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Sind Drag-Lesungen das Nonplusultra der Vielfaltserziehung?

Die Aufregung um Kinder-Events mit Drag Queens flammt immer wieder auf. Rechte Kreise bezichtigen diese der „Frühsexualisierung“ und stellen alles unter pädokriminellen Generalverdacht. Für Progressive sind Drag Queens jedoch pädagogisch wertvoll. Warum beide Seiten Unrecht haben.

Drag Queen in einem aufwendig gestalteten Kostüm mit Pink und Schwarz und einem Kopfschmuck auf Schaumgummi. Symbolbild für Artikel "Sind Drag-Lesungen das Nonplusultra der Vielfaltserziehung?"
Drag Queens beeindrucken mit liebevoller Kreativität, die viele von ihnen in ihre Kostüme investieren und sind daher ein beliebtes Fotomotiv bei queeren Veranstaltungen (Foto von Quino Al auf Unsplash).

7. Dezember 2025 | Till Randolf Amelung

Zuletzt gab es wieder Wirbel um zwei Drag-Lesungen in Berlin und München: Bei beiden Veranstaltungen sollten Drag-KünstlerInnen Kindern vorlesen, doch rechtsexteme Kreise riefen zu Protesten dagegen auf und starteten Petitionen, in denen die Absage der Performances gefordert wurde. Doch sowohl in München als auch in Berlin waren die Gegendemos stärker besucht. Erledigt ist die Kontroverse damit jedoch nicht, und es ist Zeit, darauf zu schauen, wo sowohl KritikerInnen, als auch BefürworterInnen fehl gehen.

Alles Pädo?

Für die GegnerInnen sind Drag-Lesungen „Frühsexualisierung“ und ein Einfallstor, um Pädophilen Zugriff auf Kinder zu verschaffen. In diesem Sinne reduziert Uwe Steinhoff in seiner Suada gegen LGBT im Cicero progressive Ansätze auf Gefahren für Kinder durch pädophile Täter. Wie so oft, ist es einfacher, die Schwächen vor allem beim politischen Kontrahenten zu sehen und im eigenen Lager zu ignorieren. Sexuelle Gewalt gegen Kinder gibt es, wie aufgedeckte Skandale der letzten Jahre zur Genüge zeigten, auch in rechtskonservativen Bastionen, wie der katholischen Kirche. Man wünschte sich beinahe, hier ähnlichen Furor zu lesen wie gegen die sogenannten perversen Queers. Und wie rechtsextreme Demoaufrufe, die mit ihrer Aggressivität das Sicherheitsgefühl beeinträchtigen, zum Wohlbefinden von Kindern beitragen, ist ebenfalls fragwürdig.

Die BefürworterInnen solcher Lesungen hingegen stufen Lesungen mit Drag Queens als „pädagogisch wertvoll“ ein, wenn die Bücher altersgerechte Inhalte vermitteln. So heißt es auf Queer.de:

„Drag-Künstlerinnen würden etwa spielerisch zeigen, dass es verschiedene Arten gibt, sich zu kleiden und auszudrücken, dass Rollenbilder nicht starr sein müssen und dass Anderssein nichts Beängstigendes sein muss. Das fördere soziale Kompetenz, Empathie und Offenheit. Zudem stärke es das Selbstwertgefühl von Kindern, wenn ihnen gezeigt werden, dass sie so sein dürfen, wie sie möchten – auch jener, die nicht in traditionelle Schubladen passen.“

Evidenz für Drag Lesungen fehlt

Doch hierfür fehlt eine mit Studien belegte Evidenz, dass Drag Queens der unverzichtbare Höhepunkt der Toleranzerziehung sein sollen. Obwohl diese Überzeugung in progressiven Blasen unermüdlich wiederholt wird, wurde sie bislang nicht objektiv geprüft. Insofern sitzt man also mit der Polarisierung zwischen „alles Pädotäter“ und „pädagogisch unverzichtbar“ gleich zwei Übertreibungen auf, die nicht hilfreich sind.

Zumal das Bekanntwerden der Vorwürfe der Verbreitung und des Besitzes von Kinderpornografie gegen die bekannte Berliner Drag Ikone Jurassica Parka aufzeigt, dass nicht jeder Pädotäter-Vorwurf böswillige Lüge ist. Jurassica Parka wurde zudem bereits 2023 wegen einer solchen Straftat rechtskräftig verurteilt und besaß im selben Jahr noch die Chuzpe in einer mittlerweile depublizierten Folge von Jan Böhmermanns Kochshow „Böhmi brutzelt“ zum Thema „Drag-Lesung“ zu sagen:

„Natürlich lesen Dragqueens keine Kinderbücher vor, weil sie Kinder geil finden.“

Oder auch:

„Weil ich habe mit Kindern jetzt nicht so viele Berührungspunkte.“

Ebenfalls war Parka danach selbst noch in Vorleseveranstaltungen für Kinder aktiv. 2024 moderierte Parka auch Teile des Programms der als familienfreundlich beworbenen Drag-Veranstaltung „Queens & Flowers“

Mit dem Fall Jurassica Parka hat eine Verdruckstheit die Szene erfasst, wie ein Artikel in der Zeit nachzeichnet. Zugleich ist der Fall auch Wasser auf den Mühlen rechtskonservativer sowie -extremer Kreise, die schon seit Jahren „Frühsexualisierung“ schreien. Im Zeit-Artikel heißt es, kaum jemand wolle die Drag-Szene jetzt noch gegen die Angriffe von rechts verteidigen. Dabei hätten die Anfeindungen zugenommen, wie der an mehreren Lesungen mitwirkende Drag King Eric BigClit gegenüber dieser Zeitung sagte. Offenbar reichen Gegendemos zur Solidarität mit Lesungen nicht aus.

In der Vergangenheit wurde mit dem Pädovorwurf erheblich Ressentiments gegen Homosexuelle geschürt. Doch während Kritik daran notwendig war, haben LGBT-friendly Progressive zugleich den Fehler begangen, jede Umsicht über Bord zu werfen, wenn es um Kinderveranstaltungen mit Queer ging. Missbrauchsskandale der vergangenen Jahre haben dazu geführt, dass mittlerweile beispielsweise auch von sechzigjährigen Frauen erweiterte Führungszeugnisse verlangt werden, die ehrenamtlich als Lesepatinnen tätig werden wollen. Eine solche Konsequenz fehlte offenbar beim Thema „Queer“, da man sich nicht dem Verdacht aussetzen wollte, erneut zu diskriminieren.

Subversive Kunstform

Drag als Kunstform lebt von Subversion – wozu nicht nur das Spiel mit Geschlechterrollen, Pailletten und hoher Schaumweinkonsum gehört, sondern auch eine gewisse Lust am Trash, am Obszönen. Sexuelles wird nicht unter den Teppich gekehrt. Lange fand Drag eher in Nischen einer urbanen queeren Underground-Subkultur wie in Berlin statt. Schwule Kultur kennt seit jeher wie auch die lesbische einen spielerischen Umgang mit Travestien, also Verkleidungen mit ironischer Note.

