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Gender als Feindbild der Rechten und die Probleme mit einer progressiven Einheitsfront

Eszter Kováts‘ Essay aus dem Jahrbuch Sexualitäten 2021 ist online

Mit der Phrase „Das spielt nur den Rechten in die Hände!“ wird im linksprogressiven Lager jede Diskussion abgebügelt, die Kritik an populären Zielen und Konzepten übt. Wie zum Beispiel an einem Geschlechterverständnis, das von wissenschaftlicher Evidenz entkoppelt ist. Die Politikwissenschaftlerin Eszter Kováts fragt, ob das wirklich hilfreich für eine linke Politik ist. Wir bieten diesen Essay kostenlos zum Download an.

Das heteronormative Geschlechter- und Familienideal von Rechtspopulisten (Foto von Sandy Millar auf Unsplash).

28. August 2024 | Redaktion

In den letzten Wochen hat gerade die Debatte um unfaire Vorteile von zwei Teilnehmenden am olympischen Frauenboxen vor Augen geführt, wie wenig ein queeraktivistisch geprägtes Geschlechterverständnis in vielen Teilen der Bevölkerung mehrheitsfähig ist. Es ist mehr als deutlich wahrnehmbar, dass die Ablehnung von klaren, wissenschaftsbasierten Grenzen für die Teilnahme am Frauensport irritiert. Daraus können vor allem reaktionäre und illiberale Kräfte Honig saugen, was sie unter Schlagworten wie „Gender-Gaga“ bereits ausgiebig tun.

Dieses queeraktivistische Geschlechtsverständnis will die Selbstdefinition der Identität über körperliche Materialität stellen, gar von einer Relevanz dieser leiblichen Materialität nichts mehr wissen. Das sorgte auch bei einem weiteren Thema für Kontroversen – der Ersetzung des Transsexuellengesetzes durch ein Selbstbestimmungsgesetz. Trotz schwerwiegender Bedenken, die seitens der Union aus der Opposition und von Frauengruppen vorgebracht wurden, überhaupt nicht mehr zu prüfen, ob eine abgegebene Selbsterklärung eine gewisse Plausibilität hat, haben sich die regierenden Ampel-Parteien nicht beirren lassen. Nun tritt das Gesetz zum 1. November 2024 in Kraft.

Die Entleibung des Geschlechts ist fester Bestandteil des linksprogressiven Kanons. Kritikerinnen und Kritiker an den Folgen eines so aus politischer Motivation heraus veränderten Geschlechterverständnis werden oft pauschal bezichtigt, reaktionär, rechts, gar „Nazi“ zu sein. Die so Beschimpften mögen dann zwar öffentlich eingeschüchtert schweigen, doch es ist zu bezweifeln, ob sie ihre Position deshalb ändern – wir als Initiative Queer Nations haben uns diesen Sprechverboten immer widersetzt.

Die Politikwissenschaftlerin Eszer Kováts plädierte schon 2021 in ihrem „Jahrbuch Sexualitäten“-Beitrag dafür, sich im progressiven Lager selbstkritisch die Frage zu stellen, an welchen Punkten der vorgebrachten Kritik und Ablehnung doch etwas bedenkenswert sein könnte.

So schreibt sie: „Homophob, frauenfeindlich, regressiv, reaktionär, im Mittelalter geblieben – solche Bezeichnungen werden tagtäglich in den Medien über die gegen das Feindbild der sogenannten Genderideologie mobilisierenden Akteure bzw. ihre UnterstützerInnen wiederholt. Aber diese Bezeichnungen verschleiern mehr als sie aufdecken und dienen eher politischen als analytischen Zwecken. Dieser Beitrag geht einigen Aspekten nach, die in den Interpretationen der sogenannten Anti-Gender-Bewegungen zu kurz kommen. Es reicht nicht, entweder nur die Angebotsseite (Diskurse, Netzwerke, Finanzierung der Rechten) zu analysieren oder die Nachfrageseite auf eine psychologische Ebene zu reduzieren und damit jeglichen Widerstand als Phobie und Feindlichkeit fehlgeleiteter oder unmoderner Menschen abzutun. Stattdessen sollte man sich vielmehr mit den strukturellen Gründen der Nachfrage befassen.“

Ein solcher struktureller Grund kann eben sein, dass in progressiven Konzepten „der Wurm drinsteckt“ – wie eben bei einem Geschlechterverständnis, was von biologischen Gegebenheiten nichts mehr wissen will.

Kováts zeigt auf, wie illiberale Kräfte das für sich zu nutzen wissen und damit auch wichtige Anliegen verhindern. So behauptete zum Beispiel die rechtspopulistische Fidesz-KDNP-Regierung Ungarns, die Istanbul-Konvention deshalb nicht ratifizieren zu wollen, weil diese mit einem Konzept von Gender als freie Wählbarkeit des Geschlechts arbeite. Bei der Istanbul-Konvention handelt es sich um das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.

In den ostdeutschen Bundesländern stehen Landtagswahlen vor der Tür, die in Teilen rechtsextreme AfD hat hohe Zustimmungswerte. Diese Partei weiß auch die Konflikte rund um Geschlecht für sich zu nutzen, zuletzt sah man das in den Auseinandersetzungen um das Selbstbestimmungsgesetz.  Anstatt im progressiven Lager jedwede kritische Diskussion mit dem Verweis „Das spielt nur den Rechten in die Hände!“ abzuwehren, sollte man sich fragen, ob es klug ist, an dieser Strategie weiter festzuhalten.

In diesem Sinne ist Eszter Kováts‘ Essay auch noch drei Jahre später lesenswert und kann wichtige Impulse geben, um nicht nur Selbstkritik zu üben, sondern dem rechtspopulistischen Trend etwas mit tatsächlich sinnvollen Konzepten entgegenzusetzen.

Zum Essaythema gab es auch eine Queer Lecture mit Eszter am 12. Mai 2021, die Aufzeichnung kann auf YouTube angesehen werden:

Jahrbuch Sexualitäten 2021

Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Melanie Babenhauserheide, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf.

Mit Beiträgen von Janin Afken, Till Randolf Amelung, Marco Ebert, Jan Feddersen, Uwe Friedrich, Jan-Henrik Friedrichs, Benno Gammerl, Antoine Idier, Jane Clare Jones, Marco Kamholz, Eszter Kováts, Aaron Lahl, Rainer Nicolaysen, Peter Obstfelder, Monty Ott, Peter Rausch, Hedwig Richter, Manuel Schubert, Detlef Siegfried, Vojin Saša Vukadinović, Götz Wienold, Benedikt Wolf und Mesaoo Wrede.

304 S., 15 Abb., geb., Schutzumschlag, 15 x 22,3 cm, ISBN 978-3-8353-5023-6

Preis: € 34,90 (D) / € 35,90 (A)

Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Mediale Vermittlung von Forschungen zu Geschlecht und Sexualität

Jahrbuch-Beitrag befasst sich mit medialer Rezeption von Gender-Nonkonformität in archäologischen Funden

Der Historiker Aaron Gebler setzt sich in seinem Beitrag im Jahrbuch Sexualitäten 2024 mit der Berichterstattung über einen archäologischen Fachartikel auseinander, der die scheinbare Kontinuität nichtbinärer Identitäten von Bronzezeit bis heute möglich erscheinen lässt. Norbert Finzsch lobt in seiner Rede auf der Release-Party Geblers Text für seine präzise Analyse. Wir veröffentlichen die Rede zum Nachlesen im IQN-Blog!

Norbert Finzsch bei der Queer Lecture und Release-Party am 5. Juli 2024 in der taz Kantine (Foto: Screenshot)

25. August 2024 | Norbert Finzsch

Dr. Aaron Gebler ist Akademischer Rat am Seminar für Alte Geschichte der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er ist spezialisiert auf die Geschichte der Demokratie in Athen und Griechenland und die Losverfahren in der Antike. Darüber hinaus beschäftigte er sich mit den Digital Classics und Partizipationsformaten in modernen Demokratien. Sein Beitrag im Jahrbuch mit dem Titel Geschichte als Argument? Zur Rezeption historischer Forschung in der Debatte um Geschlechtsidentitäten stellt den gelungenen Versuch dar, das vielbeschworenen Lernen aus der Geschichte zu thematisieren, in seinen Worten, als Rückgriff auf Geschichte der Sexualität als „Kompass, um gegenwärtige Auseinandersetzungen zu verstehen und aufzulösen.“ „Indem sie [die Geschichte] die historische Kontinuität und Veränderlichkeit von Geschlechtsnormen aufzeigt, trägt sie dazu bei, essentialistische Vorstellungen von Geschlechtsidentitäten zu dekonstruieren.“

Archäologische Forschung in den Medien

Konkret geht es Gebler um die archäologische Funde, die die Archäologinnen Eleonore Pape und Nicola Ialongo 2023 im wissenschaftlich renommierten Cambridge Archaeological Journal veröffentlicht haben und in der als biologisch weiblich gelesene Personen mit als angeblich typisch männlich identifizierten Grabbeigaben nachgewiesen wurden. Dieser Artikel argumentiert vorsichtig und methodisch einwandfrei, indem er die Grenzen der Ergebnisse diskutiert und fand in der nichtwissenschaftlichen Presse breiten und durchweg negativen Nachhall. Dabei wiesen die verschiedensten Artikel auf die scheinbare Kontinuität nichtbinärer Identitäten von Bronzezeit bis heute hin, während der wissenschaftliche Aufsatz, der in der Presse referiert wurde, zu wesentlich vorsichtigeren Einschätzungen kam.

Nicht-binäre Geschlechteridentitäten als Triggerpunkte

Gebler wendet sich der Frage zu, wie die angeblichen Funde in den Diskurs der Gegenwart passen. Er schreibt: „In unserem Fall haben wir es mit einem Argument zu tun, das sein Gewicht durch einen historischen Bezug gewinnt: Da es bereits im prähistorischen Europa nicht-binäre Geschlechtsidentitäten gegeben hat, sind sie keine Erfindung der Gegenwart.“ Er analysiert die Rezeption der Forschungsergebnisse in verschiedenen Organen wie der Achse des Guten, einem rechtspopulistischen Organ, das durch seine hämische Polemik aus dem Rahmen fällt.

Gebler situiert die Angriffe auf den angeblichen Inhalt der vorgelegten Untersuchungen dann auch in den Kontext der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Bundesrepublik und die Frage „ob unterschiedliche Identitäten und Soziokulturen als gleichwertig anerkannt werden.“ Obgleich nicht-binäre Geschlechteridentitäten eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung genießen, gebe es doch Triggerpunkte, die durch Normalitätsverstöße ausgelöst werden können.

Kulturelle Vorstellungen von „Normalität“

Nun ist es kein Geheimnis: Die westlichen Kulturen – damit meine ich die Kulturen der entwickelten kapitalistischen Wirtschaftsordnung auf der Grundlage judäo-christlicher Ethik und einer kolonialen Vergangenheit – vor allem also die Kulturen Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, der USA und Kanadas, basieren auf der Vorstellung der „Normalität“.

Wie Georges Canguilhem, in seiner Studie Le normal et le pathologique argumentierte ist „[…] der Begriff normal [… seit dem 18. Jahrhundert] in die Volkssprache eingegangen und hat sich dort aus den spezifischen Vokabularen zweier Institutionen eingebürgert, der pädagogischen Institution und der Institution des Gesundheitswesens, deren Reformen, zumindest was Frankreich betrifft, unter der Wirkung einer gleichen Ursache, der Französischen Revolution, zusammenfielen. „‚Normal‘ ist der Begriff, mit dem das 19. Jahrhundert den schulischen Prototyp und den organischen Gesundheitszustand bezeichnen wird“, schrieb Canguilhem.

Medientheoretische Vermittelbarkeit

Interessanterweise sind es in der Reaktion auf den Aufsatz Eleonore Papes und Nicola Ialongos die Wissenschaftlerinnen, deren angeblich nicht-normales Verhalten durch Kopfschütteln oder Invektive geahndet wird. Anders als Aaron Gebler sehe ich die Verantwortung für den Diskurs über den Normalitätsverstoß hier auf Seiten der Medien und nicht so sehr bei den Akteur*innen des Wissenschaftssystems. Die beiden Archäologinnen, die in der Presse verspottet und beleidigt wurden, haben alles Erdenkliche getan, um den Geltungsbereich und die Grenzen ihrer Forschung darzustellen.

Aaron Geblers Verdienst ist es, noch einmal auf die besondere Aufgabe von Wissenschaftler*innen in den Gender- und Sexualitätsstudien hingewiesen zu haben, ihre Ergebnisse so aufzubereiten, dass Normalitätsverstöße medientheoretisch vermittelbar sind. Wie schwer das sein kann, weiß ich aus eigener Erfahrung. Aaron Gebler hat das noch einmal ins Bewusstsein gehoben und dafür gesorgt, dass das Baby der Sexualitätsgeschichte nicht mit dem Badewasser des radikalen Essentialismus ausgeschüttet wird.

Der Redebeitrag zum Nachhören:


Norbert Finzsch, geboren 1951 in Köln, ist ein Sozial- und Kulturhistoriker, der in Köln, Bordeaux, Berkeley, Canberra, Hamburg und Berlin geforscht und gelehrt hat. Er hatte den Lehrstuhl für Nordamerikanische Geschichte in Hamburg (1992-2001) und Köln (2001-2016) inne. Seit 2020 lehrt er Kulturgeschichte der Psychotherapie an der Sigmund Freud Privatuniversität in Berlin. Er publiziert zur Geschichte des Körpers und der Sexualitäten.


Über das Jahrbuch Sexualitäten 2024

294 S., 22 z.T. farb. Abb., geb., Schutzumschlag, 15 x 22,3 cm, ISBN 978-3-8353-5725-9

Preis: € 34,00 (D) / € 35,00 (A)

Das Jahrbuch Sexualitäten ist ein jährlich im Wallstein-Verlag erscheinendes Periodikum, das Fragen des Sexuellen in einem weiten Sinne thematisiert – unter anderem in den Bereichen des Gesellschaftlichen, Politischen, Kulturellen, Historischen und Juristischen, in der Medizin und den Naturwissenschaften, in Religion, Pädagogik und Psychologie.

Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen.

Mit Beiträgen von Marko Martin, Thomas Großbölting, Vojin Saša Vukadinović, Blake Smith, Tae Ho Kim, Björn Koll, Martina Lenzen-Schulte, Chantalle El Helou, Aaron Gebler, Sigi Lieb, Joey Horsley, Luise F. Pusch, Jan Feddersen, Clemens Schneider, Manuel Schubert, Meike Lauggas, Michael Wunder, Till Randolf Amelung, Adrian Daub, Marion Hulverscheidt, Wiebke Hoogklimmer, Richard F. Wetzell, Thomas Weber, Norbert Finzsch, Norman Domeier und Ketil Slagstad.

Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Kritik ist nicht gleich Hetze!

Wie die Verengung des Meinungskorridors LGBTIQ-Anliegen schadet

In der Debatte um einen mutmaßlichen unfairen Vorteil von zwei Teilnehmerinnen am Frauenboxwettkampf bei den Olympischen Spielen in Paris wurde Kritiker*innen pauschal unterstellt, Hetze zu verbreiten. Doch so verweigert man sich selbst der Auseinandersetzung mit Kritik und wissenschaftlicher Evidenz.

Wie klein soll das Overton-Fenster sein? (Foto von Katerina Pavlyuchkova auf Unsplash.)

21. August 2024 | Till Randolf Amelung

In der Debatte um die zwei DSD-Boxerinnen bei den Olympischen Sommerspielen in Paris wurde sichtbar, wie schnell gerade bei LGBTIQ-Themen der Reflex in vielen Medien und in den Kommentarspalten greift, jede Kritik als Hetze zu brandmarken. Wer glaubt, damit etwas Gutes für LGBTIQ zu tun, irrt sich gewaltig – denn wo wir selbst nicht mehr zwischen Kritik und Hetze unterscheiden, werden sich auch andere nicht mehr darum bemühen. Warum sollte man noch versuchen, Kritik nuanciert zu äußern, wenn sie doch als Hetze abgetan wird?

Beispiel Olympisches Frauenboxen

Frauenboxen ist bei den Olympischen Spielen nicht unbedingt eine Sportart, bei der man großes Medieninteresse erwartet, doch dieses Jahr in Paris nahmen zwei Boxerinnen teil, die zuvor vom internationalen Boxverband IBA disqualifiziert wurden. Labortests ergaben, dass es sich bei ihnen nicht um biologische Frauen handelt.

