Transaktivisten unterdrücken Debatte um Pubertätsblocker

Transaktivist*innen und ihre Verbündeten wünschen offenbar keine sachlichen und differenzierten Debatten um das gender-affirmative Modell mit Pubertätsblockern, obwohl wissenschaftliche Untersuchungen im Ausland längst ihre schwache Evidenzbasis aufgezeigt haben. Mittel der Wahl sind Lenkung von Debatten, Offene Briefe und zuletzt auch Heuschrecken.

Debattenkultur im Transaktivismus: Unangenehme Fakten sollen bitte schnell von der Bühne verschwinden (Bild von freepik).

13. Oktober 2024 | Till Randolf Amelung

Die immer noch nicht veröffentlichte, in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz dann gültige S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung“, die unter der Leitung des Psychiaters Georg Romer erarbeitet wurde, sorgt weiter für Kontroversen. Grund ist insbesondere der Umgang mit Pubertätsblockern und einer zügigen Bestätigung der minderjährigen geschlechtsdysphorischen Patient*innen in ihrem Streben nach einer Geschlechtsangleichung.

Wichtige Fachgesellschaften lehnen affirmative S2k-Leitlinie ab

Vor allem im Laufe dieses Jahres haben sich vermehrt auch aus der Ärzteschaft kritische Stimmen zu Wort gemeldet. Mindestens zwei medizinische Fachgesellschaften, die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V.  (DGPPPN) und die Schweizerische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (SGKJPP), haben im Juni verkündet, die Leitlinie in der vorliegenden Form nicht akzeptieren zu wollen.

Nun sollte auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP), der vom 18. bis 21. September in Rostock stattfand, zum Thema „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie – wie sollte die klinische Versorgung gestaltet werden?“ diskutiert werden. Eingeladen waren von den Befürwortenden der neuen Leitlinien Georg Romer und Sabine Maur, die Kritikerseite sollte von Florian Zepf und Veit Roessner vertreten werden.

Keine Diskussion auf DGKJP-Kongress

Doch die Diskussion kam nicht zustande, weil Roessner und Zepf ihre Teilnahme zurückzogen. Grund war, dass ihnen kurz vorher plötzlich Vorgaben gemacht wurden, die gerade sie als Kritiker der Leitlinien benachteiligt hätten – insbesondere deutlich kürzere Redezeit und Vorgaben, zu welchen Aspekten überhaupt etwas gesagt werden darf. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung heißt es, Zepf sollte lediglich sieben Minuten Redezeit erhalten, Rössner nur wenig mehr. Maur und Romer hätten dagegen 15 bzw. 20 Minuten sprechen dürfen. Es seien auch Vorgaben gemacht worden, zu welche Punkten sie sich äußern sollten und welche Themen auszulassen sind.

Allerdings war dies nicht die einzige Merkwürdigkeit. Nachdem die Diskussion nun mangels Kritiker auf dem Podium zu einer Präsentationsveranstaltung wurde, traute man sich anscheinend dennoch nicht in den offenen Austausch mit dem Publikum. Wie in der FAZ berichtet und in Hintergrundgesprächen bestätigt wurde, seien gar die Diskussionsfragen vorgegeben worden, d.h. auf Power-Point-Folien vorbereitet eingeblendet.

Ein Arzt, der anonym bleiben will, betonte im Gespräch mit IQN, dass ihn diese Vorgänge sehr irritiert hätten und es etwas Vergleichbares im fachwissenschaftlichen Kontext noch nie gegeben habe. Dies sei kein Vorgehen, was man in einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft erwarte. Tobias Banaschewski, Klinikdirektor aus Mannheim und ehemaliger Präsident der DGKJP, äußerte sich dazu in einem YouTube-Video: „Offensichtlich sind wir in Deutschland nicht in der Lage, differenziert einen Schritt zurückzutreten und uns von ideologischen Positionen zu verabschieden.“