In den letzten Jahren stieg die Popularität enorm. Wesentlich dazu beigetragen hat die US-amerikanische Casting-Show „RuPaul’s Drag Race“, die zuerst 2009 ausgestrahlt wurde und sich dann ab 2016 international verbreitete. In Deutschland zeigte zum Beispiel 2019 ProSieben erstmals „Queen of Drags“ mit Heidi Klum als Host, wofür es jedoch scharfe Kritik gab, weil Klum eine weiße, heterosexuelle Frau ist und nicht selbst der Drag Szene entstammt.

„RuPaul’s Drag Race“ wandelte sich vom Geheimtipp unter Queers zum Quotenerfolg, der auch im Mainstream heterosexuelle ZuschauerInnen begeistern konnte. Womit auch die Nachfrage nach Drag-Veranstaltungen stieg. Unter den Fans sind etliche heterosexuelle Frauen, von denen viele irgendwann – so ist der Lauf der Dinge – eine Familie gründen und Kinder zur Welt bringen. Ein Familienleben mit Kindern erschwert es jedoch erheblich, Zeit für durchtanzte Nächte im Club mit Drag Perfomance im Programm zu finden.

Einige Drag PerformerInnen sahen diese Marktlücke, und so gibt es seit einigen Jahren vermehrt Veranstaltungen, zu denen Drag Queens bei Tageslicht einladen – sei es zum Mimosa-Brunch oder eben zu Lesungen für Kinder. Bei Letzterem kamen Eltern nicht nur in den Genuss eines Hauchs von Subversion, sondern durften sich auch pädagogisch besonders progressiv fühlen. Wäre das Wort „Drag“ nicht in den Leseveranstaltungen für Kinder vorgekommen, hätten sie vermutlich kaum Angriffsfläche geboten – hätten aber auch nicht die Distinktionsbedürfnisse progressiver Eltern befriedigt.

Subversion und Kinder

Doch lassen sich Subversion und Kinderschutz oder gar auch einfach eine etwas glanzlose verbürgerlichte Familienwelt so einfach mit zufriedenstellenden Ergebnissen zusammenbringen? Und lässt sich Drag ohne Weiteres als kinderfreundliche Variante anbieten? Im Zeit-Artikel kritisiert Drag Queen Nina Queer, dass Drag sich zu sehr an den Mainstream angebiedert habe. Von diesen Entwicklungen sind auch die CSD-Paraden betroffen und so kritisiert Nina Queer weiter:

„Zwischenzeitlich waren wir so irre woke, dass jede Form von Fetisch auf dem Christopher Street Day öffentlich repräsentiert werden wollte. Wenn sich erwachsene Männer am helllichten Tage vor aller Öffentlichkeit auspeitschen lassen oder wie Hunde gegenseitig an den Arschlöchern beschnüffeln: Wer kann es konservativen Eltern verdenken, wenn sie ihre Kinder davor schützen wollen?“

Grenzen von Gegenkultur

Grenzziehungen oder Kritik an fehlender Sensibilität für die Kompatibilität von subversiver queerer Gegenkultur inklusive sexueller Konnotationen mit Kinderschutz, sind besonders von queerer Seite verpönt. Wer jedoch keine Grenzen ziehen kann oder will, gibt dabei auch pädosexuell motivierten Tätern allzu leichtes Spiel. Und bekommt entsprechende Vorwürfe nicht abgeräumt. Zwar es rein statistisch betrachtet wohl sicherer, ein Kind einer Drag Queen anzuvertrauen als einem katholischen Priester. Dennoch entsteht in einer Mélange aus mangelnder Reflektion über Grenzen, Verantwortung sowie der Ausweitung gesellschaftlicher Spielplätze und dem gleichzeitigen Anspruch, subversiv und „Underground“ sein zu wollen, etwas sichtlich Unrundes, was nicht funktioniert.

Wenn Eltern ihre Kinder zu offenen Menschen erziehen wollen, sollten sie dafür weder auf Drag-Lesungen noch auch den Besuch von CSD-Paraden angewiesen sein. Gleichgeschlechtliche Paare oder gender-nonkonforme Personen, die im alltäglichen Leben begegnen, können bei Bedarf bündig durch die Eltern eingeordnet werden. Und alles andere hat Zeit bis zur Volljährigkeit.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Aktivismus per Gericht? Wieder ein EuGH-Urteil mit schalem Beigeschmack

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat geurteilt, dass  EU-Mitgliedsstaaten eine gleichgeschlechtliche Ehe unter bestimmten Umständen anerkennen müssen. Auch wenn, wie im Fall des betroffenen Landes Polen auf nationaler keine rechtliche Möglichkeit zur Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare existiert. Die internationale Presse feierte das frenetisch als Fortschritt für homosexuelle Paare. Doch kann man gesellschaftlichen Fortschritt ausschließlich über Gerichte nachhaltig herbeiführen?

Zwei Männer küssen sich und halten ihre Hände.. Symbolbild für Artikel "Aktivismus per Gericht? Wieder ein EuGH-Urteil mit schalem Beigeschmack"
Gleichgeschlechtliche Paare können noch nicht in jedem EU-Land heiraten (Foto von Jessica Scalf auf Unsplash).

2. Dezember 2025 | Kurt Krickler

Am 25. November 2025 hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache C-713/23 entschieden, dass eine in einem EU-Mitgliedsstaat geschlossene gleichgeschlechtliche Ehe unter bestimmten Umständen überall in der EU anerkannt werden muss. Kläger waren zwei Polen – Jakub Cupriak-Trojan und Mateusz Trojan –, die lange in Deutschland gelebt und dort geheiratet hatten und ihren Familienstand nach Rückkehr in ihre Heimat in Polen anerkannt wissen wollten.

Das zuständige Gericht legte die Sache dem EuGH zur sogenannten Vorabentscheidung vor. Und dieser entschied im Sinne der Kläger, wobei er konkretisierte, dass ein betroffenes Paar im Aufnahmemitgliedsstaat „ein Familienleben entwickelt oder gefestigt haben“ und sein Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU in Anspruch nehmen muss. In einem solchen Fall müssen selbst jene Mitgliedsstaaten, die selber über keine Rechtsinstitute für gleichgeschlechtliche Paare verfügen (das sind ohnehin nur mehr Polen, Litauen, die Slowakei, Rumänien und Bulgarien), eine im EU-Ausland geschlossene gleichgeschlechtliche Ehe anerkennen und den Eheleuten dieselben Rechte gewähren, die verschiedengeschlechtliche Ehepaare im jeweiligen Land genießen.

Ehe- und Familienrecht fallen zwar unter die nationale Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedsstaaten, was der EuGH auch mehrfach in dem Urteil betont. Allerdings gibt es eben in der Praxis Überschneidungen mit EU-Recht, in dem Fall dem Recht der Unionsbürger/-innen, sich in der gesamten EU frei zu bewegen und aufzuhalten.

