, sind kein Ausdruck politischen Bewusstseins, sondern eine Folge regressiven Denkens. Kritik wird durch eine moralische Pose ersetzt, Analyse durch vereinfachende Schwarz-Weiß-Narrative. Es geht nicht um Frieden oder Menschenrechte, sondern um das Bedürfnis, Teil eines identitätspolitischen Widerstandsnarrativs zu sein – einfach, um dazuzugehören und auf der richtigen Seite zu stehen.“
Popkultur und Aktivismus leben von der inszenierten Pose, aber wer sich als links und queer versteht, sollte sich fragen, ob man ausgerechnet Islamismus, Queer- und Judenhass unterstützen will. Oder wie es ein bekanntes Sprichwort treffend formuliert: „Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber.“
Till Randolf Amelungist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
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