Umstrittene Pubertätsblocker

Der gender-affirmative Ansatz, der bei Minderjährigen auf die schnelle Bestätigung der biographisch aktuellen Geschlechtsidentität inklusive Gabe von Pubertätsblockern setzt, ist inzwischen weltweit umstritten. Zumal andere mögliche Ursachen für das Empfinden von Geschlechtsdysphorie nicht ergebnisoffen mit den Klient*innen in einem psychotherapeutischen Setting erkundet werden sollen. Das wird gerade von Transaktivist*innen als „Konversionstherapie“ verschrieen, aber auch Sabine Maur, eine an der S2-Leitlinie beteiligte Psychotherapeutin, vermittelt eine solche Auffassung.

Mehrere Untersuchungen der Evidenzbasis in verschiedenen Ländern haben jedoch gezeigt, dass die medizinische Tauglichkeit für diesen Ansatz nur unzureichend gegeben ist. Das bedeutet, das Verhältnis von Nutzen und Risiken dieses Behandlungskonzept kann nicht gut dargestellt werden. Länder wie Großbritannien, Schweden, Finnland oder Dänemark haben den gender-affirmativen Ansatz daher längst wieder aufgegeben. Auch in weiteren Ländern, darunter Frankreich, Italien, Norwegen und die Niederlande wachsen die Zweifel.

Die Verfasser*innen der deutschen S2-Leitlinien betonen, sie hätten sich mit alldem auseinandergesetzt; die Kritik, es würde zu vorschnell mit Pubertätsblockern behandelt, sei unbegründet. Fraglich ist, warum man dann offenbar Schwierigkeiten hat, über all das souverän mit Kritikern offen zu diskutieren?

Offener Brief gegen missliebige Berichterstattung

Nicht nur fachwissenschaftliche Konferenzen, auch Fachmedien sollen auf ideologische Linie gebracht werden: Im August dieses Jahres veröffentlichte ein Zusammenschluss von Transaktivist*innen und ihnen verbundenen Ärzt*innen einen Offenen Brief, in dem sie sich gegen ihnen nicht genehme Berichterstattung im Deutschen Ärzteblatt wandten. Im Fokus der Kritik stehen besonders Artikel von Martina Lenzen-Schulte, die darin wiederholt auch unterbelichtete, da Schattenseiten von geschlechtsangleichenden Behandlungen thematisierte.

Die Journalistin Berit Uhlmann attestierte den Aktivist*innen in der Süddeutschen Zeitung ein „eigenartiges Verständnis davon, wer sich zu einem Thema äußern darf und wer nicht“. Bereits im März wurde versucht, Druck auf das Deutsche Ärzteblatt auszuüben, dass Lenzen-Schulte dort keine kritischen Texte zu Transthemen mehr veröffentlichen soll.

Eine offene Debatte wäre aber gerade in der Wissenschaft und vor allem in der Medizin wichtig, um mögliche Fehlentwicklungen und Schwächen von Ansätzen zu erkennen und entsprechend in die Entwicklung von Leitlinien sowie die Behandlungspraxis einfließen zu lassen. Die Erkenntnisse zu der schwachen Evidenz des gender-affirmativen Ansatzes mit Pubertätsblockern bei Minderjährigen zeigen die Dringlichkeit einer solchen Auseinandersetzung mehr als deutlich auf. Doch sie ist offenbar von Transaktivist*innen und einigen Ärzt*innen nicht gewünscht.

Diskursblockade auch in US-amerikanischen Fachgesellschaften

Diese offensichtlich politisch-ideologisch motivierte Diskursblockade, die bis in medizinische Fachgesellschaften hineinreicht, ist jedoch keine deutsche Ausnahme. In den USA betrifft es zum Beispiel die American Academy of Pediatrics (AAP). In einem Gastkommentar in der Zeitung The Hill beklagt der Arzt Christopher Kaliebe, dass auch in dieser Fachgesellschaft nicht sachlich und offen über den aktuellen Evidenzstand des gender-affirmativen Modells diskutiert werden kann.