Kein Heiratstourismus

Es wird jedenfalls nicht reichen, dass etwa zwei Polen oder zwei Slowakinnen z. B. bloß für ein paar Tage nach Wien reisen (ohne sich in Österreich überhaupt niederzulassen), um hier zu heiraten und danach in ihrem Heimatland die Anerkennung ihres Ehestatus erfolgreich geltend machen zu können. In dem Fall kommt das Recht auf Freizügigkeit nämlich gar nicht zum Tragen.

Die praktische Bedeutung dieses Urteils wird sich daher ziemlich in Grenzen halten und wohl insgesamt nur ein paar Dutzend Paare betreffen. In dieser Hinsicht waren die internationalen Jubelmeldungen („historischer Sieg“ etc.), die überall in den (sozialen) Medien zu lesen waren, total übertrieben und irreführend. Offenbar haben weder Journalisten noch Politiker noch Aktivisten, die dazu gepostet bzw. darüber berichtet haben, das Urteil überhaupt gelesen bzw. dessen Inhalt verstanden. Derartige Unprofessionalität und Inkompetenz haben jedenfalls einmal mehr dazu geführt, dass sich im Internet Fake-News flächendeckend verbreiten.

Rumänien säumig

Das jetzige Urteil des EuGH ist im Prinzip eine „Weiterentwicklung“ seiner Rechtsprechung auf diesem Gebiet. Bereits 2018 hatte der EuGH in der Rechtssache C 673/16 entschieden, dass ein gleichgeschlechtlicher Ehepartner, der Drittstaatsangehöriger ist, für den Zweck der Freizügigkeit bzw. Niederlassungsfreiheit innerhalb der EU wie ein verschiedengeschlechtlicher Ehepartner eines EU-Bürgers zu behandeln ist. In dem Fall hätte Rumänien dem US-Ehemann eines rumänischen Staatsbürgers eine entsprechende Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erteilen müssen. „Hätte“ – denn Rumänien hat dieses Urteil nie umgesetzt! In den LAMBDA-Nachrichten 1/2018 habe ich ausführlich über den Fall berichtet.

Um die formale Anerkennung der Ehe bzw. die Gewährung aller Rechte, die Ehegatten nach nationalem Recht zustehen, ging es in dem Verfahren damals gar nicht, sondern eben nur um den unmittelbar aus EU-Recht abzuleitenden Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungs- und Beschäftigungsbewilligung für den Partner aus einem Drittstaat.

Dass der EuGH im aktuellen Fall die „Grenzen“ des EU-Rechts weiter verschiebt und ausdehnt und damit die Kompetenzen der Mitgliedsstaaten entsprechend beschneidet, indem er Polen zur Anerkennung einer im Ausland geschlossenen gleichgeschlechtlichen Ehe und damit zur Gewährung aller mit der Ehe verbundenen Rechte zwingt, sollte mich als Schwulenaktivisten zwar freuen, tut es aber – ehrlich gesagt – als skeptischen EU-Bürger nur eingeschränkt. Denn das Urteil kommt einer Einführung der Homo-Ehe durch die EU-Hintertür gleich – auch wenn es sich aufgrund der spezifischen Voraussetzungen nur um ein paar Einzelfälle handeln wird.

Durch die EU-Hintertür

Hier hat Brüssel bzw. Luxemburg den fünf erwähnten Mitgliedsstaaten quasi die Entscheidung über die Einführung der „Ehe für alle“ abgenommen, also in einem Rechtsbereich, wo die Zuständigkeit eigentlich eindeutig bei den Mitgliedsstaaten liegt. Schon in den LAMBDA-Nachrichten 1/2016 hatte ich Verständnis geäußert: Jedes nationale Parlament, das noch einen Funken Selbstachtung hat, wird sich gegen eine derartige Entmachtung durch Brüssel zur Wehr setzen. Diese EuGH-Entscheidung wird sicherlich wieder Wasser auf den Mühlen populistischer rechter EU-Gegner sein.

Das Argument des EuGH, die Nichtanerkennung der in Deutschland geschlossenen Ehe würde das Recht der beiden Kläger auf Freizügigkeit beschränken, ist nicht wirklich überzeugend, denn natürlich konnten die beiden polnischen Staatsbürger das Recht, in ihre Heimat zurückzukehren, uneingeschränkt in Anspruch nehmen, was sie ja auch getan haben. Dass man bestimmte, im bisherigen Wohnsitzland erworbene (landesspezifische) Rechte nicht unbedingt ins neue Wohnsitzland mitnehmen kann, betrifft nicht nur sie, sondern im Prinzip alle, die innerhalb der EU das Wohnsitzland wechseln und daher die jeweiligen Vor- und Nachteile abwägen müssen.

Im erwähnten LN-Artikel (und auch in den LN 2/2014) habe ich in dem Zusammenhang für eine redlichere Debatte plädiert und Beispiele genannt, wo solche Abwägungen ganz selbstverständlich getroffen werden und niemand ernsthaft erwarten würde, bestimmte Rechte einfach bei Übersiedlung in ein anderes EU-Land mitnehmen zu können.

Bleibt jedenfalls abzuwarten, ob und wie Polen diese Entscheidung umsetzen wird. Es gibt sicherlich „kreative“ Lösungen, wie man das Urteil unterlaufen könnte. Möglicherweise ist man aber eh froh, dass man sich auf Brüssel ausreden kann.

Man verstehe mich nicht falsch: Als jemand, der selber mehr als 20 Jahre lang an vorderster Front für die eingetragene Partnerschaft in Österreich gekämpft hat, verstehe ich die polnischen Lesben und Schwulen nur zu gut, dass auch sie endlich ein entsprechendes Rechtsinstitut haben möchten. Bloß: Das musste überall in der EU auf nationaler Ebene erkämpft werden – die EU ist dafür nicht zuständig. Und für die große Mehrheit der polnischen Lesben und Schwulen, die keine Möglichkeit haben, sich für einige Zeit im EU-Ausland niederzulassen, um dann dort zu heiraten, bevor sie wieder nach Polen zurückkehren, bleibt der Bewegung dieser Kampf sowieso nicht erspart – EuGH-Urteil hin oder her.

Wobei zu vermuten steht, dass die jetzige Entscheidung nur ein weiterer Schritt einer gezielten Salami-Taktik ist. Es wird interessant sein, ob und wie in weiteren Fällen der EuGH eventuell definieren wird, wie konkret ein „Familienleben entwickelt oder gefestigt“ sein muss. Reichen ein paar Wochen oder Monate Aufenthalt im Ausland aus, um ein solches Familienleben rechtlich zu etablieren? Zählen dann bereits vorherige Zeiten des Zusammenlebens im Herkunftsland (ohne Möglichkeit der Eheschließung), bevor man ins Ausland zieht, um zu heiraten? Und was ist mit Fernbeziehungen – wenn (etwa binationale) Paare getrennte Wohnsitze in verschiedenen Mitgliedsstaaten haben?