Doch da die IBA vom IOC suspendiert wurde, hatte das IOC die Hoheit über die olympischen Boxturniere und damit auch über die Zulassungsbedingungen. Diese sahen so aus, dass allein ein weiblicher Eintrag im Pass reichte. Die von der IBA vorgenommenen Testungen wurden als falsch abgekanzelt und Äußerungen, die beiden Boxerinnen seien biologisch männlich als „russische Desinformation“. Die Durchführung eigener Tests zur Klärung der Causa verweigerte das IOC.

Mit dem nur 46 Sekunden langen Boxkampf zwischen Imane Khelif aus Algerien, einer der beiden umstrittenen Personen, und der Italienerin Angela Carini nahm dann die Kontroverse ihren Lauf. Während es gerade im Netz auch viele erboste Reaktionen gab, weil es offensichtlich kein gewöhnliches Duell war, versagten viele Medien.

IOC bezeichnet Kritik als „russische Desinformation“

Unhinterfragt wurde die Sicht des IOC übernommen, die Hinweise auf biologisch männliche Vorteile der beiden Teilnehmerinnen Imane Khelif und Lin Yu-Ting als „russische Desinformation“ übernommen. Jede Kritik an deren Teilnahme in den Frauenboxwettbewerben wurde als Hetze abgetan, faktenbefreite Faktenchecks von unterschiedlichen Medien wie RND, Correctiv und Volksverpetzer befeuerten das noch. Auch kritische Beiträge im IQN-Blog sahen sich solchen Vorwürfen ausgesetzt.

Dabei ist wissenschaftlich gut belegt, dass eine vermännlichende Pubertät für dauerhafte und mitunter deutliche Leistungsunterschiede im Vergleich zu biologischen Frauen zur Folge hat. Menschen im Frauensport antreten zu lassen, die eine vermännlichende Pubertät durchlaufen haben, hat daher negative Folgen für Fairness und Sicherheit von Frauen.

Einzig die Süddeutsche Zeitung erinnerte sich noch an ihre journalistische Verantwortung und veröffentlichte schließlich Ergebnisse einer umfassenden Recherche zu den Verflechtungen zwischen personellen und institutionellen Verflechtungen zwischen internationalen Sportfunktionären. Es sind Verflechtungen, die weniger von hehren Inklusionsgedanken von geschlechtlichen Minderheiten getrieben sind als vielmehr von Machtstreben und -erhalt sowie Prestigegewinn durch olympische Medaillen. Und auch, dass die Testergebnisse nicht das Produkt russischer Desinformation sind.

Die Integrität des Frauensports und die Sicherheit von Athletinnen spielen bei alledem keine Rolle. Von denen, die jedwede Kritik an der Teilnahme von Imane Khelif und Lin Yu-ting als Hetze abbügelten, ist bislang keine Reaktion auf die fundierten Recherchen der SZ zu vernehmen. Dabei würde es von Größe zeugen, wenn man zugeben könnte, auch mal falsch gelegen zu haben.

Jedwede Kritik wird als Hetze abgetan

Kritik sah sich auch die Cartoonistin Nadia Menze ausgesetzt, als sie beim Humanistischen Pressedienst (hpd) eine Karikatur veröffentlichte, die den Umstand des unfairen Vorteils und die Verweigerung der objektiven Feststellung dessen anhand der Gegenüberstellung „Schwergewicht-Fliegengewicht“ aufgreift. Der Schwergewichtsboxer sagt: „In meinem Pass steht aber ‚Fliegengewicht‘ und es wäre menschenverachtend, mich zu wiegen!“

Man wusste sofort, dass es eine Anspielung auf das olympische Frauenboxen in Paris war. In den Kommentaren, zum Beispiel auf Facebook, waren Dinge zu lesen wie zum Beispiel, dass man damit „misogyne rechtsaußen Narrative“ bediene. Oder auch, dass man „menschenverachtende, faktenfreie Right-Wing-Propaganda“ verbreite.

Als Reaktion auf diese Kritik veröffentlichte Menze einen weiteren Cartoon, dieses Mal unter anderem auf X. In diesem wird ein Wissenschaftler auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Unter den Menschen, die ihn verbrennen, entsteht dieser Dialog: „Hat er denn eigentlich Unrecht?“ – „Ist doch egal – seine Fakten widersprechen meiner Meinung!“

Wissenschaftliche Fakten, die nicht zur eigenen Meinung passen, haben es im aktuellen Diskursklima sehr schwer (Bild: Mit freundlicher Genehmigung von Nadia Menze).

Rund um Geschlechterfragen ist ein Klima entstanden, in dem sich aus vielleicht guten Absichten heraus von biologischen Fakten entfernt wurde – auch jenseits des konkreten Falls bei den Olympischen Spielen. Man wollte trans- und intergeschlechtliche Personen gerechter werden. Dafür wurden biologische Erkenntnisse über Geschlecht bis zur Unkenntlichkeit relativiert, gar behauptet, sie seien überholt. Das stimmt so aber nicht.

Mutwillige Verengung des Meinungskorridors

Auch gesellschaftspolitisch wünschenswerte Anliegen, wie ein besserer Umgang mit Trans und Inter, können wissenschaftliche Evidenz nicht über den Haufen werfen. Und solche Anliegen müssen sich auch da der Kritik stellen können, wo sie in Konflikt mit ebendieser wissenschaftlichen Evidenz geraten. Wer immer nur „Hetze“ schreit, verengt das Overton-Fenster mutwillig auf die Breite einer Schießscharte.

Wenn man nun aber Kritik permanent moralisierend als „rechte Desinformation“ oder Hetze abkanzelt, wird man nur kurzfristig erreichen, dass sie aus dem öffentlichen Diskurs verschwindet. Doch stumm stellen lässt sich das so nicht dauerhaft. Schon gar nicht wird man auf diese Weise weiterhin viel Sympathien in der Bevölkerung erhalten.

Stattdessen kommt es viel schlimmer: Wenn wir nicht bereit sind, nuanciert mit Kritik umzugehen und vor allem nicht mehr Kritik von Hetze unterscheiden wollen, dann werden die Kritiker*innen unserem schlechten Beispiel folgen. So entsteht eine hässliche Eskalationsspirale, bei der man nur verlieren kann. Ebenso trägt man mit der Etikettierung als „rechts“ dazu bei, dass es den so Bezeichneten irgendwann egal wird. Zudem sorgt man mit bewusst übertriebenen und auch falschen Zuschreibungen für eine Relativierung des Begriffs und so wird er am Ende nutzlos.

Das wird am Ende Trans und Inter schaden und bisher erreichte Akzeptanz rückabwickeln.  So hat man dann auch noch selbst zum Rechtsruck und zur LGBTIQ-Feindlichkeit beigetragen.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Wie steht es 30 Jahre nach dem Tod Manfred Salzgebers um den queeren Film?

Manfred Salzgeber hat bis zu seinem Tod 1994 sein Leben dem Film gewidmet – insbesondere, dem queeren Film Anerkennung zu verschaffen. Doch wie werden heute im Jahr 2024 in Deutschland queere Filme gefördert? Ein Jahrbuch-Essay von Björn Koll liefert deprimierende Zahlen, Wieland Speck ordnet sie in seiner Laudatio ein.

Ob queere Filme gezeigt werden, entscheidet sich, wie gut sie über einen Verleih zugänglich sind und ob sie überhaupt ausreichend Finanzmittel für die Umsetzung erhalten. (Foto von Jeremy Yap auf Unsplash)

17. August 2024 | Redaktion

Am 12. August 1994 starb Manfred Salzgeber, der schwule Pionier, der 1985 mit Edition Salzgeber Deutschlands bis heute bedeutendsten Filmverleih für queere Filme aufbaute. Queere oder früher schwul-lesbisch genannte Filme hatten es schon immer schwer, wahrgenommen und von größeren Verleihfirmen berücksichtigt zu werden. In den 1980ern waren zudem auch HIV und Aids ein großes Thema für Salzgeber, der 1994 selbst den Folgen einer HIV-Infektion erlag.

Der ehemalige Praktikant und spätere Geschäftsführer Björn Koll erinnerte sich 2020 im taz-Interview: „Da gab es Filme, mit denen kein etablierter Verleih arbeiten wollte, da mussten also wir ran. Und da gab es natürlich Themen wie Aids, schwul, lesbisch – und davon wollte der sogenannte Markt auch nichts wissen.“

Manfred Salzgeber machte sich jedoch nicht nur als Filmverleiher einen Namen, sondern baute Anfang der 1980er bei der Berlinale auch die Sektion Panorama aus, in der bis heute mutige und unkonventionelle Filme gezeigt werden sollen – insbesondere aber auch queere. Gemeinsam mit dem damaligen Assistenten und späteren Nachfolger als Leiter der Panoramasektion, Wieland Speck, rief Salzgeber 1987 auch den Teddy-Award ins Leben, mit dem bis heute queere Filme bei der Berlinale ausgezeichnet werden.

Doch wie steht es 30 Jahre nach Salzgebers Tod in Deutschland um den queeren Film? Im Jahrbuch Sexualitäten 2024 beklagt Björn Koll in seinem Essay „Warum queere Filme in Deutschland nicht gefördert werden“, dass diese Filme prozentual nur 0,2 Prozent von den insgesamt rund 314 Millionen Fördermitteln erhalten, die insgesamt für die Filmförderung zur Verfügung gestellt werden. Somit erhalten queere Filme nicht die nötige Unterstützung – selbst in einem nicht so LGBTI-freundliches Land wie Polen werden mittlerweile mehr solcher Filme produziert als hierzulande. Koll fragt, ob es für queere Filme verpasst wurde, Quotenregelungen wie für Frauen zu erkämpfen, die im Fördermittelvergabeprozess berücksichtigt werden müssen.

Wieland Speck, der Kolls Text auf der Release-Party vorgestellt hat, bejaht dies und fügt zum Entscheidungsprocedere über die Mittel noch hinzu: „Über 100 Entscheiderinnen befinden über diese Summe, Filmleute wie du und ich! Ich selbst war oft genug in solchen Gremien. Mein entschiedenes Fazit: Demokratie ist für die Politik, nichts für die  Kunst… die Kompromissentscheidung moderiert immer weg von der Radikalität, sei es inhaltlich oder ästhetisch. Da kann Kunst nur leiden.“

Speck lobt Kolls Essay als „Füllhorn an Recherche“, mit dem es sich mit Veränderungen in der Filmförderungen auseinandersetzen ließe.

Wieland Specks vollständige Laudatio jetzt zum Nachhören:

Jahrbuch Sexualitäten 2024

Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen.

Mit Beiträgen von Marko Martin, Thomas Großbölting, Vojin Saša Vukadinović, Blake Smith, Tae Ho Kim, Björn Koll, Martina Lenzen-Schulte, Chantalle El Helou, Aaron Gebler, Sigi Lieb, Joey Horsley, Luise F. Pusch, Jan Feddersen, Clemens Schneider, Manuel Schubert, Meike Lauggas, Michael Wunder, Till Randolf Amelung, Adrian Daub, Marion Hulverscheidt, Wiebke Hoogklimmer, Richard F. Wetzell, Thomas Weber, Norbert Finzsch, Norman Domeier und Ketil Slagstad.

294 S., 22 z.T. farb. Abb., geb., Schutzumschlag, 15 x 22,3 cm, ISBN 978-3-8353-5725-9

Preis: € 34,00 (D) / € 35,00 (A)

Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Das Erbe der LGBTI*-Bewegung in der DDR fruchtbar machen

Im Gespräch mit Anette Detering und Wolfgang Beyer

Anette Detering und Wolfgang Beyer vom EAST PRIDE BERLIN erläutern, was sie politisch bewegt – nämlich der Kampf für Emanzipation und Sichtbarkeit. Und aktuell: Solidarität mit Israel. Außerdem sprechen sie über das Erbe der queeren Bewegung der DDR. IQN-Vorstand Jan Feddersen hat mit beiden gesprochen.

Anette Detering und Wolfgang Beyer tragen das Banner des diesjährigen East Pride Berlin (Foto: Privat).

14. August 2024 | Jan Feddersen

Ihr als „East Pride Berlin“, die eine Pride Demo als Solidaritätsgeste mit Israel veranstaltet habt, werdet in der queeren Community als jene mit der „umstrittenen“ Parade bezeichnet. Was meint ihr dazu? Was könnte das „Umstrittene“ sein?

Wolfgang Beyer: Als „umstritten“ wurde der EAST PRIDE BERLIN in seiner nun vierjährigen Geschichte in diesem Jahr erstmals bezeichnet. Ganz offensichtlich gilt eine solidarische Haltung, bezogen auf den einzigen jüdischen Staat, Israel eben, als keinesfalls konsensfähig innerhalb der Berliner Szene.

Anette Detering: Eigentlich halten wir es für selbstverständlich, dass Pride-Demonstrationen Streit provozieren wollen. Der EAST PRIDE BERLIN hat schon mit seinem ersten Motto „Homophobie ist Sünde“ provoziert, und wir tun dies auch gerne weiterhin.

Ihr habt Euch dieses Jahr dem Thema Israel gewidmet. Welche Motti waren in den vergangenen Jahren die Eurigen?

Anette Detering: Der EAST PRIDE BERLIN hat seine Wurzeln in der unabhängigen Lesben- und Schwulenbewegung nicht „der“ DDR, sondern „in“ der DDR. Das Besondere an dieser Bewegung in einer sozialistischen Diktatur war gar nicht allein die Frage nach der Homosexualität, sondern das Organisieren und Herstellen von Öffentlichkeit durch selbstbestimmte Gruppen. Die DDR hat immer behauptet, es gäbe keine antihomosexuelle Diskriminierung im Sozialismus und hat damit für sich in Anspruch genommen, für Homosexuelle sprechen zu können. Als dann Homosexuelle in den 1980er Jahren anfingen, eben selber für sich zu sprechen und sich selbst zu organisieren begannen, war eben diese Gruppenbildung.

Das hat dem DDR-Regime gar nicht gefallen

Anette Detering: Das hat die Bewegung politisiert und auch zu einer Opposition zur SED gemacht. Das haben wir 2021 thematisiert – mit der Überschrift „Für eure und unsere Freiheit“.

Wolfgang Beyer: 2022 hat der russische Präsident Wladimir Putin deutlich das antihomosexuelle Motiv seiner Kriegsführung ausgesprochen. Es ginge nicht allein um Territorien, sondern auch um einen Kampf gegen die sogenannte Regenbogenideologie. Wir wollten genau dieses Motiv pointiert zum Ausdruck bringen: „Homophobie führt zu Krieg“ war dann unser Motto vor zwei Jahren. Im folgenden Jahr 2023 begann die Welle queerfeindlicher Verfolgungen und antihomosexueller Gesetzgebung auf dem afrikanischen Kontinent mit dem „Anti-Homosexuality Act“ in Uganda. Durch persönlichen Kontakt zu einer Queeren Kirche in Kampala haben wir Einblick in die zerstörerischen Folgen dieses Gesetzes bekommen. Die negative Betroffenheit der gesamtgesellschaftlichen Lebensumstände haben wir mit unserem Motto ins Positive gewendet und von der befreienden Kraft homosexueller Liebe und Lust für alle Menschen gesprochen: „Homosexuality is for everyone“.

Und das Motto dieses Jahres?

Wolfgang Beyer: Auch für unser Motto „Homos sagen Ja zu Israel“ war die Frage nach dem Umgang mit Homosexualität und Antihomosexualität leitend. Das Massaker der Hamas-Terroristen und ihrer Freunde aus dem Gazastreifen an der wehrlosen israelischen Zivilbevölkerung vom 7. Oktober 2023 war zunächst ein Angriff auf alle Menschen in Israel, gleichzeitig aber auch Ausdruck eines Vernichtungswillens gegen selbstbestimmtes homosexuelles Leben.

Anette Detering: Es geht um Solidarität mit Menschen aus Israel, mit Jüdinnen und Juden in Berlin, aber auch um ein ureigenes Interesse von LGBTIQ. Israel ist eine demokratische Gesellschaft und ein Rechtsstaat, der unsere Lebensformen schützt und verteidigen wird.

Wolfgang Beyer: Wir erleben gegenwärtig mit der grundsätzlichen Infragestellung des Existenzrechtes des Staates Israel auch einen neuen antiemanzipatorischen Ton innerhalb der queeren Community. Immer mehr habe ich den Eindruck, dass Israelfeindlichkeit Hand in Hand geht mit unreflektierter Homophobie. Das heißt, sämtliche Aspekte antihomosexueller Gewalt in den Gesellschaften des Nahen Ostens können nicht thematisiert werden, weil sie von den Protagonisten der sogenannten „Queers for Palestine“-Bewegung selbst tief verinnerlicht wurden. Die Identifikation mit dem Mythos „Palestine“ kommt da geradezu wie eine Kompensation der eigenen nicht wirklich politisch reflektierten Homosexualität daher.