Auf der diesjährigen Konferenz der AAP wurde Rachel Levine, stellvertretende Gesundheitsministerin der USA, zur Hauptrednerin auserkoren. Laut kürzlich in einem Gerichtsverfahren enthüllter E-Mails habe Levine im Jahr 2022 Druck auf die World Association for Transgender Health (WPATH) ausgeübt, um das Mindestalter für geschlechtsangleichende Operationen aus den Standards of Care zu streichen. Es gab schon damals ausreichend Hinweise, dass dies unverantwortlich ist.

Cass-Report stellt Genderambulanz vernichtendes Zeugnis aus

Im April 2024 erschien in Großbritannien der Abschlussbericht des Cass-Reports. Die Autorin, Hilary Cass, hatte den Auftrag erhalten, die Behandlungsqualität der damals einzigen Ambulanz für Minderjährige mit Geschlechtsdysphorie in der Londoner Tavistock-Klinik zu untersuchen. Cass stellte dieser ein vernichtendes Ergebnis aus, mit der Folge, dass diese Ambulanz schließen musste und der National Health Service (NHS) die Versorgung für diese Patientengruppe neu strukturiert hat.

Ein wichtiger Punkt war, dass es in den letzten Jahren zu einem starken Anstieg unter biologisch weiblichen Teenagern gekommen ist, die eine Transition wollten. Bisher weiß niemand, woher dieser starke Anstieg kommt. Cass ermittelte in ihrer Untersuchung, dass viele aus dieser Gruppe eine Reihe erheblicher Begleiterkrankungen sowie schwerwiegender biografischer Umstände mitbrachten, die nicht angemessen in der Behandlung gewürdigt wurden. Statt intensivere, explorative Psychotherapie wurde auf die zügige Gabe von Pubertätsblockern gesetzt. Auch intern gab es deshalb Kritik, doch ehemalige Mitarbeiter*innen der Londoner Ambulanz klagten, dass darüber keine Diskussion möglich war.

Zunahme von Transitionsbegehren auch in Deutschland

Auch für Deutschland ist ein Anstieg in dieser Patientinnengruppe belegt. Das zeigt zum Beispiel eine Analyse von Daten der gesetzlichen Krankenversicherung, über die auch das Wissenschaftsmagazin Spektrum der Wissenschaft berichtete. Ein Team um Psychiater Christian Bachmann vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf wertete Abrechnungsdaten für die Jahre 2013 bis 2022 aus. Gezählt wurden alle vergebenen Diagnosen einer „Störung der Geschlechtsidentität“ und verwandter Diagnosen. Unter fünf- bis 24-Jährigen Versicherten stiegen die Zahlen auf rund das Achtfache. Sehr auffällig war der Anstieg bei 15- bis 19-jährigen biologisch weiblichen Teenagern.

Bemerkenswert war auch, dass bei vielen die Diagnose nicht dauerhaft war, wobei Gründe hierfür nicht aus den Daten entnommen werden konnten. Ebenso auffällig war, dass viele der Patientinnen begleitende psychische Erkrankungen aufwiesen. Besonders häufig waren Depression, Borderline-Störung, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder posttraumatische Belastungsstörung. Dies deckt sich mit den Befunden von Hilary Cass, aber auch anderer Untersuchungen, wie zum Beispiel in Schweden oder Finnland. Um dies für Deutschland einzuordnen, wäre eine seriöse fachwissenschaftliche Auseinandersetzung umso wichtiger.

Heuschrecken gegen Konferenz von Homosexuellen

Da unter diesen geschlechtsdysphorischen Jugendlichen auch viele mit einer krisenhaften homosexuellen Entwicklung sind, distanziert sich seit einigen Jahren eine wachsende Zahl Lesben und Schwule von dem gender-affirmativen Modell. Dazu zählt auch die 2019 in Großbritannien gegründete Organisation LGB Alliance. Um den Austausch zu fördern, hält die LGB Alliance jährlich eine eintägige Konferenz ab.