Das Urteil hat jedenfalls diesen schalen Beigeschmack, dass der EuGH hier mit seiner Auslegung reines Richterrecht spricht, was ich für sehr problematisch halte. Dass er gemeinsam mit der EU-Kommission danach trachtet, möglichst viele Zuständigkeiten von den Mitgliedsstaaten weg nach Brüssel zu ziehen, obwohl immer die größtmögliche Subsidiarität beteuert wird, ist an und für sich nichts Neues, sollte aber hinterfragt und diskutiert werden.

Vermutlich ist es auch nur eine Frage der Zeit, bis der EuGH auch besagte Hürde einer vorherigen Niederlassung im EU-Ausland beseitigen und eine einfache „Hochzeitsreise“ für ausreichend erachten wird, um den neuen Familienstand dann ins Heimatland transferieren zu können.

Polen ohnehin unter Zugzwang

Im aktuellen Fall ist es zumindest ein Trost, dass Polen im Dezember 2023 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der Beschwerde Nr. 11454/17 (Przybyszewska u. a. gegen Polen) ohnehin verurteilt wurde, weil eben keinerlei Form einer rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften im Land existiert. Polen muss daher aus diesem Grund Abhilfe schaffen.

Im Oktober 2024 hatte die neue polnische Mitte-links-Koalition unter Donald Tusk bereits einen ersten Entwurf für ein Gesetz über die eingetragene Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare vorgelegt. Dieser scheiterte allerdings im Parlament.

Im Oktober 2025 wurde schließlich ein ziemlich abgespeckter Gesetzesentwurf präsentiert, mit dem die Möglichkeit für individuelle Partnerschaftsverträge geschaffen werden soll, die sowohl gleich- als auch verschiedengeschlechtliche Paare beim Notar abschließen können. Dadurch erhofft man sich die Zustimmung des neuen rechtskonservativen Staatspräsidenten Karol Nawrocki, der über ein Vetorecht verfügt. Man wird sehen, welche Dynamik der EuGH-Entscheid hier auslösen wird.

Der Fall Emil R.

Viel brisanter als dieses Urteil ist allerdings ein anderes vom Oktober 2024, über das ich bereits in meinem Blog-Beitrag vom 11. Oktober 2025 berichtet habe: In der Rechtssache C-4/23 hat der EuGH entschieden, dass die Weigerung eines Mitgliedsstaats, die in einem anderen Mitgliedsstaat rechtmäßig erlangte Änderung des Vornamens und Geschlechts anzuerkennen, ebenfalls gegen das Recht der Unionsbürger/-innen verstößt, sich überall in der EU frei zu bewegen und aufzuhalten.

Konsequent umgesetzt, hieße dies, dass die subjektive Selbstbestimmung des eigenen Geschlechts (Self-ID) etwa nach dem deutschen Selbstbestimmungsgesetz in allen EU-Staaten durch die Hintertür und an den nationalen Parlamenten vorbei eingeführt werden müsste. Wie im besagten Beitrag berichtet, hat die Stadt Wien unter Hinweis auf dieses EuGH-Urteil im Fall der angeblich „non-binären“ Person Emil R. sogar eine deutsche Eintragungsoption übernommen, die es in Österreich dafür gar nicht gibt – und deshalb offenbar als Notlösung eine unrichtige Eintragung („divers“) vorgenommen.

Denn „divers“ ist in Österreich ausschließlich intersexuellen Personen vorbehalten, die dafür ein Fachgutachten vorlegen müssen, aus dem hervorgeht, dass ihr Geschlecht aufgrund ihrer chromosomalen, anatomischen und/oder hormonellen Entwicklung weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden kann.

Der Fall Waltraud/Walter P. hat deutlich vor Augen geführt, wie leicht es sogar in Österreich – auch ohne Selbstbestimmungsgesetz wie in Deutschland – ist, einen administrativen Geschlechtswechsel zu erwirken und welches Missbrauchspotential hier besteht. Nachdem dieser Fall publik wurde, gab es einen großen Aufschrei quer durch die gesamte Innenpolitik, die sich nun angeblich darum bemüht, den Missbrauch durch Waltraud/Walter P. wieder rückgängig zu machen und derartigen Missbrauch in Zukunft zu unterbinden.

Aber was hat das für einen Sinn, wenn auf der anderen Seite ganz legal ein Self-ID-Import (samt genau demselben Missbrauchspotential) aus Deutschland möglich ist und man dies seitens der österreichischen Politik einfach so hinnimmt? Die Hürde, den Wohnsitz für die Zeit des administrativen Geschlechtswechsels nach Deutschland verlegen zu müssen, ist ja nicht besonders hoch und abschreckend.

Diese Frage habe ich auch an den für Personenstandsangelegenheiten zuständigen Innenminister Gerhard Karner und an Europaministerin Claudia Plakolm gerichtet, aber bislang noch keine befriedigende bzw. endgültige Antwort bekommen. Aber ich bleibe dran.

Weltfremder EuGH

Vielleicht begreift der Innenminister ja irgendwann, dass die Regierungen der Mitgliedsstaaten endlich etwas gegen diese weltfremden und bizarren Entscheidungen des EuGH unternehmen müssen. Karner muss sich ja auch speziell im Asylbereich damit herumschlagen. So bestimmte der EuGH etwa, dass sich die Einstufung eines Drittstaats als sicherer Herkunftsstaat auf dessen gesamtes Hoheitsgebiet beziehen müsse (Rechtssache C-406/22) oder dass kein Staat in die Liste sicherer Herkunftsstaaten aufgenommen werden darf, der nicht seiner gesamten Bevölkerung einen ausreichenden Schutz bietet (verbundene Rechtssachen C-758/24 und C-759/24). Das heißt im Klartext, unter den knapp 200 Staaten der Welt gibt es dann vielleicht einmal ein Dutzend sicherer Drittstaaten: die Schweiz, Norwegen, Island, Kanada, Neuseeland und noch ein paar wenige andere.

Sicherlich gut gemeint, aber total verrückt ist auch das EuGH-Urteil in den Rechtssachen C-608/22 und C-609/22. Darin stellt der EuGH fest, dass davon auszugehen ist, dass afghanische Frauen generell und grundsätzlich Verfolgungshandlungen ausgesetzt sind und daher automatisch Anspruch auf Asylgewährung haben.

„Fun-Fact“: Diese EuGH-Entscheidung bedeutet in Verbindung mit dem deutschen Selbstbestimmungsgesetz, dass theoretisch und in letzter Konsequenz die gesamte Bevölkerung Afghanistans legal nach Deutschland übersiedeln könnte: Die weibliche Bevölkerung hat qua ihres Geschlechts und ihrer Herkunft automatisch Anrecht auf Flüchtlingsstatus, und die Männer können sich während des Asylverfahrens nach dem Selbstbestimmungsgesetz einfach zu Frauen erklären und haben dann ebenfalls aus diesem Titel heraus Anspruch auf Asyl.