Zu Euren Wurzeln, ihr positioniert Euch als ostisch. Ist der Osten der Bundesrepublik, den ihr ja mit „East Pride“ repräsentiert, homophober als der Westen? Stimmt es, dass man im Osten als schwuler Mann, als lesbische Frau oder als unideologischer Transmensch auch ein zufriedenes Leben führen kann?

Anette Detering: Wir sind als Initiatoren des EAST PRIDE BERLIN keine Sozialwissenschaftler. Daher können wir nur aus unserer Erfahrung sprechen. Und nach dieser ist der Osten nicht weniger oder mehr homophob als der Westen. Allerdings kann über Homophobie nicht im luftleeren Raum ohne andere politische Kontexte gesprochen werden.

Wolfgang Beyer: Menschen aus dem Osten, aus der ehemaligen DDR oder dem Ostblock, tragen die Erfahrung von Diktatur und Demütigung in sich. Ganz ähnlich wie beim Phänomen der „Queers for Palestine“ sehe ich so etwas wie eine Identifikation mit dem Aggressor als einen Ausweg, mit dieser Demütigung umzugehen. Tragisch ist dabei aber, dass es in ganz Deutschland – bei Ossis und Wessis – nicht gelingt, den damit verbundenen Drang aufzulösen, anderen die Schuld und die Verantwortung für die eigene Situation zuzuschreiben. Das gilt sowohl für das Ost-West-Deutsche Verhältnis als auch etwa für die Frage nach der überfälligen Gestaltung einer Einwanderungsgesellschaft. Die Einwanderungs- und damit auch Kulturtransformationsfrage – und um die geht es auch schon im Ost-West-Verhältnis – ähnelt dem, womit Homosexuelle es zu tun haben. Homosexuelle stehen nämlich vor der Aufgabe, als Homosexuelle in einer heteronormativen Gesellschaft ein positives homosexuelles Selbstbewusstsein zu entwickeln. Voraussetzung eines gelingenden Prozesses wäre so etwas wie Selbsterfahrung und dann Emanzipation. Und das fehlt im Osten – aber eben auch in ganz Deutschland.  

Anette Detering: Das lässt sich hier nur anreißen. Aber ich erlebe, dass Ostdeutsche häufig ein schwieriges Verhältnis zu ihrem Ostdeutschsein haben, manchmal auch gar keins. Westdeutsche hingegen halten sich selbst schlicht für deutsch, also irgendwie für das Ganze. Als wir den ersten EAST PRIDE BERLIN organisiert haben, war es schwierig, Aktivisten aus der ehemaligen DDR noch einmal in Bewegung zu setzen und auch zum Sprechen zu bringen. Die Menschen, die einst mutig und risikobereit in der SED-Diktatur politische Homosexuellen-Gruppen gegründet haben, erschienen uns nun in mindestens zweierlei Hinsicht bedeutungslos geworden zu sein. Einerseits stellten wir fest, dass bei vielen gar kein Bewusstsein mehr vorhanden war für die Bedeutung dessen, was sie damals in der DDR geleistet haben. Andererseits waren die Personen selbst in er gegenwärtigen Gesellschaft faktisch bedeutungslos geworden. Wer weiß schon noch, dass der LSVD aus der unabhängigen Lesben- und Schwulenbewegung in der DDR erwachsen ist? Wer kennt die Geschichte von der Abschaffung des §151 StBG-DDR?

Wolfgang Beyer: Um es kurz zu machen: Es könnte eigentlich anders sein, aber es gibt einen Mangel an positivem Selbstbewusstsein im Osten. Und das verursacht Aggressionen oder übersteigertes, negatives Selbstbewusstsein. Die Widerstandsgeschichte von Homosexuellen in der DDR böte eine Möglichkeit, positives Selbstbewusstsein zu entwickeln.

Wie?

Wolfgang Beyer: Durch Erinnerung und Nacherzählung. In vielem war dieser Widerstand seiner Zeit und auch den vielen anderen Gruppen weit voraus und hatte eine Art Schlüsselrolle. So hat etwa der Druck dieses Netzwerkes zur Abschaffung des antihomosexuellen Paragraphen 151 StGB-DDR geführt. Das ist nach meinem Wissen einzigartig in der Geschichte der DDR.

Anette Detering: Schwule Männer, lesbische Frauen oder auch „unideologische Transmenschen“ können immer und überall ein ruhiges und zufriedenes Leben führen, wenn sie brav und angepasst sind – in der DDR und in heutigen Verhältnissen auch!

Wie schätzt ihr den CSD ein, wie seht ihr insbesondere die queerfeministische Szene, die etwa ihre Hochburgen in den staatlich alimentierten Szenen hat – und gastronomisch im Kreuzberger Möbel Olfe und im Südblock?

Anette Detering: Ich halte es für wichtig, dass LGBTIQ* in der Metropole Berlin mit einer möglichst großen Demonstration an den Aufstand von Homosexuellen 1969 in New York erinnern.   Dazu bietet der CSD jedes Jahr immer wieder Möglichkeiten. Wir beide halten den Streit um die Kommerzfrage für völlig sinnlos.

So kritisierten linke Queers den klassischen Berliner CSD traditionell – und veranstalteten selbst ihre Paraden, die auch kommerziell waren, nur nicht so wahrgenommen werden sollten.

Anette Detering: Der Raum, politisch sichtbar zu werden wird doch beim klassischen geschaffen. Es käme darauf an, ihn dann auch zu füllen mit Inhalten. Deshalb rufen wir in diesem Jahr als EAST PRIDE BERLIN dazu auf, bei uns in der Laufgruppe „Homos sagen Ja zu Israel“ auf dem CSD mitzulaufen, Flagge zu zeigen und die Demo politisch zu machen.

Wolfgang Beyer: Wenn Queerfeminismus endlich einmal die Situation von Queers und von Frauen in Palästina oder anderen islamischen Staaten kritisch thematisieren würde, hätten wir gar nichts gegen diese „Szene“. Langfristig halten wir es allerdings für einen Fehler, sich von staatlichen Finanzierungen und auch Inhalten abhängig zu machen …

… wie dies in der queerfeministischen Szene üblich ist: Vom Staat finanziert werden und politisch nichts bewegt zu bekommen.

Wolfgang Beyer: Das ist einer der Gründe, weshalb der EAST PRIDE BERLIN bisher seinen Weg ohne staatliche Gelder geht. Hätten wir uns bei all unseren Mottos angefangen von „Homophobie ist Sünde“ bis zum „Ja“ zu Israel auf diese Strukturen – nicht nur auf die staatlichen Gelder, sondern auch auf das Queere Establishment – eingelassen, dann würde der EAST PRIDE BERLIN mit Sicherheit einen völlig anderen, vermutlich unauffälligen Namen tragen – und wäre sicher zu dem geworden, was die queerfeministische Szene dem CSD heute vorwirft: eine Kommerzveranstaltung mit Musikkapelle!    


Zu den Personen

Wolfgang Beyer, Jahrgang 1980, wuchs auf in Ost-Berlin von Beruf Buchhändler, ehrenamtlich Pastor bei der GayChurch Berlin, hatte sein Coming-out mit 16 Jahren und lernte in dieser Zeit Christian Pulz, den Schwulenaktivisten aus der früheren DDR kennen. Beyer gründete 2019 die GayChurch Berlin und initiierte zusammen mit Christian Pulz und Anette Detering 2021 den East Pride Berlin.

Anette Detering, Jahrgang1966, wuchs in der Nähe von Stralsund, DDR, auf, ist diplomierte Mathematikerin und arbeitet heute in der politischen Bildung. Ihr Coming-out datiert auf das Jahr 1989, seitdem lebt sie in Berlin, damals auch die erste Begegnung mit Christian Pulz; von 1991 bis 1995 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses für das Bündnis 90/Die Grünen, 1993 deren Fraktionsvorsitzende, außerdem Mitinitiatorin der Gaychurch Berlin und des East Pride Berlin


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Ist Caster Semenya gut für den Frauensport?

Die südafrikanische Sportlerin will Präsidentin des Weltleichtathletikverbands werden

Ein harmloses, da unkritisches ARD-Exklusiv-Interview mit der südafrikanischen Leichtathletin und zweifachen Olympiasiegerin Caster Semenya zeigt die Probleme eines Aktivismus auf, der nicht wissenschaftsbasiert ist und dadurch den Frauensport gefährdet. Medien und Spitzenverbände sind gefordert, professionelle Distanz zu wahren.

Caster Semenya im Interview in der ARD-Sportschau während der Olympischen Sommerspiele in Paris 2024 (Foto: Screenshot)

10. August 2024 | Till Randolf Amelung

Die südafrikanische ehemalige Leichtathletin Caster Semenya will als Präsidentin des Weltleichtathletikverbands kandidieren. Der derzeitige Amtsinhaber, der Brite Sebastian Coe, ist noch bis 2027 im Amt, eine weitere Amtszeit ist laut Berichten ausgeschlossen. Semenya, in London 2012 und Rio de Janeiro 2016 Olympiasiegerin über 800 Meter, beschäftigt die Sportwelt sei Jahren.

Bekanntester DSD-Fall in der Leichtathletik

Aufgrund einer Variante der Geschlechtsentwicklung oder auch Differences of Sex Developement (DSD), 5-ARD (5α-Reductase deficiency), verfügt Semenya über XY-Chromosome und Hoden. Das so produzierte körpereigene Testosteron wirkt, kann aber aufgrund eines Enzymdefekts nicht in Dehydrotestosteron umgewandelt werden. Das führt dazu, dass sich das männliche Genital während der embryonalen Entwicklung nicht wie gewöhnlich ausbildet. So kann, je nach Ausprägung, das äußere Genital bei Geburt typisch weiblich erscheinen oder ein unterentwickelten männliches Genitale mit Mikropenis sein. Es findet dennoch in den meisten Fällen eine vermännlichende Pubertät statt, allerdings in individuell unterschiedlich starker Ausprägung.

Bei Semenya führte diese Variante der Geschlechtsentwicklung nun dazu, dass sie in Frauenwettbewerben zumindest im Mittelstreckenbereich wie über 800 Meter allen Konkurrentinnen stark überlegen war. Zugleich hätten ihre Leistungen nicht genügt, um im Männerwettbewerben über die gleiche Distanz mitzuhalten. Seit 2009 geriet die Südafrikanerin immer wieder in die Schlagzeilen. Im Kern geht es darum, ob es fair ist, wenn jemand wie sie bei den Frauen antritt und wenn nein, unter welchen Bedingungen es fair sein könnte.

Der Weltleichtathletikverband war immer wieder gefordert, geltende Regelungen unter die Lupe zu nehmen, zumal sich auch biologisch weibliche Konkurrentinnen ohne DSD-Varianten beschwerten, dass Semenya bei den Frauen starten durfte. Schließlich erließ der Verband Auflagen für eine Starterlaubnis, dass ein hoher, nicht auf Doping zurückgehender Testosteronwert mindestens über zwei Jahre lang auf einen festgelegten niedrigeren Wert gesenkt werden muss. Dies geht nur mit Medikamenten, die Semenya aber nicht nehmen möchte. Sie ging daher mehrfach, aber erfolglos gegen diese Auflage vor. Darunter auch mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Urteil noch aussteht.

Semenya verkündet Kandidaturabsicht

Nun also will sie selbst den Weltverband der Leichtathletik führen und hat zum Anlass ihrer Kandidaturabsicht der ARD-Sportschau ein Exklusivinterview gegeben. Nicht zuletzt war sie auch aufgrund der aktuell laufenden Kontroverse im Frauenboxen um zwei Athletinnen mit einer mutmaßlichen Variante der Geschlechtsentwicklung als Gesprächspartnerin gewählt worden. Daher geht es vor allem um einen Rückblick auf die Kontroverse um Semenya selbst sowie den Umgang mit ihr.

Dieses Interview vom 8. August, welches vom langjährigen Sportjournalisten und Dopingexperten Hajo Seppelt geführt wurde, ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert da fern aller Gründlichkeit. Es sparte nicht nur da an kritischen Nachfragen und Konfrontation mit wissenschaftlichen Fakten, wo es nötig gewesen wäre, sondern zeigt auch, wie bei diesem Thema identitätspolitisch moralisierend und manipulativ argumentiert wird. Zugleich offenbart es, für wen Semenya sich im Sport einsetzen will und wen sie eigentlich meint, wenn sie von „Frauen“ spricht.

Bereits zum Einstieg wird dies deutlich:

HS: Caster, danke dass Sie für ein Interview mit der ARD bereitstehen. Zunächst interessiert mich, da sie jetzt hier in Paris sind als zweimalige Olympiasiegerin…  wie ist das jetzt für Sie, wenn Sie die Spiele hier verfolgen?

CS: Nun, erstmal danke für die Einladung. Ich würde es vielleicht so sagen: Es sind gemischte Gefühle als Sportlerin, oder soll ich sagen Ex-Sportlerin ist mein Startverbot etwas, was frühere, negative Gefühle wieder hochkommen lässt. Ich denke daran, wie unfair ich behandelt wurde. Das geht mir dann immer noch ziemlich nahe. Manchmal bin ich auch ein bisschen wütend. Die Gefühle sind durcheinander. Manche kann ich nicht erklären. Manchmal kommt der Gedanke auf „Ich hätte dabei sein können, Medaillen gewinnen können!“ Aber jetzt ist für mich das Wichtigste, dass ich hier bin. Ich werde andere Frauen unterstützen, die an den Wettkämpfen teilnehmen.

Im Zentrum ihrer Selbstdarstellung steht, dass sie sich unfair behandelt fühlt, weil sie nicht mehr starten darf. Zugleich sagt sie, dass sie andere Frauen unterstützen will. Doch wen meint sie genau mit „andere Frauen“? Geht es ihr um die Frauen, die sich über Semenya aufgrund des unfairen Vorteils in der Vergangenheit beschwert haben oder ausschließlich um welche, die mit einer vergleichbaren körperlichen Besonderheit gesegnet sind?

HS: Was macht Sie am meisten wütend?

CS: Am wütendsten macht es mich, wie sie mich behandelt haben. Dass mir die Persönlichkeitssphäre genommen wurde, dass ich entmenschlicht wurde, dass ich im öffentlichen Raum Fragen ausgesetzt war. Das hat bei mir zu großen Verletzungen geführt. Sowas kann einen schon sehr wütend machen. Es ist wie ein Loch, was aufgerissen wird, dass sich nie wieder füllen lässt. Das kann einen innerlich zerstören. Wenn ich zurückblicke und mir die Geschehnisse von damals nochmal vor Augen führe, dann wird mir nochmal klar, was mir angetan wurde. Das macht mich immer noch wütend.

In dieser Passage spielt Semenya darauf an, dass die Zweifel an ihrem biologischen Geschlecht, beginnend mit der Leichtathletik-WM von 2009, stets öffentlich und medial ausgebreitet wurden. Ebenso darauffolgende medizinische Testergebnisse zumindest andeutungsweise öffentlich gemacht wurden.

Um 2000 herum gab es in vielen Verbänden, allen voran dem IOC, Entscheidungen zur Abschaffung von sogenannten Geschlechtertests. Das meint: Labortests zur Bestimmung der Chromosomen. Ein klarer Rahmen, wer bei den Frauen starten darf, war zugleich aber nicht definiert worden. Das öffnete im Frauensport die Tür für Teilnehmer*innen, die auf der großen Bühne kritische Fragen provozieren mussten.

Große Kränkung

Die große Verletztheit Semenyas nimmt insgesamt viel Raum im Interview ein, so auch in der folgenden Sequenz.

HS: Angefangen hat es 2009 bei den Weltmeisterschaften in Berlin. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie der Generalsekretär des Weltverbandes damals Infos zu vom Verwandt initiierten Geschlechtstests von Ihnen preisgab.  Sie erinnern sich an die Situation?

CS: Natürlich, ich erinnere mich sehr klar an diese Situation. Wissen Sie, ich war damals gerade 18 Jahre alt. Und ich hatte keine Ahnung, was passiert war. Ich hatte gar kein Gefühl dafür. Zurückblickend sehe ich natürlich, wie mit diesen Dingen umgegangen wurde.