In diesem Jahr fand sie am 11. Oktober in London statt. Im Programm angekündigt war auch die US-amerikanische Krankenpflegerin Jamie Reed, die selbst in einer Genderklinik gearbeitet und schließlich Missstände öffentlich gemacht hatte. Darunter zum Beispiel die miserable Betreuung von Jugendlichen mit erheblichen Begleiterkrankungen und denjenigen, die gesundheitliche Probleme durch die Behandlung mit Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen bekommen haben. Als Reeds Panel beginnen sollte, ließen sechs weibliche Teenager, die sich unter das Publikum gemischt hatten, 6000 Heuschrecken frei, die sich im gesamten Konferenzsaal verteilten.

Faika El Nagashi, österreichische Nationalratsabgeordnete für die Grünen, war vor Ort und hätte ebenfalls noch in einem Programmteil sprechen sollen. Während Reeds Auftritt kurzerhand in einen anderen Raum verlegt wurde, musste ihr Auftritt abgesagt werden, dieser Punkt soll online nachgeholt werden. „Diese ganze Aktion war so unnötig! Ich sehe das als klaren Angriff auf eine Veranstaltung von und für Homosexuelle, aber wir werden uns davon nicht einschüchtern lassen! Diese jungen Menschen wurden offensichtlich für den homophoben Angriff auf die Konferenz instrumentalisiert. Diejenigen, die dahinterstehen, werden sich verantworten müssen“, sagte El Nagashi gegenüber IQN.

Attacke gegen Vortrag von Jamie Reed

Inzwischen bekannte sich die Organisation Trans Kids Deserve Better in einem Instagram-Video mit einer als Heuschrecke verkleideten Person zu der Störaktion, wie queer.de berichtete.  Es wurde deutlich, dass Jamie Reeds Vortrag das Ziel dieser Aktion gewesen ist: „Unsere Quellen vor Ort sagen uns, dass die Rede von Jamie Reed über die Abschaffung der Gesundheitsfürsorge für trans Menschen von diesen mutigen Insekten gestoppt wurde, wobei Tausende von sechsbeinigen Freunden aus Protest herumhüpften.“ Und: „Diese Insekten haben beschlossen, Transfeindlichkeit zu bekämpfen, und setzen sich gerade jetzt für trans Jugendliche ein, mit hochgehaltenen Fühlern.“

Die jungen Frauen wurden von der Security festgehalten, die Polizei nahm die Personalien auf und ließ sie von den Eltern abholen. Die zu erwartenden Reinigungskosten und mögliche Schadensersatzforderungen seitens des Veranstaltungsortes werden den Täterinnen und ihren Familien sicherlich noch Freude bereiten. Gegenüber der britischen Tageszeitung The Telegraph sagte die Vorsitzende der LGB Alliance, Kate Barker: „Sie versuchen, eine vernünftige Debatte mit albernen Taktiken zu unterdrücken. Ich bedaure auch die Grillen, die zerquetscht wurden. Wir haben viele Veganer und Vegetarier, die darüber sehr unglücklich sind.“

Unrechte Methoden

Festzuhalten ist: Wem keine besseren Mittel einfallen, als fachwissenschaftliche Veranstaltungen in bester Politbüro-Manier lenken zu wollen, Medien mit Offenen Briefen unter Druck zu setzen oder gar Konferenzen mit Heuschrecken zu sabotieren, hat Unrecht und weiß höchstwahrscheinlich selbst, auf welch tönernen Füßen die eigenen Argumente stehen.

Es bleibt zu hoffen, dass sich immer mehr Menschen davon nicht einschüchtern lassen und solche Aktivist*innen in die Schranken verweisen, damit endlich eine fachlich angemessene Auseinandersetzung über den bestmöglichen Umgang mit Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen beginnen kann.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.