Man muss sich wirklich ernsthaft Sorgen um die EU machen. Und die Frage drängt sich auf, in welchen abgehobenen Sphären sich die EuGH-Richter/-innen eigentlich bewegen – offenbar haben sie völlig den Kontakt zur Realität verloren. Fühlen sie sich als Parallel-Gesetzgeber, der seine eigene (Gesellschafts-)Politik betreibt – bzw. meint, die aktivistische Politik der EU-Kommission unterstützen zu müssen?

Immerhin werden diese Musterprozesse mit den Subventionen der EU-Kommission an einschlägige NGOs wie die ILGA-Europa finanziert. Kapieren sie nicht, wie sie die EU mit solchen Entscheidungen spalten? Effektiver kann man der FPÖ, der AfD, Le Pen, Fico, Orbán und Kaczyński und den anderen rechten Parteien die Wähler/-innen wohl nicht zutreiben! Oder ist genau das ihre versteckte Agenda? Oder sind sie Agenten und fünfte Kolonne Putins, der die EU bekanntlich ganz zerstören will?

Redaktioneller Hinweis: Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 27. November 2025 im persönlichen Blog Kurt Kricklers.


Kurt Krickler ist Vorstandsmitglied im Gründungsvorstand von Athena Forum, der neuen Europäischen Denkfabrik für Schutz und Förderung geschlechtsbasierter Rechte. Als Veteran der österreichischen Schwulenbewegung ist er Mitbegründer und war bis 2018 ehrenamtlicher Mitarbeiter der Homosexuellen Initiative (HOSI) Wien. Auch die Österreichische AIDS-Hilfe (ÖAH) hat Krickler mitaufgebaut. Ebenso war er seit den 1980er Jahren international für die Rechte von LGBT aktiv, insbesondere in der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA).


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Pädo-Skandal: Ralf Dose und seine Verstrickungen mit Helmut Kentler

Bislang aufgearbeitete Aktivitäten des pädo-sexuellen Aktivisten und prominenten Sexualaufklärers Helmut Kentler offenbaren ein pädo-aktivistisches Netzwerk über das ganze Gebiet der Bundesrepublik. Auch Ralf Dose, Erziehungswissenschaftler und langjähriger Geschäftsführer der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, gehörte dazu. Nach seinem Rücktritt im Februar 2025 hat die MHG nun einen Untersuchungsbericht zu Doses Pädo-Aktivismus in Auftrag gegeben.

ein Junge sitzt auf einer Halbkugel und wirkt leidend. Symbolbild für Artikel "Pädo-Skandal: Ralf Dose und seine Verstrickungen mit Helmut Kentler".
Sexuelle Gewalt prägt Kinder und Jugendliche für den Rest ihres Lebens (Bild von freepik).

26. November 2025 | Till Randolf Amelung

Die Hannoversche Allgemeine Zeitung hat eine neue Podcast-Serie gestartet: „Kentler – Missbrauch mit System“ beschäftigt sich im Stile von „True Crime“-Formaten mit dem Leben und Wirken des einstigen Professors für die Ausbildung von Berufsschullehrern für Sonderpädagogik an der Leibniz-Universität Hannover. Dieser machte 2015 posthum Schlagzeilen, als sein ab Ende der 1960er Jahre zusammen mit dem Berliner Jugendamt betriebenes Experiment der Vermittlung von verhaltensauffälligen Jungen an pädo-sexuelle Pflegeväter offenbar wurde. Schon zu Lebzeiten war der offen homosexuelle Kentler in der Bundesrepublik vor allem ein bekannter Vertreter einer sich als emanzipatorisch verstehenden Sexualaufklärung. In seinem Werk befürwortete er jedoch auch sexuelle Handlungen von Erwachsenen mit Minderjährigen.

Kentler-Podcast nur in Teilen frei zugänglich

In mehreren Folgen, von denen nur die ersten beiden ohne HAZ-Abo zugänglich sind, gehen die JournalistInnen Jutta Rinas und Rolf Rosenstock der Frage nach, warum Kentler jahrzehntelang unbehelligt blieb. Kentler, der 2008 in Hannover verstarb, wurde zu Lebzeiten nie für sein Experiment zur Rechenschaft gezogen. Stattdessen war er von 1976 bis 1996 als Professor an der Leibniz-Universität tätig und bis zu seinem Tod ein geachtetes Mitglied der Hannoveraner Gesellschaft.

Für die beiden Hosts Rinas und Rosenstock ist der Fall Kentler

„einer der größten Wissenschaftsskandale der vergangenen Jahrzehnte. Denn die Wissenschaft scherte sich zu Lebzeiten Kentlers nicht darum, was einer aus ihren Reihen für zweifelhaftes Gedankengut verbreitete. Kentler wurde von Hochschulkollegen sogar gegen Proteste von Feministinnen verteidigt.“

Pikant ist zudem, dass Kentler, wie man heute weiß, für die Berufung auf die Professur eigentlich nicht die üblichen wissenschaftlichen Qualifikationen mitbrachte. Der Podcast will auch thematisieren, dass Kentler nicht allein agierte, sondern Teil eines pädo-kriminellen Netzwerks war.

Pädo-Aktivismus in Reformpädagogik und linker Politik

Seit der Aufdeckung von Kindesmissbrauch sowie politischer Unterstützung pädo-sexueller Forderungen in reformpädagogischen Institutionen wie der Odenwaldschule und politisch linksprogressiven Kreisen wie der Partei Bündnis 90/Die Grünen, kam sukzessive ein Netzwerk ans Licht, was auch schwulenbewegte Kreise miteinschließt. Ein Name tauchte dabei immer wieder prominent auf: Helmut Kentler.

Untersuchungen ab 2013, zuerst vom Institut für Demokratieforschung der Universität Göttingen und anschließend dem Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim, zeigten personelle und inhaltliche Zusammenhänge auf. Besonders schockierte die Öffentlichkeit das Experiment Kentlers, was er Ende der 1960er Jahre in Zusammenarbeit mit dem Berliner Jugendamt durchgeführt hatte und noch bis in die 2000er Jahre hinein betrieben wurde.

Untersuchungsbericht der Uni Hannover

Auch die Leibniz-Universität Hannover gab eine Untersuchung zum Wirken ihres ehemaligen Professors in Auftrag, die von der damals noch an der Universität Göttingen tätigen Politikwissenschaftlerin Teresa Nentwig durchgeführt wurde. 2019 wurden die Ergebnisse vorgelegt und geben im Vergleich zum sensationsheischenden und in Teilen auch oberflächlichen HAZ-Podcast einen detaillierten sowie auch nüchternen Einblick.