Es ist einfach falsch, junge Frauen so zu behandeln. Den Körper eines Menschen quasi so zu verletzen, besonders den einer jungen Frau. Ich stamme aus Afrika. In meiner Kultur gilt es als Schande, wenn man so behandelt wird. Wenn eine bestimmte Person kommt und sowas in der Art sagt wie, ja, sie mag zwar eine Frau sein, aber nicht Frau genug, das kann einen zerstören. Es kann dich in den Selbstmord führen. Es macht einen zu einem anderen Menschen. Es schafft eine dunkle Seite in dir. Es kann dein Leben für immer verändern.

Aber was kann ich sagen? Man sollte nicht einfach daherreden, sondern wir sollten uns alle gegenseitig respektieren. Es geht um das Verständnis, dass es so etwas wie Privatsphäre gibt, so etwas wie gegenseitige Unterstützung und Respekt.

Semenya hat hier durchaus einen sehr wichtigen Punkt, indem sie ausführlich beschreibt, was die öffentlich geführte Kontroverse um ihr Geschlecht und ihre Teilnahmeberechtigung in Frauenwettbewerben an psychischen Belastungen für einen jungen Menschen bedeuten kann. Aktuell sichtbar wird das auch an der umstrittenen algerischen Boxerin Imane Khelif, die nun im Finale die Goldmedaille holte. Im Zuge ihres Halbfinalkampfes brach sie beim Pressetermin gar in Tränen aus, so groß war der Druck.

Gerade deshalb wäre es aber wichtig, dass Verbände klare Regeln für die Startgenehmigung in Frauenwettbewerben schaffen, die auf nachprüfbaren, wissenschaftlichen Grundlagen beruhen. Ein Mittel hierfür wäre die Wiedereinführung von verpflichtenden Chromosomentests. Selbstredend können dessen Ergebnisse nicht das alleinige Entscheidungskriterium sein, aber sie geben einen wichtigen, zuverlässigen Hinweis auf weiteren Klärungsbedarf. So kann verhindert werden, dass es auf den großen Sportbühnen zu Kontroversen kommt, die auch individuell extrem belastend sind.

Oft wird angeführt, auch von Semenya selbst, Geschlechtstests seien entwürdigend. Das mag auf frühere Jahrzehnte zutreffen, als die Sportlerinnen nackt von einem Mediziner oder Funktionär begutachtet wurden. Heutzutage lässt sich die Bestimmung der Chromosomen mit einem Wangenabstrich durchführen. Um das ins Verhältnis zu setzen: Eine Urinprobe für den Dopingtest muss unter Aufsicht abgegeben werden – man pinkelt unter dem gestrengen Blick des Kontrolleurs in einen Becher und hat sich auch nicht über diese Prozedur zu beschweren.

Semenya lehnt klare Zugangsregelungen ab

Doch im weiteren Verlauf des Gesprächs mit Hajo Seppelt wird deutlich, dass Semenya solche Klarheit geradezu ablehnt.

HS: Wie Sie wissen, hat World Athletics, der Weltverband, eine andere Haltung dazu. Dort sagt man, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu garantieren, braucht es Regeln, die sicherstellen, dass alle auf dem gleichen Niveau im Wettbewerb antreten. Es gibt viele Sportlerinnen aus anderen Ländern, die es als unfair empfinden, Sie an diesen Wettkämpfen teilnehmen zu lassen. Was antworten Sie diesen Sportlerinnen, die sich ungerecht behandelt fühlen?

CS: Das ist deren Meinung, das ist nicht meine. Ich weiß, dass die Natur nicht so sehr kontrolliert werden kann, wie man sich das vielleicht denkt. Die Leichtathletik-Welt weiß sehr gut, dass es nie etwas geben kann, was wirklich fair ist, wenn es um faire Leistungen und Wettbewerbsbedingungen geht. Im Männersport gibt es auch Unterschiede.

Man kann die Genetik nicht gleichsetzen. Wenn die Genetik wirklich ein Problem darstellt, warum haben wir dann überhaupt Sport? Wenn man die Größe zum Maßstab nimmt oder die Muskeln, das ist doch Wahnsinn. Für mich als jemand, der Sportwissenschaften studiert hat, ist es ganz einfach, zusammenzufassen.

Genetik kann nicht kontrolliert werden. Wir haben Frauen, wir haben Männer, und das ist es. Das sind also alles die Dinge, die wir als Menschen verstehen müssen.

Warum beschweren sich die anderen Frauen, dass es ein unfairer Vorteil ist? Warum ist das so? Wir sind Frauen, wir trainieren hart. Wir haben ein gemeinsames Ziel, Leistung zu bringen. Nicht das Ziel zu urteilen, nicht zu kritisieren.

Vergessen Sie nicht, dass ich aus einem Land komme, das kolonialisiert wurde, einem Land mit einer langen Geschichte, einem Land, in dem der Körper der Frau immer ein Thema war, immer ein Problem war. Ich komme aus einem Land, in dem mein Volk versklavt wurde, nicht nur in meinem Land, sondern auf dem ganzen Kontinent. Wenn wir also als Menschen in der Welt sagen, Sport für alle, dann sollten wir uns über die Dinge, die wir tun, im Klaren sein. Wenn wir alle Teil von globalen Sportorganisationen sind, sollten wir uns gegenseitig mit Respekt behandeln.

In ihrer Antwort zieht Semenya alle identitätspolitischen Register, die man in dieser Debatte seit vielen Jahren kennenlernen durfte. Sie relativiert die Besonderheiten der bei ihr vorliegenden DSD-Variante, möchte erst gar nicht darüber reden. Diese ist, wie eingangs beschrieben, mit einer vermännlichenden Pubertät verbunden.

Die Forschung hat zweifelsfrei belegt, dass es dies ist, was die Leistungsunterschiede zwischen biologischen Männern und Frauen für ihr Leben prägt. Und weshalb in vielen Sportarten nach Geschlecht getrennt wird, um insbesondere Frauen faire und sichere Wettkämpfe zu ermöglichen. Doch die ehemalige Läuferin wischt diesen entscheidenden Unterschied damit weg, es gebe immer Unterschiede. Und außerdem sei Leistungssport nie fair.

Schließlich verweist sie auch noch auf ihre südafrikanische Herkunft, auf die Kolonialgeschichte, die Sklaverei. Die Erwähnung signalisiert ihre Kenntnis entsprechender Debatten in „weißen“ Nationen, die als Kolonialmächte präsent waren. Dies soll im westlichen Publikum Schuldgefühle wecken, um Kritiker*innen zum Verstummen zu bringen, gar moralisch zu beschämen.

Streitpunkt Testosteronwert

HS: Lassen Sie uns nicht über Regeln, sondern über die Frauen sprechen, die nicht ihre Meinung teilen, Caster. Diese sagen zum Beispiel, dass ein erhöhter Testosteron-Wert ja auch künstlich durch Doping entstehen kann. Das ist ja auch nicht zulässig. Klar, das ist dann manipuliert. Bei Ihnen hat es natürliche Ursachen. Aber die Frauen sagen, der Testosteron-Wert muss für alle Sportlerinnen auf einem ähnlichen Niveau sein. Ist das ein unauflösbarer Widerspruch aufgrund dieser diametral unterschiedlichen Positionen?

CS: Ja, genetisch betrachtet ist das alles verrückt. Alle diese Sportorganisationen haben Wissenschaftler. Sie forschen, und in der Forschung wissen wir alle, dass Körper nicht genetisch kontrolliert werden können. Wenn jemand mit einem hohen Testosteronspiegel geboren wird und es als eine Störung auftritt, dann ist es, wie es ist. Das kann man nicht kontrollieren.

Und man kann nicht sagen, die Wettkämpfe wären fairer verlaufen, indem man Caster Semenya rausnimmt, weil sie anders geboren wurde. Verstehen Sie, das ist völlig unmöglich.

Sie haben ja künstliche Maßnahmen, also Doping, angesprochen.Das ist aber etwas ganz anderes. Wir sprechen hier über natürliches Testosteron, das sich in meinem Körper befindet und das ich nicht kontrollieren kann. Der Testosteron-Level spielt für mich in meiner Karriere nicht wirklich eine Rolle. Was aber in meiner Karriere eine Rolle spielt, ist Hingabe für den Sport und meine harte Arbeit. Wissen Sie, es gibt keinen Beweis dafür, dass ich wegen des Testosterons so schnell laufe. Den Einwänden stimme ich also überhaupt nicht zu.

Der Interviewer Seppelt spricht Semenya nun direkt auf die Kritik anderer Athletinnen an. Sie beruft sich darauf, dass ihre genetische Anomalie dergestalt natürlich sei und sie will, dass ihre Klassifikation als Frau nicht hinterfragt wird. Zugleich leugnet sie den enormen Vorteil, den sie durch ihre für eine biologische Frau vollkommen unüblichen Testosteronwerte hat.

Diesen Vorteil bestätigen zuletzt mehrere Sportwissenschaftler*innen und Mediziner*innen, darunter die schwedische Gynäkologin Angelica Hirschberg im Interview mit der Zeit sowie ihr Landsmann, der Sportwissenschaftler Tommy Lundberg im Interview mit dem Spiegel. Sein südafrikanischer Fachkollege Ross Tucker beschrieb in einem Interview mit einem US-amerikanischen Sportsender den Interessenskonflikt ebenfalls, dass die männlichen Vorteile durch Testosteron gerade in der Pubertät ein Risiko für Frauen bezüglich Fairness und Sicherheit seien. Daher könne man bedauerlicherweise die drei Güter in der Abwägung – nämlich Fairness, Sicherheit und Inklusion – im Wettkampfsport der Frauen nicht zusammenbringen.

Wie man es sonst von Querdenkern gewohnt ist, leugnet Semenya vollkommen die klaren Erkenntnisse der Wissenschaft über die eindeutigen Leistungsvorteile von Testosteron. Genau hier versagt dann aber auch der eigentlich so versierte Sportjournalist Seppelt, der als Dopingexperte um die Wirkung von Testosteron wissen sollte. Er konfrontiert Semenyas Aussagen gar nicht mit den wissenschaftlich gut belegten Fakten.

Regulierung wird moralisch verdammt

HS: Ihr Fall ist noch immer vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig. Alle warten auf eine Entscheidung. Wann auch immer sie kommen wird, was erwarten sie? Und was erhoffen sie sich?

CS: Ich bin nicht in der Position, um über rechtliche Angelegenheiten zu sprechen. Meine Anwälte können das beantworten. Okay, aber was erhoffen sie sich? Ja, natürlich bin ich bei allem, was ich tue, optimistisch. Ich hoffe immer auf positive Ergebnisse. Ich glaube an die Arbeit, die wir tun. Wir haben gute Arbeit geleistet, wir verändern Leben.

Wir sind hier, um Dinge zu verändern. Andere Sportlerinnen wurden einer Operation unterzogen, sollten sich behandeln lassen. Wollte jemand, dass das Gleiche mit ihnen gemacht wird? Sehen Sie, es ist sehr enttäuschend, wenn Führungspersönlichkeiten im Sport in einen Bereich vordringen, in dem man gezwungen wird, seinen Körper zu verändern.

Wenn man gezwungen wird, sich Behandlungen und Operationen zu unterziehen. Wenn man Medikamente nehmen muss, damit man dazugehören darf. Das ist eine Schande. Diese Leute sollten sich um die Sportler kümmern. Sie sollten sie nicht ausbeuten, nicht ihr Leben zerstören. Es macht mich so wütend zu sehen, dass Führungspersönlichkeiten im Sport das Leben von jemandem zerstören können.

Wenn sie ein Elternteil sind und ihre Tochter würde so behandelt, wie würden sie sich fühlen? Solche Dinge kotzen mich an, wenn ich das mal so sagen darf. Es macht mich schon wütend, nur darüber nachzudenken, dass ich gezwungen werde, meinen Körper zu verändern. Dass ich gezwungen werde, Medikamente zu nehmen, die meiner Seele und meinem Körper schaden, die mich für den Rest meines Lebens beeinträchtigen werden. Das ist falsch. Das muss aufhören. Wir sollten Menschen nicht wie Tiere behandeln.

Das ist falsch. Haben Sie mal mit anderen Sportlerinnen gesprochen, die sich einer Operation oder einer anderen Behandlung unterziehen mussten? Diese Mädchen werden mit Medikamenten behandelt, deren Einnahme sie als Mann nicht überleben würden. Das ist Gift, was sie da bekommen.

Es zerstört ihr Leben. Es macht sie unglücklich. Es zerstört sie psychisch. Gerade psychologisch ist es besonders schlimm. Die Mädchen denken, sie können sich mit dem Sport ihren Lebenstraum erfüllen, nur um dann festzustellen, dass der Sport zum Albtraum wird. Da geht es zu wie im Dschungel. Das sind Dinge, die mal gesagt werden müssen. Die Welt muss das wissen. Es ist okay, wenn heute alle mitreden, wenn alle auf Twitter, Instagram oder TikTok posten, wenn sie lästern oder sich irgendwie anders über dich äußern.

Aber am Ende des Tages müssen sie wissen, es ist falsch, über jemanden herzuziehen, den man gar nicht kennt, von dem man nichts weiß. Sie müssen wissen, dass wir Frauen nur zum Sport gekommen sind, weil wir dachten, dass der Sport die Macht hat, die Welt zu verändern. Und wenn Leute Ihnen sagen, machen Sie doch einfach bei einem Männern mit? Das bräuchte einen Psychiater. Ich würde denen sagen, bringt euren Verstand in Ordnung. Bringt eure Seele in Ordnung. Heilt euch. Wenn euch etwas stört, entspannt euch. Wir sollten nicht versuchen, anderen vorzuschreiben, was sie denken. Weil wir die Dinge so sehen, wie wir sie sehen wollen.

Aber es stimmt schon, dieses Thema ist sehr heikel. Und es liegt mir am Herzen, weil ich das Gefühl habe, dass Frauen im Sport benachteiligt werden. Solche Diskussionen betreffen immer nur den Frauensport. Und das Schlimmste ist, es sind Männer, die ihn regulieren.

In diesem Teil beklagt sich Semenya ausführlich über die Auflagen, die Athletinnen mit bestimmten DSD-Varianten gemacht werden. Medikamente zur Senkung des Testosteronspiegels werden von ihr als „Gift“ verteufelt – ein Framing, was Seppelt nicht hinterfragt. Ob aus Feigheit oder Unkenntnis – das ist offen: Der Dopingexperte der ARD traut sich womöglich nicht, um nicht Ärger mit woke-getrimmten, hauseigenen Antidiskriminierungsbeauftragten zu bekommen. Ohne Zweifel hat es Auswirkungen, körperliche und psychische, wenn in den Hormonhaushalt eingegriffen wird. Individuell wird dies höchst unterschiedlich erlebt und kann auch belastend sein. Jedoch sind Medikamente für diesen Zweck in der Regel klinisch erprobt und „Gift“ dämonisiert diese unangemessen.

Wessen zerstörte Träume zählen?

Ein Moment der Selbstoffenbarung findet sich, als Semenya von „zerstörten Träumen“ spricht. Allerdings sieht sie nur sich selbst und andere Sportler*innen mit DSD. Gerade an dieser Stelle wäre es notwendig, den Blick zu weiten und die Situation aller anderen Athletinnen ebenso zu würdigen, die nicht über DSD-Varianten verfügen, die durch Vermännlichung uneinholbare Vorteile verschaffen.

Biologisch weibliche Sportlerinnen protestieren auch deshalb, weil es für sie um weit mehr als einen fairen Wettbewerb selbst geht. Die zentrale Frage ist, ob wir männliche Vorteile im Frauensport akzeptieren sollten. Frauensport erfährt erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit in der Öffentlichkeit Anerkennung. Damit verbunden sind auch auskömmliches Sponsoring von Spitzenathletinnen und Sportförderung generell. Im angelsächsischen Raum geht es auch um akademische Karrierechancen über Sportstipendien.

Bei den Olympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro 2016 waren im Laufwettkampf der Frauen über 800 Meter am Ende drei Personen mit DSD, inklusive Semenya selbst auf dem Siegertreppchen. Bei allen lag dieselbe Variante wie bei Semenya vor, die mit einer vermännlichenden Pubertät einhergeht. Dies führt eindrucksvoll vor Augen, um was es geht. Anderen Athletinnen wurde untersagt, sich öffentlich darüber zu beschweren.

Caster Semenya scheint jedoch keinen Gedanken daran verschwenden zu wollen, was diese eindeutige Dominanz durch eine vermännlichende Pubertät für die überwältigende Mehrheit anderer Athletinnen bedeuten würde. Die offensichtlichen Unterschiede zwischen ihr und biologischen Frauen leugnet sie geradezu. Stattdessen agiert Semenya in den Ausführungen über ihr Leid manipulativ wie ein Kinobesitzer, der absichtlich die Raumtemperatur im Kinosaal erhöht, um mehr Erfrischungsgetränke verkaufen zu können. Damit soll die Perspektive der anderen Athletinnen aus der Debatte verdrängt werden.

Akivistischer Egoismus

Was ist denn mit den Träumen der anderen Athletinnen, die zerstört werden? Solche Empathie hat in der überbordenden Selbstzentriertheit, wie sie im ARD-Interview zelebriert wird, offenbar keinen Platz. Auch hier schafft es Seppelt nicht, professionell zu sein und die richtigen Nachfragen zu stellen. So wirkt das gesamte Interview eher wie eine Hofberichterstattung.

Zwei Dinge sollten aus dem Interview auf jeden Fall mitgenommen werden: Caster Semenya erweist sich mit ihrer Agenda, die zu Lasten biologisch weiblicher Spitzensportlerinnen geht, als ungeeignete Kandidatin für die Führung des Weltleichtathletikverbands. Es bleibt zu hoffen, dass dies in der Sportwelt registriert und ihre Wahl verhindert wird.

Bemerkenswert ist außerdem, wie identitätspolitisches Framing zu verhindern scheint, dass Journalist*innen ihre Arbeit sorgfältig betreiben. Eine Aktivistin mit der Faktenlage dort zu konfrontieren, wo es notwendig wäre, ist keine Diskriminierung. Das wurde von der ARD bei diesem Interview versäumt.

Redaktioneller Hinweis: Ross Tucker ist nicht US-amerikanischer, sondern südafrikanischer Sportwissenschaftler. Wir haben die entsprechende Passage am 11. August 2024 um 19:26 geändert.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Der Stonewall-Mythos als Einfallstor für Illiberalität

Warum biedern sich LGBT bei reaktionären und antiqueeren Bewegungen wie der pro-palästinensischen an?

Besonders in diesem Sommer wird sichtbar, wie verbreitet die aktive Unterstützung von antisemitischem Pro-Palästina-Aktivismus in der LGBT-Szene ist. Wie konnte das passieren? Eine Antwort könnte in der permanenten Beschwörung der „Stonewall“-Aufstände liegen, die aber längst nicht mehr in die heutige Zeit passt.

Verniedlichung von gegen Israel gerichteter Aufstände, gesehen auf dem Dyke March Berlin 2024 (Foto: Screenshot).

7. August 2024 | Till Randolf Amelung

„Stonewall was a riot!“ heißt es alle Jahre wieder zur CSD-Saison. Die Erinnerung an den Ursprung heutiger Pride-Paraden wird vor allem dann bemüht, wenn einem, aus der Perspektiver linker Queers, die Gegenwart zu kommerziell und zu unpolitisch erscheint. Der Kontrast zwischen den Krawallen von 1969 im New Yorker „Stonewall Inn“ und den CSD-Paraden im Jahre 2024 könnte in der Tat nicht größer sein. Während vor 55 Jahren nicht-heteronormative Sexualität nur im Verborgenen mit ständiger Angst vor staatlicher Repression gelebt werden konnte, gar illegal war, so marschieren Pride-Paraden heute ganz offen nicht nur durch Großstädte, sondern auch durch Provinzkäffer. Anstatt die Teilnehmenden zu verhaften, beschützt die Polizei die Aufmärsche nun, für Politiker*innen ist es ein gern wahrgenommener Termin für die eigene Imagepflege. Früher undenkbar war ebenfalls, dass Unternehmen Pride-Paraden sponsern, gar ein eigenes internes LGBTI-Netzwerk mit eigenem Truck mitfahren lassen oder Give-aways und Regenbogeneditionen ihrer Produkte auf den Markt werfen.

Zu unpolitische Freiluftparty

Doch während die einen sich auf die jährlichen Freiluftpartys der queeren Sichtbarkeit freuen, zetern die anderen über das ihnen zu unpolitische Vergnügen. Beispielhaft für die Sehnsucht nach dem revolutionären Geist der Vergangenheit ist Dirk Ludigs sauertöpfischer Kommentar von 2022 im Berliner Szeneblättchen Siegessäule über den CSD Berlin: „Wenn dieser CSD 2022 irgendetwas war, dann noch unpolitischer, noch mainstreamiger, noch weniger queer, noch weißer, noch weniger glamourös als die CSD-Paraden davor.“

Während man einem schwulen Mann, der mit solchen Verrissen vielleicht auch seiner eigenen rebellischen Jugend hinterhertrauert, noch mildernde Umstände zuerkennen möchte, muss dennoch über die Gefahren solcher regressiven Nostalgie gesprochen werden.

Stonewall-Mystik

Niemand kann sich ernsthaft in die Zeiten zurückwünschen wollen, als sexuelle und geschlechtliche Abweichungen nur heimlich, unter großer Angst vor staatlicher und familiärer Sanktion gelebt werden konnten. Zugleich ist zutreffend, dass noch nicht alle gesellschaftlichen Fragen für ein gutes Leben vollständig abgeräumt worden sind – und möglicherweise nie ganz werden. Doch das Beschwören der Aufstände von 1969 wie einen mystischen Ursprung, den es wie einen Quell immerwährender Jugend zu bewahren gilt, wird uns nicht weiterbringen.

Rebellion und Revolution verheißen den Geist widerständiger Jugend und versprühen eine Form von Coolness. Eine Coolness, die man in den Firmenzentralen von DAX-Unternehmen oder im institutionalisierten Politikbetrieb nicht zu finden vermag.

Coolness vs. Bürgerrechte

Doch um Coolness geht es bei bürgerrechtlichen Fragen nicht, sondern um Gleichberechtigung, um die Chancen auf gleiche Teilhabe an Öffentlichkeit. Homos und Trans sollen nicht auf die Abweichung vom Heteronormativen reduziert, sondern als ganze Menschen gesehen werden und die individuellen Freiheiten und Möglichkeitsräume haben, wie andere auch. Ob nun in der Führungsetage eines Weltkonzerns arbeitend oder in einem linksautonom besetzten Haus lebend, all das soll Teil der persönlichen Vorlieben sein, wie man sein Leben gestalten will.

Doch einigen scheint diese Realität, wie sie jetzt ist, zu wenig aufregend zu sein. Daraus Kapital schlagen Gruppen, die eben genau die rebellische Coolness und ein verbindendes Gemeinschaftserleben versprechen. Allen voran wird nun antisemitischer pro-palästinensischer Aktivismus als solches platziert, in Berlin zum Beispiel notorisch auf dem „Internationalist Queer Pride“ oder deutschlandweit durch Gruppen aus dem Umfeld der türkischen marxistisch-leninistischen Jugendorganisation „Young Struggle“. Autoritäre linke Gruppen, die rote Fahnen mit Hammer und Sichel schwenken, scheinen rebellische Bedürfnisse zu befriedigen. Dem voran ging jahrelange intellektuelle Agitation, warum gegen Israel sein ein natürliches Anliegen für LGBT sein müsse, wie Corinne E. Blackmer erläutert hat.

Im sich als rebellisch und progressiv verstehenden Milieu sind nun Wassermelone und Pali-Tuch die Trendaccessoires der Sommermode, inklusive dem Schlachtruf „Yallah, Intifada“.  Doch wie beim Berliner Dyke March zu sehen war, zieht das eine Klientel an, der an tatsächlicher Emanzipation insbesondere von Lesben und anderen Frauen nicht gelegen sein dürfte.

Ankommen im Heute

Mit einem aufgeräumten Verhältnis zur eigenen Geschichtlichkeit sowie zum Status Quo, könnte man sich fragen, ob es tatsächlich im eigenen Interesse ist, Antisemiten die eigene Plattform zu überlassen, die LGBT eigentlich ablehnend gegenüberstehen. Ein Blick in die Geschichtsbücher sollte genügen, um zu erkennen, dass sich der Traum von Revolution auch in einen Alptraum verkehren kann, wo mitnichten persönliche Freiheit wartet.

Daher: Werdet endlich erwachsen und akzeptiert, dass „Stonewall“ einen Platz in den Geschichtsbüchern, aber nicht in der Gegenwart hat.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


IOC gefährdet Frauensport

Geschlechterdiskussion bei den Olympischen Spielen geht weiter

Die Debatte um die Teilnahme von mutmaßlich intersexuellen Boxerinnen am olympischen Wettkampf der Frauen nimmt kein Ende. Hat das IOC aus ideologischen Gründen die Fairness im Frauensport untergraben?

Marc Adams, Pressesprecher des IOC bei den Olympischen Spielen in Paris 2024, nimmt Stellung zum Fall Imane Khelif (Foto: Screenshot)

4. August 2024 | Till Randolf Amelung

Die Kontroverse um den Sieg der algerischen Boxerin Imane Khelif durch Aufgabe der Kontrahentin aus Italien, Angela Carini, am 1. August bei den Olympischen Spielen in Paris hält weiter an. Insbesondere deshalb kommt die Diskussion nicht zum Ende, weil Khelif nun die Halbfinals erreicht und damit eine olympische Medaille sicher hat.

Der internationale Boxverband IBA – der nicht das Dirigat über die Regeln des Boxturniers bei diesen Olympischen Spielen inne hat –  gießt nun auch noch Öl ins Feuer, da den unterlegenen Boxerinnen Prämien gezahlt werden sollen, die in der Höhe denen für Olympiasiegerinnen entsprechen. Es ist davon auszugehen, dass die IBA die Auseinandersetzung weiter befeuern wird, um dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) eins mitzugeben. Der IOC hat den Verband wegen Korruption ausgeschlossen und ist daher in Paris nun selbst Veranstalter der Boxwettkämpfe. Zudem gilt der IBA-Präsident Umar Kremlev als korrupt und politisch putinnah.

Nicht bestandener Geschlechtstest

Für Diskussionsstoff sorgt weiterhin, dass der Boxverband IBA – eben anders als das IOC nun beim olympischen Turnier – Khelif wegen eines nicht bestandenen medizinischen Geschlechtstests von der WM 2023 ausgeschlossen hatte. Dabei sei es nicht um den Testosteronwert gegangen. Inzwischen wurde der Brief der IBA an das IOC veröffentlicht, mitsamt der darin befindlichen sensiblen Informationen, den Ergebnissen der Chromomentests.

Zu lesen war in der Berichterstattung auch, dass Khelif gegen den Ausschluss eine Klage beim Internationalen Sportgerichtshof CAS eingereicht, diese dann aber doch wieder zurückgezogen habe. Die zweite umstrittene Person, die taiwanesische Boxerin Lin Yu-ting verzichtete auf eine Anrufung der höchsten Sportgerichtsbarkeit gegen den WM-Ausschluss.

Das IOC vermeidet weiterhin klare Aussagen, sondern berief sich kürzlich lediglich darauf, dass es sich auf den weiblichen Geschlechtseintrag im Pass als Teilnahmekriterium stütze. Sowohl Khelif, als auch Yu-ting würden somit die Teilnahmevoraussetzungen erfüllen. Der weltweite Shitstorm gegen das IOC nimmt auch deshalb kein Ende.

Vorhersehbare Eskalation

Sigi Lieb, Kommunikationsberaterin und Autorin des Buchs Alle(s) Gender, kritisiert gegenüber IQN den Umgang des IOC: „Die Eskalation war vorhersehbar. Khelif konnte nicht gewinnen. Entweder sie verliert beim Boxen. Oder sie gewinnt und sie erntet massenweise Diffamierungen und Ablehnung.“

Lieb fügt hinzu: „Bereits im März kritisierte das Forschungsteam um Thommy R. Lundberg aus Schweden die IOC-Kriterien als unfair gegenüber Frauen. Hier hätte das IOC sowohl zum Schutz der beiden mutmaßlich intergeschlechtlichen Boxer*innen wie zum Schutz der Frauen valide, wissenschaftliche Kriterien heranziehen müssen. Weder allein der Pass noch allein der Chromosomensatz können das leisten. Geklärt werden muss, ob aufgrund einer Vermännlichung des Körpers oder aufgrund von höheren Testosteronwerten unlautere Vorteile da sind.“

Neue Regeln ab 2022

Beginnend ab März 2022 hat das IOC neue Regeln für den Umgang mit trans- und intergeschlechtlichen Athlet*innen erlassen. Anstatt wie zuvor einen grundsätzlichen Testosterongrenzwert festzulegen, wurden Details in die Verantwortung der jeweiligen Sportverbände gelegt.

Begründung: Ein pauschaler Testosteronwert würde den unterschiedlichen Erfordernissen der Vielzahl an Sportarten nicht gerecht. Zugleich war es dem IOC wichtig, dass Teilnahmebeschränkungen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren und dabei die Würde von trans- und intergeschlechtlichen Personen berücksichtigt wird.

Testosteron ist gerade im Leistungssport der entscheidende Faktor für Kraft und Ausdauer. Besonders in der Pubertät sorgt es für bleibende Leistungsunterschiede zwischen biologischen Männern und Frauen. Das stellt auch der von Lieb erwähnte Sportwissenschaftler Tommy Lundberg vom Karolinska Institut der medizinischen Universität in Stockholm in seiner im März dieses Jahres zusammen mit weiteren Autor*innen veröffentlichten Kritik am IOC heraus.

IOC-Regeln nicht wissenschaftlich fundiert

Lundberg et al. kritisieren, dass der IOC-Rahmen nicht mit dem aktuellen wissenschaftlichen und medizinischen Wissen übereinstimme. „Der IOC-Rahmen bietet den Sportbehörden keine geeigneten Leitlinien zum Schutz der weiblichen Kategorie im Sport“, lautet das Urteil der Wissenschafter*innen.

Die biologischen Unterschiede zwischen Frauen und Männern finden sich in Bezug auf Skelettgröße und -form, Muskelmasse und -funktion, Lungenfunktion und Herz-Kreislauf-Funktion. Der Geschlechtsdimorphismus ist hauptsächlich auf die hohen Testosteronwerte zurückzuführen, die während der männlichen Pubertät in den Hoden produziert werden, obwohl geschlechtsspezifische Gene und postnatale Hormonunterschiede auch schon vor der Pubertät zu geschlechtsspezifischen Unterschieden im Phänotyp beitragen können.

Dagegen sagt das IOC, dass es „keine Vermutung eines Vorteils“ aufgrund von „biologischen oder physiologischen Merkmalen“ geben solle und dass die Zulassungskriterien individuelle Unterschiede bei Faktoren, die sich auf die Leistung und Sicherheit auswirken, berücksichtigen sollten.

Die Wissenschaftler*innen um Tommy Lundberg insistieren, dass die IOC-Linie nicht dem Stand der Wissenschaft entspreche: „Insbesondere die männliche Entwicklung führt zu so großen physischen und physiologischen Leistungsvorteilen, dass für Sportarten, die Kraft, Stärke, Schnelligkeit und Ausdauer erfordern, eine separate Kategorie erforderlich ist, um Eigenschaften auszuschließen, die aus der normalen männlichen Entwicklung resultieren.“

Intersex-Variante 5-ARD

Diesen grundsätzlichen Stand der Wissenschaft bestätigte auch Ilse Jacobsen, Professorin für Mikrobielle Immunologie an der Friedrich-Schiller-Universität zu Jena, gegenüber IQN. Jacobsen sagt: „Wir stehen vor dem Problem, dass die medizinischen Fakten nicht wirklich bekannt sind. Aus den vorhandenen Angaben kann man die begründete Vermutung anstellen, dass bei Khelif eine DSD vorliegt. Äußerungen des algerischen Verbandes deuten darauf hin, dass Khelif die DSD 5-ARD hat, dies wurde aber nicht explizit bestätigt.“

DSD steht für „Differences of Sexual Developement“, zu Deutsch auch „Varianten der Geschlechtsentwicklung“. Eine Untergruppe von DSD sind Varianten von Intergeschlechtlichkeit, womit gemeint ist, dass „ein Teil der Geschlechtsmerkmale auf das eine, ein Teil auf das andere Geschlecht verweisen“.  Bei „5-ARD“ (5α-Reductase deficiency) handelt es sich Jacobsen zufolge um eine Variante, wo jemand XY-Chromosome hat und Testosteron wirkt, aber aufgrund eines Enzymdefekts nicht in Dehydrotestosteron umgewandelt werden kann.

Das führt so Jacobsen dazu, dass sich in einem frühen Stadium der Embryonalentwicklung das angelegte männliche äußere Genital nicht wie gewöhnlich weiterentwickelt. So kann, je nach Ausprägung, das äußere Genital bei Geburt typisch weiblich ausgebildet sein oder einem unterentwickelten männlichem Genitale mit Mikropenis entsprechen. In der Pubertät kommt es durch die große Menge an gebildetem Testosteron zu den für eine männliche Pubertät typischen Veränderungen, einschließlich Wachstum des Mikropenis oder Vergrößerung der Klitoris, allerdings in individuell unterschiedlich starker Ausprägung. Ein Brustwachstum tritt nur sehr selten auf.