Die Lektüre von Nentwigs Untersuchungsergebnisse lohnt immer noch, zumal einige der dort genannten Personen aus seinem wissenschaftlichen Netzwerk heute noch leben. Eine für die IQN bemerkenswerte Personalie, die in diesem Bericht auftaucht, ist Ralf Dose, der bis Februar 2025 Geschäftsführer der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft war und als profilierter Experte für Historisches in Bezug auf Homosexualität gilt. Laut Eigenbeschreibung widmet diese Gesellschaft „ihre Arbeit der Erforschung der Geschichte des Instituts für Sexualwissenschaft, der Geschichte der Sexualwissenschaft und der Sexualreformbewegung allgemein, sowie der Forderung nach der Etablierung von Geschlechter- und Sexualforschung an einer Berliner Universität“. Neben der Forschungsstelle betreibt sie auch ein Archiv.

Kein E2H-Haus mit Pädo-Aktivismus

Daher gehörte die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft zum Kreis der Einrichtungen, mit der die IQN das Elberskirchen-Hirschfeld-Haus gründen wollte, um auch alle queeren Archive im Geiste des von Magnus Hirschfeld begründeten und von den Nazis zerstörten Instituts für Sexualwissenschaft unter einem Dach zu vereinen. Unser Konzept war aber nicht nur eine schnöde Aufbewahrungsstätte, sondern wollte auch ein Ort für Forschung, Kultur und Begegnung sein. Für dieses Projekt hätten wir vom damaligen Kultursenator Klaus Lederer alles in allem 23 Millionen bekommen können. Doch 2021 stiegen alle Archive aus, darunter auch die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft. Stattdessen bemühen sich seither drei der Archive – die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Spinnboden Lesbenarchiv und das feministische Archiv FFBIZ – um ein gemeinsames Archivhaus auf dem sogenannten „Vollgut“-Areal im Neuköllner Rollbergkiez.

Wir von IQN halten nach wie vor am Ideal eines Ortes fest, der Forschung, Aufklärung, Kultur und Begegnung zu sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten unter einem Dach ermöglicht. Doch angesichts der aktenkundigen Verstrickungen Ralf Doses in das pädo-sexuelle Netzwerk Helmut Kentlers sind wir im Nachhinein froh, dass es nicht mit einer solch belasteten Personalie zum Erfolg dieses E2H-Projekts gekommen ist.

Ralf Dose als Pädo-Aktivist

Im Untersuchungsbericht von Nentwig ist dokumentiert, dass Dose nicht nur über mehrere Jahre als Lehrbeauftragter an Kentlers Lehrstuhl das Seminar „Einführung in die Sexualpädagogik“ angeboten hat. Beide hatten auch in aktivistischen Zusammenhängen miteinander zu tun, insbesondere im Arbeitskreis humane Sexualität (ahs). Wie in Nentwigs Bericht nachzulesen steht, war die ahs „im Jahr 1982 ‚mit einem breiteren sexualpolitischen Profil‘ gegründet worden“ diese „verengte ihre Agenda aber rasch auf die Vertretung pädophiler Interessen.“

Doses Positionen werden im Bericht wie folgt skizziert:

„Dose, Aktivist der Westberliner Schwulenbewegung, lässt sich als Anhänger eines tabulosen Umgangs mit Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern bezeichnen. Er sprach sich beispielsweise 1979 dafür aus, Grundschulkindern beizubringen, ‚daß sexuelle Kontakte mit Erwachsenen eine tolle Erfahrung sind und Spaß machen können […]. Aber diese Stunde gibt es noch nicht. Sie muß noch gemacht werden und vor allem: sie muß auch in der Schule gehalten werden können, ohne daß die Lehrerin bzw. der Lehrer damit zum letzten Mal unterrichtet hat.‘ Der langjährige Vorsitzende der GFSS Rolf Gindorf zählte Dose 1983 gar zu den ‚Vertreter[n] der Pädophilen‘ in der ‚Arbeitsgemeinschaft humane Sexualität‘ (ahs).“

Im Februar 2025 musste Ralf Dose als Geschäftsführer der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft zurücktreten, wie es in einer Stellungnahme auf deren Website heißt. „Wir distanzieren uns entschieden von allen Formen sexueller, insbesondere pädo-sexueller Gewalt und deren Verharmlosung“, so das Statement weiter.  Außerdem wurde bekannt gegeben, dass die MHG einen Untersuchungsbericht zum Wirken Doses in Bezug auf sein Wirken in der Arbeitsgemeinschaft humane Sexualität und im pädo-aktivistischen Diskurs beauftragt habe. Die Ergebnisse sollen Ende 2025 vorliegen. Auf der Website wird Ralf Dose indes weiter als Mitarbeiter der MHG geführt, allerdings ohne Nennung konkreter Zuständigkeitsbereiche (Stand 24.11.2025).

Ziemlich sicher bleibt Dose nicht der letzte Fall, wo sich biografisch Verstrickungen mit Propagandisten von Pädo-Sexualität auftun. So manches ist unter dem Deckmantel der Emanzipation lanciert worden, aber bis heute sind diese inhaltlichen Bezüge unaufgearbeitet geblieben. Queere Kreise täten gut daran, sehr gründlich zu untersuchen, welche Personen und Konzepte eine rein von erwachsenen und aktivistisch-ideologischen Interessen geleitete Perspektive auf kindliche Sexualitäts- aber auch Identitätsentwicklung vermitteln und damit letztlich Schaden anrichten. Ein notwendiges Untersuchungsfeld müsste die queere Pädagogik der Vielfalt sein, die in Teilen auf Kentler zurückgeht.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Transgender Day of Remembrance 2025: Zwischen schamloser Übertreibung und Ignoranz

Der Transgender Day of Remembrance (TDoR) hat sich auch in Deutschland fest in der Landschaft aktivistischer Aktions- und Gedenktage etabliert. Obwohl die Zahlen der dokumentierten Morde im Vergleich zum Vorjahr gesunken sind, wollen Transverbände darin nichts Positives erkennen.

Ein angezündetes Teelicht wird in der Dunkelheit von zwei HÄnden gehalten. Symbolbild für Artikel "Transgender Day of Remembrance: Zwischen schamloser Übertreibung und Ignoranz".
Transgender Day of Remembrance und Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen: Gedenken an Opfer steht im Fokus (Foto von Prateek Gautam auf Unsplash).

22. November 2025 | Till Randolf Amelung

Jedes Jahr am 20. November wird in vielen Ländern zum Transgender Day of Remembrance (TDoR) der gewaltsam zu Tode gekommenen Transpersonen gedacht. Auch in Deutschland gibt es an zahlreichen Orten Veranstaltungen, etwa Gedenkmärsche, Fahnenhissungen an Rathäusern und anderweitige Zusammenkünfte. Traditionell veröffentlicht die Lobbyorganisation Transgender Europe (TGEU) zu diesem Anlass die aktuellen Zahlen ihres „Trans Murder Monitoring“, mit dem weltweit Morde an Transpersonen dokumentiert werden. Zwischen dem 1. Oktober 2024 und dem 30. September 2025 wurden laut TGEU 281 Transgender-Personen und geschlechtsdiverse Menschen als ermordet gemeldet – 69 Personen weniger als im vergangenen Jahr. Seit dem Start des Monitoring-Projekts im Jahr 2009 wurden bis heute insgesamt rund 5.322 ermordete Transpersonen dokumentiert.