Biologisch männlich?

Die Evolutionsbiologin Carole Hooven, Autorin des Buches „T wie Testosteron“, erklärt auf X, dass die spezifischen Gegebenheiten dieser DSD-Variante die Einordung als „biologisch männlich“ rechtfertigen.

Die spezifischen Besonderheiten von 5-ARD machen nachvollziehbar, wie es überhaupt passieren kann, dass eine vermännlichte Person als Frau im Spitzensport landet. In der Regel liegt dem auch keine Betrugsabsicht zugrunde, sehr oft ist den betreffenden Personen ihre körperliche Besonderheit nicht bewusst, die sie so von biologischen Frauen trennt. Zumal viele sozial als Mädchen erzogen werden.

Dennoch ist der Unterschied durch die testosterongeprägte Pubertät derart fundamental, dass die in dieser Debatte häufig zu lesenden Vergleiche mit körperlichen Vorteilen wie beim Ausnahmeschwimmer Michael Phelps ins Leere laufen und sogar grob irreführend sind.

Weitere Fälle in der Sportgeschichte

Neben der Leichtathletin Caster Semenya kennt die Sportgeschichte weitere Fälle. Da wären zum Beispiel Dora/Heinrich Ratjen (Olympische Spiele 1936) oder die Polin Ewa Klobukowska (Goldmedaillengewinnerin bei Olympia 1964 in Tokio), die 1967 als erste durch damals erstmalig verpflichtende Geschlechtsuntersuchung gefallen war und daher gesperrt wurde. 1968 führte das IOC verpflichtende Geschlechtstest für die Frauenwettkämpfe bei Olympischen Spielen ein.

Auch die sowjetischen Sportlerinnen und Schwestern Tamara und Irina Press, die von 1960 bis 1964 die Leichtathletik mit zahlreichen Weltrekorden dominierten, stehen bis heute unter Verdacht, dass sie einen unfairen Vorteil hatten. Vor allem bei Tamara Press gab es stets Mutmaßungen, sie könnte intersexuell sein und von einem überdurchschnittlichen Maß an Testosteron profitieren.

Bewiesen oder von Tamara Press selbst zu Lebzeiten offengelegt wurde das nie. Weiter angeheizt wurden die Spekulationen, als die in westlichen Medien auch „Press Brothers“ genannten Schwestern 1966 plötzlich ihre Teilnahme an der Europameisterschaft in Budapest zurückzogen – angeblich sei die Oma erkrankt. Bei der Europameisterschaft in der ungarischen Hauptstadt wurde damals erstmalig ein Geschlechtstest eingeführt.

Ein weiterer Fall, der international Bekanntheit erlangte, war der um den österreichischen Skifahrer Erik Schinegger. Als Erika wurde er Weltmeisterin. Erst danach erfuhr er von seinem eigentlich biologisch männlichen Geschlecht und beschloss nach einer Operation, fortan als Mann zu leben. Seine Goldmedaille von der Weltmeisterschaft wollte er später der damals Zweitplatzierten übergeben, die es aber ablehnte.

Schinegger hätte auch das Zeug gehabt, in Männerwettbewerben mitzuhalten, aber weder seine Familie noch der österreichische Skiverband konnten mit dem sozialen Geschlechtswechsel umgehen. So fand seine Sportkarriere ein jähes Ende. Gerade auch diese soziale Komponente sorgt für individuelle Verwicklungen, die unbedingt in Umgang und Berichterstattung berücksichtigt werden sollen. Diese Situation ist für die Betroffenen hochgradig belastend, zumal man mit so intimen Fragen des Körpers plötzlich in der Öffentlichkeit steht.

Sicherstellung fairer Wettkampfbedingungen

Die Historie der olympischen Spiele wird auch davon geprägt, faire Wettkämpfe sicherzustellen, woran auch die Immunologin Jacobsen nochmal erinnert: „Es gibt im Leistungssport verschiedenste Regelungen, die der Fairness dienen. Dazu gehören das Dopingverbot und Dopingtests zur Überwachung, Regeln zu Sportgeräten bspw. im Bobsport, der Sportkleidung (wir erinnern uns um die jährliche Diskussion zum Schnitt der Anzüge beim Skispringen oder auch vor einigen Jahren zum Material von Schwimmanzügen). Altersklassen, Gewichtsklassen und auch die Einteilung in Wettbewerbe für Männer und Frauen dienen dazu, einen ausgewogenen sportlichen Vergleich zu ermöglichen.“

Gerade bei der Einteilung in Männer- und Frauenwettbewerbe ist das biologische Geschlecht unabdingbar. Der Umgang mit Intersexualität sowie medizinische Verfahren zur Feststellung haben sich über die Jahrzehnte weiterentwickelt. Parallel zu den Fortschritten im medizinischen Bereich gab es aber auch Entwicklungen im politischen Bereich, als Menschen mit DSD sich zu organisieren und menschenrechtliche Forderungen zu stellen begannen.

Menschenrechtsaktivismus von Intersexuellen

Gerade innerhalb der letzten zehn Jahre haben Aktivist*innen für Menschen mit DSD viel erreicht: Frühkindliche operative Eingriffe sind inzwischen nicht nur verpönt, sondern zum Beispiel in Deutschland auch gesetzlich untersagt. Personenstandsrechtlich werden auch Geschlechtseinträge jenseits von „männlich“ und „weiblich“ angeboten – in Deutschland darf der Eintrag divers gewählt werden oder frei bleiben.

Das individuelle Wohlbefinden der betreffenden Person steht viel mehr im Fokus, als noch in der jüngeren Vergangenheit, wo es mit der sogenannten „Optimal Gender Policy“ darum ging, frühzeitig das männliche oder weibliche Geschlecht zuzuweisen – ohne Rücksicht auf die mögliche spätere tatsächliche Entwicklung oder auch körperliche Unversehrtheit.

Vor diesem Hintergrund sind auch die seit 2022 geltenden Regeln des IOC einzuordnen. Sie sind vor allem menschenrechtlich begründet. Damit wird allerdings ein fairer Wettkampf im Frauensport gefährdet, denn aus ideologischen Gründen werden naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu biologischen Geschlechtsunterschieden verdrängt, faktisch ignoriert.

So ist es kein Wunder, dass der Shitstorm gegen die Boxerin Imane Khelif und das IOC kein Ende findet. Allerdings kam es dabei in vielen Fällen zunächst zu Falschdarstellungen, dass es sich bei Imane Khelif um eine Transfrau handele. Ebenso ist die Berichterstattung von Unkundigkeit in Bezug auf DSD geprägt, was sowohl Sigi Lieb als auch Ilse Jacobsen kritisieren. Damit wurden sowohl Empörung als auch Hass befördert.

Lieb beobachtet die Kontroversen rund um den Frauensport schon länger: „Feministinnen beobachten seit Längerem, dass in Sportwettbewerben Transfrauen, die zuvor bei Männern im Mittelmaß landeten, als Transfrau auf das Treppchen der Frauenkategorie steigen. Ihre Einwände werden nicht gehört. Das macht wütend. Zudem war die Berichterstattung über die beiden Boxer*innen im Vorfeld fehlerhaft. Fast alle Medien, darunter auch queer-aktivistische wie das Szene-Medium queer.de bezeichneten die beiden als Transgender, was sie nicht sind, sondern intergeschlechtlich.“

Ein Faktencheck, der keiner ist

Versagt hat hierbei auch der Volksverpetzer, ein selbsternannter „Faktenchecker“. Deren Artikel wird von der links-woken Bubble überall eifrig verlinkt, so als könne der Inhalt jede Diskussion beenden.

Die Volksverpetzer-Autoren erklärten Khelif flugs zur „Cis-Frau“, weil sie sich mit dem Geschlecht identifiziere, das bei der Geburt ihr zuerkannt wurde. Die Aussagen des vom IOC suspendierten Boxverbands IBA zum biologischen Geschlecht der beiden umstrittenen Teilnehmerinnen werden als Lügen abgetan, weil die IBA massive Korruptionsvorwürfe umgeben, die Putinnähe des Präsidenten gilt ebenfalls als schlagendes Argument.

Bemerkenswert am Volksverpetzer-Text ist, wie bei vielen queeraktivistisch-woken Akteuren, die arrogante Attitüde der moralisch-überlegenden Wissenden und die genervt wirkende Verachtung des unwissenden Pöbels. Diese destruktive Haltung bewirkt nun genau das Gegenteil von sachlicher Aufklärung und befeuert einen kulturkämpferischen Hass, der am Ende vor allem Menschen mit DSD schaden wird.

Umso wichtiger ist es, dass Institutionen wie das IOC in Geschlechterfragen zurück zur Wissenschaft finden und identitätspolitische Erwägungen außen vor lassen. Das IOC ist nun gefordert, Verantwortung zu übernehmen, den Frauensport zu schützen, ebenso wie das Wohlergehen der mutmaßlich intersexuellen Athlet*innen.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Die Grenzen der Inklusion

Trans und Inter im Frauensport

Ein Boxkampf in der Frauenkategorie bei den olympischen Sommerspielen in Paris entfacht die Auseinandersetzung neu, ob trans- und intergeschlechtliche Athlet*innen an Frauenwettkämpfen teilnehmen dürfen sollten.

Der Schiedsrichter verkündet den Sieg von Imane Khelife nach der Aufgabe von Angela Carini (Foto Screenshot

2. August 2024 | Till Randolf Amelung

Nur 46 Sekunden dauerte das Achtelfinal-Duell im olympischen Frauenboxwettbewerb in der Klasse bis 66 Kilo am 1. August 2024 zwischen Angela Carini (Italien) und Imane Khelif (Algerien). Dann gab Carini auf, um ihre Gesundheit zu schützen. Sie sagte, sie habe noch nie so harte Schläge bekommen. Noch während des Kampfes habe sie ihrem Trainer zugerufen, es sei nicht fair.

„Das ist gefährlich, was hier passiert. Ich will nicht für das Olympische Komitee urteilen und ich weiß, dass das Thema schwierig ist. Aber dieser Kampf war unfair“, sagte auch der Trainer der Italienerin, Emanuele Renzini laut der Welt. Denn dies ist kein gewöhnlicher Boxkampf unter Frauen gewesen.

Die Aufzeichnung des Kampfes auf dem YouTube-Kanal des Senders Eurosport

Umstrittene Teilnehmerin aus Algerien bei WM 2023 disqualifiziert

Imane Khelif wurde 2023 bei der Weltmeisterschaft disqualifiziert – wegen zu hoher Testosteronwerte. Auf die Olympiateilnahme von Khelif hatte dies bemerkenswerterweise keine Auswirkungen. Offenbar weil der WM-Ausrichter, der Internationalen Box-Verband IBA, vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) nicht anerkannt wird. Musste Angela Carini bei Olympia also mit einem biologischen Mann in den Ring steigen?

Hierzu ist ausweislich der bisherigen Berichterstattung auch in internationalen Medien unklar, ob es sich bei Khelif um eine Transfrau oder um jemanden mit einer Variante aus dem Bereich der Intersexualität handelt. Das IOC kritisierte den medialen Umgang mit dem Fall und stellte schließlich klar, dass es nicht um Trans, sondern um Inter geht. Unstrittig ist jedoch, dass Khelif erhebliche Vorteile durch einen hohen Testosteronspiegel, vielleicht sogar schon von der Pubertät an zu haben scheint.

Empörung ist groß

Entsprechend empört fallen viele Reaktionen aus. Das feministische Magazin Emma kommentierte: „Olympia hat den ersten Skandal. Er ist ein Schlag ins Gesicht für alle Frauen.“ Die ehemalige deutsche Boxweltmeisterin Regina Halmich kommentierte auf Instagram: „Meine Meinung: das geht leider gar nicht. Ein Mann hat eine andere Genetik, mehr Muskulatur. Für mich dürfen solche Kämpfe nicht stattfinden.“

Regina Halmich auf Instagram

Der „Zeit“-Journalist Jochen Bittner schrieb auf dem Kurznachrichtendienst X: „Auch wenn sie intersexuell ist, gilt: Es muss nüchtern geprüft werden, ob ihr Antreten im Frauensport fair ist.“

Die weltbekannte Autorin J.K. Rowling schrieb, ebenfalls auf X: „Könnte ein Bild unsere neue Männerrechtsbewegung besser zusammenfassen? Das Grinsen eines Mannes, der weiß, dass er von einem frauenfeindlichen Sportestablishment beschützt wird, das sich am Leid einer Frau erfreut, der er gerade auf den Kopf geschlagen hat und deren Lebensambitionen er gerade zerstört hat.“

Sharron Davies, ehemalige britische Schwimmerin und Medaillengewinnerin bei Olympischen Spielen, schrieb auf X, dass es bei den Geschlechtstest vor allem um die Chromosomen gehe, der Testosteronspiegel sei als wichtiger Hinweisgeber zu verstehen. Sie forderte eine sachlich korrekte Berichterstattung, damit das Problem überhaupt erfasst werde.

IOC verteidigt Teilnahme

Das IOC verteidigte hingegen seine Entscheidung, Imane Khelif und die zweite umstrittene Person, die taiwanesische Boxerin Lin Yu-ting, antreten zu lassen. Der Sprecher Mark Adams sagte laut Welt: „Es sind Menschen involviert, wir sprechen über das Leben von Menschen. Sie sind in Frauenwettbewerben angetreten, sie haben gegen Frauen gewonnen und sie haben gegen Frauen verloren über die Jahre.“ Und das, sowohl Khelif als auch Yu-ting grundsätzlich die Voraussetzungen für eine Zulassung erfüllen würden, da sie in ihren Pässen als „weiblich“ eingetragen seien. Auch Yu-ting wurde 2023 bei der WM wegen zu hoher Testosteronwerte disqualifiziert.

Auch aus der Politik kamen Reaktionen, so zum Beispiel von Italiens Ministerpräsidentin Georgia Meloni: „Ich stimme nicht mit dem IOC überein. Ich denke, Athletinnen mit männlichen genetischen Merkmalen sollten nicht an Frauen-Wettbewerben teilnehmen dürfen. Nicht, weil wir jemanden diskriminieren wollen, sondern um das Recht der weiblichen Athleten zu schützen.“

Inter im Frauensport

Gerade Trans und Inter sorgen in den Frauenriegen des Spitzensports immer wieder für hitzige Debatten. Im Zentrum steht die Frage, wie groß die Vorteile durch eine vermännlichende Pubertät sind und später bleiben, selbst wenn es bei Transfrauen eine feminisierende Hormontherapie erfolgt.

Bei Varianten von Intersexualität mit deutlich erhöhtem Testosteronspiegeln wird inzwischen verlangt, dass dieser medikamentös gesenkt wird, so geschehen bei der südafrikanischen Mittelstreckenläuferin Caster Semenya. Die Mittelstrecklerin verfügt eine genetische Anomalie – ihre Leistungen in Frauenwettbewerben sind grundsätzlich allen anderen stark überlegen, zugleich kann sie nicht mit Männern leichtathletisch konkurrieren, dafür reicht es allen Trainingsmühen zum Trotz nie. Ihre Versuche, gegen diese pharmakologische Auflage vorzugehen, waren bislang erfolglos. Nun ist eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig.

Intersexualität als Herausforderung für Frauensportwettbewerbe ist kein neues Phänomen. Testosterongrenzwerte und andere Auflagen, wie zum Beispiel bis in die 1960er Jahre hinein Genitalinspektionen und Chromosomentests, wurden deshalb eingeführt. Heutzutage ist vor allem der Testosteronwert das entscheidende Kriterium.

Teilnahme von Transfrauen an Frauenwettbewerben

Die Teilnahme von Transfrauen an Frauenwettbewerben bekam durch die Teilnahme von Lia Thomas an Schwimmwettbewerben im College-Bereich international Aufmerksamkeit. 2022 entschied der Welt-Schwimmverband FINA, dass nur noch in der Frauenkategorie startberechtigt ist, wer nie eine männliche Pubertät durchlaufen hat. Bei Transfrauen hieße dies, einen frühen Einsatz von Pubertätsblockern anzustreben. Diese sind international inzwischen hochumstritten oder, je nach Land, verboten, weil langfristige Risiken für die Gesundheit bei Heranwachsenden bislang nicht ausreichend geklärt werden konnten.

Auch andere Sportverbände zogen nach und regelten die Zugangsvoraussetzungen zu den Frauenwettkämpfen neu: Die Weltverbände für Leichtathletik, Rugby und Radsport haben vergleichbare Einschränkungen wie der Schwimmverband erlassen. Das IOC überlässt es den von ihnen zugelassenen Verbänden, Regelungen zu treffen.

Biologisches Geschlecht als Risikofaktor

Der Weltboxverband hat Transfrauen von Frauenwettkämpfen ganz ausgeschlossen. Im Boxen ist nicht nur die Fairness zu berücksichtigen, sondern auch ein erhöhtes Verletzungsrisiko. „Laut einer Studie von British Journal of Sports Medicine sind Frauen im Kampfsport einem höheren Risiko für Gehirnerschütterungen und andere schwere Verletzungen ausgesetzt, wenn sie gegen physisch überlegene Gegner antreten“, heißt es auf dem Portal Boxen1.

Dies bestätigt der Fall um Fallon Fox. Fox, eine US-amerikanische Transfrau und ehemalige Mixed-Material-ArtKämpferin. 2014 trat sie in einem Kampf gegen ihre Landsfrau Tamikka Brents an. Brents verlor nicht nur, sondern erlitt auch noch eine Schädelfraktur. Später klagte Brents, vergleichbar wie nun 2024 Angela Carini, dass sie noch nie so harte Schläge in einem Kampf unter Frauen erhalten habe und dies kein fairer Kampf gewesen sei.

Inklusion kommt an ihre Grenzen

Der aktuelle Fall von den Olympischen Spielen in Paris zeigt: Inklusion hat Grenzen, und biologische Faktoren können bei Geschlecht weder wegdiskutiert noch kleingeredet werden. Schon gar nicht sollte mit Inklusion die Toleranz anderer strapaziert werden, deren Wettbewerbe mit solchen Belastungen für faire Bedingungen ruiniert werden.

Dies fördert Frustration und Abwehr und trägt nicht zur gesellschaftlichen Akzeptanz von Trans- und Interpersonen bei. Die Grenzen, die durch biologisch-körperliche Bedingungen auferlegt werden, können für Betroffene aus dem Trans- oder Interbereich persönlich eine Zumutung sein. Man kommt aber nicht umhin, diese anzuerkennen – wenn vielleicht auch zähneknirschend.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Dyke* March Berlin 2024 – Lesbische Sichtbarkeit unerwünscht

Teil 2 der IQN-Berichterstattung

Am 26. Juli fand der elfte Dyke* March Berlin statt. Die Veranstaltung am Vorabend des CSD wurde einst gegründet, damit Lesben sichtbar werden können. Doch während an einem Ende des diesjährigen Dyke* March Berlin die Vernichtung Israels propagiert wird, wird am anderen Ende des Umzugs der Verachtung für homosexuelle Frauen freien Lauf gelassen.

Diese Sichtbarkeit von Lesben war unerwünscht (Foto: privat).

30. Juli 2024 | Chantalle El Helou

Der Dyke* March Berlin startete dieses Jahr auf dem Karl-Marx-Platz in Neukölln. Aufgeheizt ist die Stimmung schon aufgrund der Aggressivität antizionistischer Aktivisten von Anbeginn.

Eine kleine Gruppe von ungefähr 17 Lesben möchte dennoch dem eigentlichen Anliegen des Dyke* March nachkommen und läuft als feministisch-lesbische Gruppe mit. Auf ihren Transparenten steht „My Vulva is a female only space“, „kompromisslos lesbisch“, „Solidarität mit Lesben aller Länder“, „Not your Porn“, „Gender ist the cause of dysphoria not the solution“, „Dyke XX March“ und „unendlich frauenzentriert“.

Sie rahmen ihre kleine Gruppe mit Bannern ein: „Frauenliebe ist unsere Stärke – Lesbenfront“ und „Wir Lesben sind überall“. Das verschränkte Venussymbol und die Doppelaxt sind auf Schildern und zwei Flaggen präsent. Sie rufen: „Viva viva Lesbiana“. Damit bildet die Gruppe den wohl sichtbar lesbischsten Teil auf dem Dyke* March, der ansonsten sehr farblos oder mit Pro-Palästina-Sympathiebekenntnissen daherkommt.

Vorwurf der Transfeindlichkeit

Diese offene und klare Präsentation des eigenen Lesbischseins erregt auf dem Dyke* March Anstoß. Das Verständnis von Homosexualität als auf den geschlechtlichen Körper des anderen Menschen bezogenes Begehren, ist schon lange nicht mehr Konsens in dieser Community. Stattdessen wird die Innerlichkeit, die Geschlechtsempfindung, die Geschlechtsidentität hervorgehoben. Das heißt: Auch männliche Körper sollen im lesbischen Begehren auftauchen können. Somit gelten die Transparente und Motti der lesbisch-feministischen Gruppe als transfeindlich.

Von der breiten Karl-Marx-Straße einbiegend in die engere Anzengruberstraße sehen sich die Frauen bald einem wütenden Mob von etwa 50 Transaktivisten gegenüber, der versucht, die Gruppe vom Dyke* March durch Blockade und Einschüchterung zu vertreiben. Sie werden schließlich von einer anwachsenden Traube aus mindestens 100 Personen eingekesselt und eine halbe Stunde lang am Weitergehen gehindert. Die Aktivisten rufen: „Terfs, verpisst euch, keiner vermisst euch“ – Terf ist das Akronym für Trans-Exclusionary Radical Feminist –, „Haut ab“ und „Macht sie platt“.

In der Einkesselung bilden die Frauen mit ihren Händen das feministische Vulva-Symbol und die Menge bricht in verärgertes Grölen aus.

Mehrmals wird erfolglos versucht, den Lesben das Banner mit der Aufschrift „Frauenliebe ist unsere Stärke – Lesbenfront“ zu entreißen. Ein Schild mit der Aussage „Lesbe – gleichgeschlechtlich liebende Frau“ gelangt hingegen in die Hände der Transaktivisten. Sie zerreißen das Schild und versuchen, es anzuzünden.

Transaktivisten wollen ein erbeutetes Schild anzünden (Foto: J.M.)

Positiver Bezug auf das Lesbischsein

Um es klar zu sagen: Die Lesbengruppe trug keine transfeindlichen Sprüche bei sich, sondern vor allem Schilder mit positivem Bezug auf das Lesbischsein. Ein Schild mit besagter Aufschrift verbrennen zu wollen, bedeutet die Leugnung der weiblichen Homosexualität selbst. Die Lesben veröffentlichen später auch in einem Statement ihre Motivation: „Es ist uns bewusst, dass es aus der Mode gekommen ist, Frauen Vorrang einzuräumen, gerade – und ironischerweise – innerhalb der Lesbenkultur. Es ist Ausdruck von Lesbenhass, wenn die ausschließlich auf Frauen bezogenen, women-only, sexuellen und politischen Grenzen von Lesben in Frage gestellt oder verletzt werden. Frauenhasser weigern sich, Grenzen von Frauen zu akzeptieren oder lesbische Autonomie zu respektieren.“

Erst durch verstärkte Polizeipräsenz löst sich die Blockade durch die Transaktivisten auf und die lesbische Gruppe kann ihre Teilnahme am Dyke* March unter Polizeieskorte fortsetzen. Es kommt auf der Erkstraße zu einer zweiten Blockade – diesmal ist eingehakt in der Menschenkette gegen die Lesben auch die bekannte Journalistin und Transfrau Georgine Kellermann. Die Gruppe wieder in den Zug zu integrieren, bleibt aufgrund von Sicherheitsbedenken unmöglich, sodass die Frauen schließlich nach der Hälfte der Strecke die Demo verlassen.

Georgine Kellermann, in rosa Oberteil und Rock gekleidet, steht mittig zwischen den Blockierern (Video: privat).

Die Reaktion von der Dyke* March Organisation, sowie von der berichtenden Presse wird den tatsächlichen Geschehnissen nicht gerecht und verfolgt eine ähnliche Täter-Opfer-Umkehr wie sie beim israelhassenden Mob vorgenommen wurde.

So behauptet die taz: „Die ungefähr 15 Menschen mit transfeindlichen Schildern versuchten zeitweise den hinteren Teil der Demo zu blockieren.“ Was daran transfeindlich sein soll, wird nicht erläutert. Dafür wird aber behauptet, die Lesben, die am Dyke* March teilgenommen haben, hätten diesen blockiert. Tatsächlich waren es aber die Transaktivisten, die die Demo durch das Blockieren der Lesben aufhielten.

Georgine Kellermann postete auf X ein Foto von der Teilnahme am Dyke March Berlin 2024.

Organisatorin beschuldigt Lesben

Diese irreführende Darstellung wird auch von Manuela Kay, der Initiatorin des Dyke* March Berlin und Co-Verlegerin von Siegessäule und L-Mag, bei Radioeins verbreitet.

Kay macht in ihrer Erzählung aus einer kleinen Lesbengruppe mehrere Gruppen, die transfeindlich gewesen seien. Deren Ziel sei ihrer Meinung nach: Provokation und Spaltung. Kays Darstellung der Konflikte auf der Demo lässt es so aussehen, als ob feministische Lesben, Israelsolidarische und Israelhasser ähnlich stark auf dem Dyke* March vertreten gewesen wären.

Sowohl die feministischen Lesben als auch die israelsolidarischen beliefen sich auf eine geringe Anzahl, während mindestens 500 Antizionisten lautstark beteiligt waren. Die Lesbengruppe in der hinteren Mitte der Demo wird also aufgebauscht, während der judenfeindliche Mob an ihrer Spitze heruntergespielt wird.

Bemerkenswert zudem: Wesentliche Blockaden während der Demo wurden von den Hundertschaften an Israelhassern im zweiten, vorderen Block verursacht, weil sie regelmäßig stoppten, durch verbotene Parolen wie „From the river to the sea“ Polizeieinsätze verursachten und dadurch große Lücken zwischen Demospitze und dem Rest rissen.

Thematisierung von Lesbenfeindlichkeit und Antisemitismus unerwünscht

Die Reaktion der Organisation des Dyke* March ist dieselbe wie auf die Antizionisten: Nicht die Frauen- und Lesbenfeindlichkeit der queeren Szene ist das Problem, sondern deren Thematisierung. Wer es also wagt, das Lesbischsein als zentriert auf Frauen und den biologisch weiblichen Körper darzustellen, gilt als Provokateur und Spalter.

Dabei ist fraglich, ob eine dieser transaktivistischen Lesben jemals mit männlichen Körpern oder Genitalien verkehren wollen würde. Ihre Reaktion auf die lesbisch feministische Gruppe zeigt aber: Es ist ein Tabu, genau das auszusprechen. Dass die exklusive Hingezogenheit zum weiblichen Körper selbstverständlich als transfeindlich gilt, kann ebenso dem Erfahrungsbericht zum Dyke* March Berlin von Christian Bojidar Müller aus der Siegessäule entnommen werden.

Hier schreibt Müller über die Reaktion auf die lesbisch feministische Gruppe und ihre Transparente: „Andere Demonstrierende hielten ihre Trans*-Flaggen hoch, um die trans*-feindlichen und exkludierenden Transparente wie „My Vagina is a female place only“ zu überdecken.“ Dass auf dem Transparent tatsächlich „My Vulva is a female only space“ stand und es auch einen Unterschied zwischen Vulva und Vagina gibt, hier nur nebenbei.

Die Aussage dieses Kommentars ist: Eine Frau, die keinen männlichen Körper, keine Penisse an oder in sich haben will, ist transfeindlich. Damit gilt auch Lesbischsein als transfeindlich.

Weil die Thematisierung von geschlechtlicher Körperlichkeit in der queeren Szene vermieden wird, obwohl sie dennoch weiterhin die unausgesprochene Grundlage gelebter Sexualität bildet, stellen Frauen, die sich offen zum weiblichen Körper bekennen, den Stachel in der verlogenen Harmonie dar und müssen darum umso heftiger bekämpft werden. Sprüche wie „Terfs can suck my trans dick“ erfahren nicht den gleichen Widerspruch und dürfen ohne Probleme in der Demo gezeigt werden.

Mackersprüche durften auf dem Dyke March sichtbar bleiben (Foto: B.G.).

Der Transaktivismus besteht eben nicht daraus, Lesben grundsätzlich auszuschließen, sondern sich selbst mit aller Vehemenz in deren Sexualität zu integrieren. Die Reaktion auf die Gruppe beweist: Wer diesem Vorhaben keinen vorauseilenden Gehorsam zollt, sondern sich einfach auf den weiblichen Körper fokussiert, wird in dieser Szene bekämpft.


Chantalle El Helou, geb. 2000, B.A. in Politikwissenschaft, zurzeit Masterstudium in Gesellschaftstheorie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; auf Ideologiekritik fokussiert, Publikationen zur Kritik an Prostitution, Queertheorie und Antizionismus, engagiert im lesbischen Nachtleben Berlins.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Dyke* March Berlin 2024 – Spalten, was gespalten gehört

Teil 1 der IQN-Berichterstattung

Dass der selbstzweckhafte Ruf nach Zusammenhalt Teil des antisemitischen Problems der queeren Szene ist, konnte dieses Jahr auf dem elften Dyke* March Berlin gut beobachtet werden. Allein für die lesbische Sichtbarkeit konnte man nicht auf die Straße gehen. Verantwortlich dafür sind die Organisatoren des Dyke* March Berlin selbst, die mit ihrer offen propagierten Israelfeindschaft zur Parteinahme zwangen.

Die Spitze des Dyke March Berlin 2024, gleich dahinter der pro-palästinensische Block (Foto: Chantalle El Helou).

28. Juli 2024 | Chantalle El Helou

Kurz gesagt: Die Okkupation des Dyke* March Berlin durch israelfeindliche Aktivisten war ein voller Erfolg. Mindestens 500 Frauen und Männer – darunter arabische Männer, die sich spontan dem Zug anschlossen – waren mit Kufiya, Transparenten und Palästinaflaggen bestückt und bildeten einen ekstatisch wütenden Mob, der unablässig, also über drei Stunden, antisemitische Slogans an vorderster Front des Dyke* Marches brüllte.

Der Journalist Iman Sefati hat die Aktivitäten des antisemitischen Blocks gefilmt.

Antisemiten führen die Demo an

Gleich zu Beginn sammelten sich die Aktivisten direkt neben dem roten Transporter des Dyke* March Organisationsteams und läuteten die Demo lautstark mit frenetischen Sprechchören zur Vernichtung Israels ein: „Free free Palestine“ und „Yallah, yallah Intifada, von Berlin bis nach Gaza“. Als eine der Organisatorinnen dann die Demonstrationsordnung vorliest und auf das Verbot zur Bewerbung der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ hinweist, beginnen die Aktivisten wütend zu grölen.

Nach dem Start der Demo reiht sich der immer größer werdende Mob vorn ein. Sie bilden zwar den zweiten Block, sind aber sowohl zahlenmäßig als auch in Sachen Sichtbarkeit dem ersten Block weit überlegen und führen mit ihrer starken Sichtbarkeit faktisch den Dyke* March an. Sie laufen mit einem ihrer größten Frontbanner „No pride in Genocide“ direkt neben dem Dyke* March Transporter, der laut Partymusik abspielt und auf dessen Frontseite das Banner mit dem diesjährigen Slogan „DYKES* united – against fascism “ steht.

Antizionistische Slogans

Eingerahmt wird der Block von großen Seitenbannern und den Slogans „generation after generation/ until total liberation“, „Dykes 4 palestine/ our pride ist the resistance“ und „no pride in apartheid“. Neben den „Dykes for palestine“ ist auch die „Alliance of Internationalist Feminists“ mit dabei, die „Our Revolution is Coming“ androht. Dass der Antizionismus Vehikel eigener Befindlichkeiten ist, wurde offensichtlich bei „Yeah I’m into BDSM/ Boycott, Divest, Sanction, Movement “, „We are all palestinians/ up with love, down with zionism“, „FLINTIFADA“ und „Made the Middle-East non-binary again!“ (gekennzeichnet mit einer Wassermelone und Magen David).

Typische BDS-Slogans prägten die Demo (Foto: Chantalle El Helou).

Der wohl krasseste Fall vereinnahmt eines der bedeutendsten Symbole der Schwulenbewegung: Der rosa Winkel der Act Up-Bewegung und ihres Slogans „Silence = Death“ befindet sich auf dem Schild eines Aktivisten. Der rosa Winkel zeigt mit der Spitze nach unten und imitiert somit ein Hamas-Dreieck. Unter „Silence = death“ steht „Zionism = Racism“.