Für 2025 gibt TGEU unter anderem folgende Details zu den Todesfällen bekannt:

  • Mit 34 Prozent sind in der Prostitution tätige Transpersonen nach wie vor die am stärksten betroffene Gruppe.
  • Es ist ein deutlicher Anstieg der Morde an Aktivisten zu verzeichnen, die in diesem Jahr mit 14 Prozent der Fälle (gegenüber 9 Prozent im Jahr 2024) die am zweithäufigsten betroffene Gruppe darstellen.
  • 68 Prozent der Morde ereigneten sich in Lateinamerika und der Karibik; Brasilien führt die Liste mit 30 Prozent aller Fälle zum 18. Mal in Folge an.
  • In Europa wurden fünf Fälle gemeldet, gegenüber acht Fällen im Jahr 2024.
  • In den Vereinigten Staaten wurden 31 Fälle gemeldet, gegenüber 41 im Jahr 2024.

Transverbände sehen am Transgender Day of Remembrance Krise

In einer Pressemitteilung des Bundesverband Trans* heißt es dazu:

„Gewalt gegen trans*, nicht-binäre und gender-nonkonforme Personen ist kein gesellschaftliches Randphänomen, sondern Ausdruck einer globalen Krise der Menschenrechte.“

Auch die BundessprecherInnen von Die Linke queer, Maja Tegeler und Frank Laubenburg, beziehen Stellung:

„Wir erinnern heute an die anhaltende Bedrohung, der trans und nicht-binäre Menschen auch in Deutschland ausgesetzt sind. Trotz politischer Fortschritte bleibt transfeindliche Gewalt ein schwerwiegendes, aber weiterhin unzureichend erfasstes Problem.“

Die Deutsche Gesellschaft für Trans*- und Inter*geschlechtlichkeit e.V. (dgti) misstraut den gesunkenen Zahlen:

„Es ist unwahrscheinlich, dass die Opferzahlen tatsächlich gesunken sind, besonders in den USA oder Brasilien. Eine veränderte Medienlandschaft, Druck von Regierungen auf Medien oder eine fehlende, nicht trans* sensible Berichterstattung können die Sichtbarkeit solcher Taten verringern. Diese Zahlen zeigen nur einen Teil der Realität. Opfer nicht tödlicher Gewalt fehlen in der Statistik. Suizide infolge eines extrem trans* feindlichen Umfelds oder mangelnder affirmativer Unterstützung werden ebenfalls nicht erfasst.“

Verrutschte Relationen

Zur Einordnung: Jedes Opfer ist zu beklagen. Schaut man sich die Zahlen an, stellt sich jedoch die Frage, ob die Formulierungen „Krise der Menschenrechte“ oder „anhaltende Bedrohung“ zumindest für Deutschland und Europa nicht ein wenig zu dick aufgetragen sind. Zumal die Zahl der dokumentierten Fälle offenbar gesunken ist. Zum Vergleich: Wie die „Tagesschau“ berichtete, veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) anlässlich des bevorstehenden Internationale Tags gegen Gewalt an Frauen am 25. November eine Studie, laut der „mehr als 30 Prozent aller Frauen weltweit im Lauf ihres Lebens Gewalt erfahren. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht von 840 Millionen Opfern aus.“ Wenn sich etwas für eine „Krise der Menschenrechte“ qualifiziert, dann dies.

Die Bild-Zeitung hat deshalb am vergangenen Donnerstag eine Kampagne gestartet und einen Ticker auf ihrer Website platziert, dem zufolge alle 68 Sekunden eine Frau in Deutschland Gewalt erfährt. Bild-Chefredakteurin Marion Horn schreibt in ihrem Kommentar zur Aktion:

„Aber wir diskutieren lieber über Gendersternchen und Regenbogenfahnen, statt darüber, was passieren muss, damit es nicht fast täglich einen Femizid gibt, also eine Frau getötet wird, weil sie eine Frau ist.“

Viele Ermordete in der Prostitution

Ins Leben gerufen wurde der TDoR 1998 von Transaktivisten in den USA, als Reaktion auf den Mord an der afroamerikanischen Transfrau Rita Hester, da dieser kaum Reaktionen in der Öffentlichkeit auslöste. Der Gedenktag hat sich seither international im Kalender der Mahn- und Erinnerungstage etabliert. Zusammen mit dem „Trans Murder Monitoring“ ist dem Transaktivismus hier eine Kombination von Aktionsformen gelungen, die ideale Trägermedien für Anliegen in die breitere Öffentlichkeit sind.

Doch nicht nur eine überzogen wirkende Darstellung ist ein Problem an dieser Aktion, sondern auch ein inkonsequenter Umgang mit den Daten – dies fällt vor allem beim Thema „Prostitution“ auf. Obwohl Transpersonen in der Prostitution in den Daten des „Trans Murder Monitoring“ die stärkste Betroffenengruppe sind, verbreiten queere Verbände lieber das Märchen von „Häppy Sexwörk“ – also Prostitution als rein selbst bestimmter Arbeit wie jede andere auch. Dabei ist gerade dieser Bereich von hoher Gewalt gekennzeichnet. Zumeist ist Prostitution in der Hand der organisierten Kriminalität, die sich für den Profit nicht um das Wohlergehen der Frauen schert. Auch von vielen Freiern geht Gewalt aus.

Für viele Frauen und auch Transpersonen, die in der Prostitution landen, passiert dies in erster Linie aus einem Mangel an anderen Perspektiven. Prostitution fördert kein Menschenbild, in dem man sich als gleichwertig begegnet. Doch eine Kritik am System „Prostitution“ ist in queeren und damit auch in transaktivistischen Kreisen verpönt. Statt also die Tonlage zu dramatisch aufzudrehen, wäre den Opfern mit einer ehrlicheren Analyse, aus der angemessene Schlüsse zu ziehen sind, mehr geholfen. Solange das nicht passiert, kann man sich das Flaggenhissen und Kerzenanzünden auch sparen.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Trans und Journalisten – eine Medienkritik

In den vergangenen Jahren berichteten Medien oft unkritisch über Anliegen des Transaktivismus wie das Selbstbestimmungsgesetz oder Transitionen von Kindern und Jugendlichen. Das liegt womöglich nicht nur an erfolgreichen Transaktivistas, sondern auch an spezifischen Eigenschaften des Themas „Trans“. Eine Medienkritik.