Der vereinnahmte Slogan der „Act up“-Bewegung (Foto: Chantalle El Helou).

Zum Vergleich: Dem riesigen, wütend israelfeindlichen Mob, der in den Straßen Neuköllns Pogromstimmung verbreitete, setzten sich sichtbar nur eine winzige israelsolidarische Gruppe (ca. 20 Personen) entgegen, die mit Davidstern auf Regenbogen nach Block vier, also ans mittlere Ende des Dyke* March verlegt wurden.

Antisemitische Vereinnahmung des Dyke March

Es muss hier klargemacht werden: Das hätte nicht zugelassen werden dürfen und es gibt nur zwei Erklärungen wie es dazu kommen konnte, dass der Dyke* March Berlin – keine Provinzveranstaltung, sondern der, der den Dyke March nach Deutschland brachte – zum Hort des Judenhasses werden konnte.

Entweder die Dyke* March Organisation steht hinter den Vernichtungswünschen gegen Israel, dann sind sie selbst antisemitisch. Oder die Dyke* March Organisation steht nicht dahinter, dann sind sie Kollaborateure der Antisemiten und zu rückgratlos, um die notwendigen Schritte einzuleiten. Sich nicht vereinnahmen zu lassen, hätte in diesem Fall bedeuten müssen, die Demo vorher abzusagen, während dessen abzubrechen oder den Block abzuspalten.

Dass das geht, bewies der Dyke* March von vor zwei Jahren. Eine kleine Gruppe von Frauen präsentierte ihr Lesbischsein als transexklusiv und wurde vom Orgateam sowohl auf dem March selbst als auch hinterher schwer verurteilt. Eine kleine Gruppe von Lesben, die nicht mit Männern schlafen wollen, sind auf dem Dyke* March Berlin ein Skandal, ein riesiger Mob von Antisemiten, die an vorderster Front des Zugs offen die Vernichtung Israels skandieren, sind hingegen völlig tolerierbar.

Antisemitismus mit queeren Trendbegriffen ausgedrückt (Foto: Chantalle El Helou).

Ideologisch überzeugtes Orgateam

Die Medien-Präsenz des Dyke* March bestätigt den Eindruck, dass man nicht nur rückgratlos, sondern selbst ideologisch tief engagiert ist. Ende Juni rief der Dyke* March auf Instagram unter seinem Motto „Love Dykes* – Fight Fascism“ seine Teilnahme am globalen Kampf gegen Israel aus: Man sei nicht nur gegen Rechts, Rassismus und Antisemitismus, dieser Reihe wurde auch „settler colonialism, genocide and apartheid“ und drei Wassermelonen-Emojis angefügt. Dieser Kommentar wurde später gelöscht und durch insgesamt zwei Statements und einem Interview ersetzt, in dem die antiisraelische Haltung ebenso stark zum Ausdruck kommt.

Im ersten Statement behauptet man, sich weder vereinnahmen lassen zu wollen noch eindeutige Positionen zu vertreten. Diese Beteuerung hält jedoch nicht mal ein Statement lang, denn in einem Punkt ist man sich dann doch einig: „So verurteilen wir die derzeitigen Genozide in Palästina und anderen Teilen der Welt.“

Im zweiten Statement wird das bestärkt: „Antizionismus ist nicht Antisemitismus. Wir lehnen den rassistischen und islamophoben Diskurs ab, der Anschuldigungen des Antisemitismus nutzt, um Solidarität mit Palästina zu unterbinden“.

Mit der Verteidigung des Antizionismus hat man sich einer Haltung angeschlossen, die Israel das Existenzrecht abspricht und wiederholt das sogar ein zweites Mal im Interview mit Siegessäule. Dort freut sich eine der Organisatorinnen darüber, dass sich die Zahl der vernünftigen Homos, nämlich jene, die an der israelsolidarischen East Pride teilnahmen, auf lediglich 500 Personen beschränkte. Dass auf dem East Pride nur so wenige anzutreffen waren, ist weniger ein Armutszeugnis für die Veranstaltung, denn für die queere Szene und unterstreicht die Notwendigkeit und Legitimität des israelsolidarischen Anliegens.

FLINTA* verniedlichen die Intifada (Foto: Chantalle El Helou).

Zusammenhalt um jeden Preis

Es war der Dyke* March selbst, der Israel zuerst und immer wieder zum Thema gemacht und offen Partei gegen den Zionismus ergriffen hat. Obwohl er damit alle Lesben, die am Dyke* March teilnehmen wollten, zwang, unter der Lüge des Genozidvorwurfs zu laufen, werden die Stifter des Unfriedens in der kleinen Gruppe an Israelsolidarischen gesehen, die offen Haltung am Soli-Abend in der Bar Möbel Olfe zeigten.

Die Reaktion der queeren Szene auf die israelsolidarische Aktion in der Möbel Olfe zeigte den dortigen Antisemitismus wirksam auf. Für die Dyke* March-Orga ist aber klar: Nicht die schlechte Nachricht, sondern der Überbringer schlechter Nachricht ist das eigentliche Problem. Sie finden nicht den Antisemitismus ihrer Szene verächtlich, sondern dessen Thematisierung.

Die Täter-Opfer-Umkehr, die man im Gaza-Krieg vornimmt, überträgt man gern auf sich selbst: Die gezeigte Israelsolidarität hatte aus Sicht des Dyke* March „nur eine Motivation: Provokation und Spaltung.“ In dieser Formulierung steckt selbst antisemitisches Ressentiment – nämlich der Vorwurf an Juden und Zionisten, eine eigentlich gute Welt – hier die eigentlich harmonische Welt des Dyke* March – künstlich zu spalten, Schaden um des Schadens willen anzurichten.

„We are all Palestinians“ sagt dieses Schild. Wie sieht die Solidarität eigentlich umgekehrt aus? (Foto: Chantalle El Helou.)

Kritiker des Antisemitismus sind Nestbeschmutzer

Als der Dyke* March am Oranienplatz zu seinem Ende kommt, spricht noch einmal Manuela Kay – die Initiatorin des Dyke* March Berlin – zu den Teilnehmern. Sie ruft erneut zu Zusammenhalt und gegen Spaltung auf.

Wenn eine große, sehr laute Zahl der Demonstranten Antisemiten sind und die Mehrheit der anderen Demonstranten dazu schweigen, dann ist der Aufruf zu Solidarität und Zusammenhalt zwangsläufig ein Aufruf zur Kollaboration mit dem antisemitischen Konsens und schlägt notwendig in die Diffamierung der wenigen Kritiker um. Der Nestbeschmutzer ist niemals die judenhassende Mehrheit, sondern immer der Kritiker.

Das beweist auch die Aktion einer Organisatorin des Dyke* March auf der After Show Party im „Ritter Butzke“. Dort konnte beobachtet werden, wie sie eine der Frauen, die sich auf dem Soliabend in der „Möbel Olfe“ israelsolidarisch zeigten, wegen „Diffamierung“ durch die Security von der Party entfernen ließ. Die zahlreichen Kufiya-Träger durften aber weiterhin ungestört feiern.

Antizionismus war auch auf diesem Dyke March wieder nur schlecht verhüllter Antisemitismus (Foto: Chantalle El Helou).

Einsicht in die Notwendigkeit des Zionismus

Der Dyke* March zeigt exemplarisch die Notwendigkeit des Zionismus: Wer, außer die Juden selbst, soll sich für ihr Wohl einsetzten? Etwa Menschen vom Schlage des Dyke* March Orgateams, die selbst nach dem Terroranschlag der Hamas auf Israel an ihrer Route über die Sonnenallee festhalten? Wohl wissend, dass es für sichtbare Juden dort nicht sicher ist?

Juden sind eben nur so lange erträglich wie sie keine Energie kosten. Aber Juden, die die Ohnmacht der Diaspora und damit die Auslieferung an ihre leidenschaftlichen Feinde und leidenschaftslosen Freunde nicht hinnehmen wollen und darum Zionisten sind, erklärt man zum Feind schlechthin.

Der Dyke* March und seine Organisatoren sind nicht nur zu Kollaborateuren des israelfeindlichen Mobs geworden, sondern haben für ihn durch ihre eindeutigen Statements die Arme ausgebreitet.

Was die Bewegung spaltet, soll die Ideologie nicht zusammenführen: Wenn Zusammenhalt nur um den Preis des Antisemitismus oder der Kollaboration mit ihm zu haben ist, kann man nicht nur, sondern muss man sogar die Spaltung wählen.


Chantalle El Helou, geb. 2000, B.A. in Politikwissenschaft, zurzeit Masterstudium in Gesellschaftstheorie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; auf Ideologiekritik fokussiert, Publikationen zur Kritik an Prostitution, Queertheorie und Antizionismus, engagiert im lesbischen Nachtleben Berlins.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Die krude Theorie vom „Homonationalismus“

Oder: Paranoia in der queeren Szene

Hinter dem Begriff des „Homonationalismus“ steht eine nicht durch Empirie gesättigte Vorstellung, Staaten des reichen, kapitalistischen Westens würden mit LGBT-Rechten nur von ihrem Rassismus insbesondere gegenüber Muslimen ablenken. Auch in LGBT-Kreisen gibt es Anhänger*innen dieser Behauptung. Jan Feddersen kommentiert, warum das falsch ist.

Wird hier gerade pinkgewaschen? (Foto von engin akyurt auf Unsplash.)

26. Juli 2024 | Jan Feddersen

In der Siegessäule, der Berliner LGBTIQ*+-Szeneillustrierten der queeren Milieus, erschien Anfang Juni ein beinah klassisch zu nennender Text von Lara Hansen, der diese Frage zu erläutern sucht: „Was ist Homonationalismus?“ Zunächst ließe sich sagen, dass die Vokabel „Homonationalismus“ zu den Kampfbegriffen der queerfeministischen Szene gehört, der auf die Theoretikerin Jasbir Puar zurückgeht.

LGBT-Rechte als Ablenkungsmanöver

Das Wort fußt auf einer Weltanschauung, der zufolge Schwule und Lesben und Trans in Ländern des „kapitalistischen Westens“ nur scheinbar in liberalisierten Verhältnissen leben.  Westliche Nationalstaaten würden LGBT-Rechte ausschließlich zu rassistischen und nationalistischen Zwecken instrumentalisieren, davon würden vor allem „weiße schwule Cis-Männer profitieren“. Cis, es meint auch mich, einen biologischen Mann und Schwulen, der sich gegen jede Idee verwahrte, dass er psychiatrischen oder medizinischen Konversionen unterzogen werden sollte oder könnte. Meine Rechte seien ein bitter erkaufter Trugschluss, denn in den reichen Staaten sei diese Liberalisierung durch Hetze gegen und Diskriminierung von marginalisierten Menschen, insbesondere Migranten, Schwarze Menschen, möglich geworden. Homonationalismus meint also auch eine Kritik an der Zufriedenheit dieser LGBTI*-Szenen mit den erreichten Fortschritten  in diesen Ländern.

Israel sei besonders perfide

Im Hinblick auf Israel sei Homonationalismus ein nachgerade imperialistisches Manöver der Regierung, sich eines „Pinkwashings“ zu bedienen: Mit dem Verweis auf den CSD in Tel Aviv wird kolportiert, dass diese queeren Szenen, die gut gelaunt in Tel Aviv feiern, eigentlich Agentinnen* des israelischen Besatzungsregime seien, um vor aller Welt als liberal dazustehen. Wir Homos als Aushängeschilder, damit die Hamas, die Palästinenser, der Islam weiterhin dämonisiert bleiben.

Wörtlich schreibt Lana Hansen in der Siegessäule:

„Dahinter steckt rassistisches Entweder-oder-Denken: Wer gegen den Islam sei, sei für Homosexuelle und umgekehrt. ‚Dieses Muster sehen wir auch bei uns. Etwa bei der AfD, die sich immer wieder gegen die Ehe für alle ausspricht und gegen Aufklärung zu sexueller Diversität in Schulen. Aber wenn es darum geht, den ‚guten weißen Schwulen‘ vor dem ‚bösen Moslem‘ zu beschützen, dann sind Queers wieder gut genug. Diese instrumentelle Herangehensweise zeichnet den Homonationalismus aus‘, sagt Experte Michael Hunklinger.“

Und:

„Laut Prof* Jin Haritaworn zeigt sich Homonationalismus in eben diesen schein-progressiven Bestrebungen, wie etwa Queers vor Migrant*innen zu schützen. ‚Migrantisierte Menschen werden als homophob, antisemitisch und patriarchal beschrieben – alles Eigenschaften, mit denen die weiße Mitte nichts mehr zu tun haben will‘, schreibt Haritaworn der SIEGESSÄULE.“

Lana Hansen will also sagen: „Schwule Männer und lesbische Frauen erkauften sich ihre Freiheit, indem sie Migrantinnen* verteufeln und den Islam im Besonderen.“

Gewöhnung an LGBT über Jahrzehnte gewachsen

Nichts davon ist wahr. Es handelt sich beim Text von Frau Hansen um ein Dokument schlecht gelaunter Paranoia und antiimperialistisch gesinnter Kraut-und-Rüben-Theorie. Wahr ist, dass die meisten Migrantinnen*, ob aus Afrika, den arabischen Ländern oder Osteuropa, es anfänglich stark irritiert, dass Schwule oder Lesben oder Transmenschen in reichen Ländern wie Deutschland öffentlich auftreten können. Die allermeisten gewöhnen sich aber daran, so wie sich die allermeisten Urdeutschen an uns gewöhnt haben im Laufe der Jahrzehnte.

Wahr ist aber auch, dass in Dresden ein schwules Paar von einem islamistisch gesinnten Asylbewerber angegriffen wurde, mit einem Messer. Einer der beiden Männer kam bei dieser Attacke sogar ums Leben. Der Hinterbliebene verwahrte sich Monate später gegen Initiativen, am Tatort eine Art Mahnmal gegen Homophobie aufzustellen – wichtiger sei, ein Zeichen gegen Islamismus zu setzen, betonte er.

Schwule und Lesben haben sich seit über einem halben Jahrhundert ihre gesellschaftliche Performance, die öffentlich sein kann, hart erkämpft. CSDs trugen das ihre dazu bei. So ging es in allen Ländern, in deren Gesellschaften mehrheitlich die Auffassung gelebt wird, Lesben und Schwule und Trans seien okay. Das sind politische Kampferfolge und keine imperialistischen Strategien, um als Nation besser dazustehen. Niemand stand in den Kommandozentralen und formulierte den Befehl: „Lass die weißen Schwulen ran, damit wir imagemäßig besser dastehen!“

Westliche, liberale Staaten sind Zufluchtsorte

Wahr bleibt ebenso, dass schwule Männer und lesbische Frauen und trans Menschen die Länder mit liberalen Auffassungen aufsuchen, um dort in Ruhe eben schwul oder lesbisch oder sonst wie nicht-heteronormativ zu leben. Wäre Deutschland nur rassistisch oder queerphob käme niemand. Wäre Israel so schlimm, bemühten sich Queers aus Gaza oder der Westbank nicht um Fluchten dorthin. In dem jüdischen Staat sind sie sicher, in Gaza-City nie. So oder so: Lana Hansen scheitert schon empirisch mit ihrem Text, aber Episteln wie die ihrige in der „Siegessäule“ sind in queeren Medien und bestimmten Teilen des Wissenschaftsbetriebs sehr beliebt: Sie bedienen mit einem Grundraunen die Gefühle des Verdachts, dass irgendetwas nicht stimmen könne.

„Homonationalismus“ funktioniert wie in der katholischen Kirche das Wort „Teufel“ oder „Antichrist“ – wird schon was dran sein. Schwule und lesbische Migrantinnen* haben vor allem einen Feind in Deutschland: Die linke Szene, die ihnen einreden will, dass sie nichts gegen den Islam sagen dürfen, weil das angeblich den Rechten dient. Und die eigene Familie, die es gar nicht gern hat, wenn der eigene Filius schwul wird oder die Tochter lesbisch.

Die Vulnerabilität von Migrant*innen durch bürgerrechtlich erstrittene Erfolge für LGBT wird nur behauptet, nicht belegt. Auch die lesbische Parteivorsitzende der in Teilen rechtsextremen AfD, Alice Weidel, taugt nicht als Beleg. Die AfD ist ohne Frage eine schreckliche, furchterregende Partei – beängstigender sind jedoch jene, die die neuen Heimaten der Migras* schlecht reden und suggerieren, in Deutschland sei es fast übler als in Syrien. Da lacht der eben geflüchtete Migra* – und zieht sich von solch‘ dubiosen Theoretikerinnen* eilends zurück.


Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.


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