Demonstration für Transrechte, eine Transflagge wird hochgehalten, auf einem Schild steht "Trans Rights". Symbolbild für Artikel "Trans und Journalisten – eine Medienkritik"
AktivistInnen auf einer Demo für Transrechte. JournalistInnen sollten jedoch zwischen Beruf und Aktivismus trennen können (Foto von Patrick Perkins auf Unsplash).

19. November 2025 | Jan Feddersen

Die Titelgeschichte des aktuellen Spiegel ist von erheblicher Klarheit, was das gewählte Thema anbetrifft: Verengte Meinungskorridore, verhinderte Pluralitäten, irgendwie Cancel Culture in der ARD und in diesem Fall speziell der NDR. Meine Lieblingspassage im Haupttext findet sich im Mittelteil, sie sei hier ausführlicher zitiert:

„Im Sommer 2023 wird in der ARD darüber diskutiert, eine Dokumentation über die steigende Zahl von Jugendlichen zu drehen, die sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren. An der Schalte nehmen unter anderem [Thomas] Berbner  teil, Julia Ruhs  und ein Redakteur des Bayerischen Rundfunks. Die Idee ist, sich in dem Film mit den Risiken auseinanderzusetzen, die es mit sich bringt, die sogenannte Geschlechtsdysphorie schon in jungen Jahren mit Hormonen oder gar chirurgischen Eingriffen zu behandeln.

Es ist ein Thema, das politisch und emotional enorm aufgeladen ist und viele Menschen bewegt. Zum Ärger von Berbner und Ruhs wird die Idee in den ARD-Gremien abgelehnt. Berbner hat das Gefühl, dass er mit seinen Vorschlägen zunehmend in »Wände aus Gummi« läuft, wie er es gegenüber Kollegen formuliert.“

Misere in fast allen Medien

Diese kleine Skizze markiert die Misere unserer öffentlich-rechtlichen Medien. Und nicht nur dieser: Auch Zeitungen wie die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Rundschau und auch meine Zeitung, die taz, sind betroffen. Es geht um die fehlende Bereitschaft, transkritische, vor allem transmedizinkritische Perspektiven aufzugreifen und ernst zu nehmen. So sagen es Experten, wie der Transmann Till Randolf Amelung, viele klassische Feministinnen wie Alice Schwarzer und Chantal Louis oder die lesbische Bürgerrechtlerin Monika Barz.

Stattdessen fast ausschließlich positive Beiträge über Transmenschen gerade im jugendlichen Alter, die außerdem mit Hilfe von alliierten MedizinerInnen auf pharmakologische Mittel zurückgreifen (wollen), um die sogenannte Transition ins Werk zu setzen. Oder auch ohne chemische Helferlein: Per Selbsterklärung, was gesetzmäßig wäre, sich ins andere (oder gar kein) Geschlecht zu versetzen.

Was das oben zitierte Stück aus dem Spiegel auch nahelegt: Dass transkritischer Journalismus als „rechts“, „transphob“ und „AfD-nah“ gegeißelt wird. Die Progressiven, so vermitteln es beinah alle Medienbeiträge, sind sich in puncto Gender & Trans einig – wer dies nicht unterstützt, kann nicht progressiv sein, sondern, eben, rechts, AfD-nah und daher politisch nicht ernst zu nehmen.

Aufräumen in der BBC

Eine Entwicklung wie in Großbritannien steht in Deutschland noch aus: Seit einem jüngst veröffentlichten Untersuchungsbericht zu falsch gewichteter Berichterstattung bei der dortigen Sendeanstalt BBC wird in dieser offenbar tüchtig aufgeräumt. Der Spiegel hat hierzu in der gleichen Ausgabe zum selben Schwerpunkt einen Text veröffentlicht. In diesem Bericht ist viel vom US-Präsidenten und einer verzerrt geschnittenen Reportage, aber nicht von den weiteren Punkten die Rede, die der Prescott-Bericht moniert: die Israel während des Kampfes gegen die Hamas-Terrorgruppe in Gaza dämonisierenden Beiträge sowie der gesamte Komplex zu Gender und Transfragen.

In deutschen Medien wie in der Online-Plattform der „Tagesschau“ ist eben nur von Trump die Rede – womit der Fall klar zu sein scheint: Der Populist gehe gegen die tapfere BBC vor. Der Bericht meines klugen Kollegen Daniel Zylbersztajn-Lewandowski kann dies gegen die Macht des Nachrichtenflaggschiffs der ARD kaum wettmachen. Der im „Tagesschau“-Beitrag vermittelte Eindruck ist so oder so falsch: Dass Trump und die Seinen gegen die BBC überhaupt juristisch tragfähig vorgehen können, liegt eben an einem Journalismus mit Unwucht, an unfairer bis ungenauer Berichterstattung.

In Großbritannien hat es erste Rücktritte seit dem Prescott-Bericht gegeben, auch die LGBT*-Prüfstelle am Nachrichtendesk der BBC steht offenbar kurz vor der Auflösung. Das heißt: Diese queeraktivistischen JournalistInnen können ihnen missliebige (also etwa Pubertätsblocker bei Jugendlichen kritisierende) Berichte nicht mehr verhindern.

Medienkritik in Deutschland fehlt

In Deutschland steht diese Entwicklung noch aus: Eine umfassende mediale Selbstkritik an einem Journalismus, der nicht kritisch prüft, sondern nur aktivistische Stimmen gelten lässt. Ebenso bleibt eine nötige Revision des Selbstbestimmungsgesetzes offen, das die Geschlechtsidentität per Selbsterklärung ermöglicht – ohne Prüfung der Umstände einer Transition. Es fehlt zu einer Gesetzesreform aber der öffentliche Druck, den es nicht geben kann, weil die entsprechend reflektierenden und kritischen Berichte gar nicht erst publiziert werden können.

Transaktivismuskritische Stimmen fanden in den vergangenen 20 Jahren mithin nur selten Gehör in den öffentlich-rechtlichen Medien. Ich frage mich: Woran lag es, dass von Grünen, SPD, FDP, Linkspartei und bis weit in die konservative Union hinein, niemand sich traut(e), sich mit dem Thema Trans überhaupt gründlich auseinanderzusetzen? Warum feierten alle vor einem Jahr ein Gesetz, bei dem seitens der damaligen Regierungsparteien SPD, FDP und Grüne niemand eine Rechtsfolgenabschätzung vornehmen wollte? Weshalb wurde ein Gesetz gutgeheißen, das – ausweislich aller aktuellen Studien aus den USA, Schweden, Finnland und Großbritannien – eine Gefährdung Minderjähriger in sich trägt?

Warum wurden kritische Stimmen in den Medien so gut wie nie wahrgenommen – bzw. diese gleich die AfD-Ecke geschoben? Aus welchen Gründen wurde der wahre Meilenstein bundesdeutscher Sittlichkeitsveränderung, die 2017 vom Bundestag beschlossene Ehe für alle, nie so recht gefeiert?  War vielen meiner BerufskollegInnen das ganze Projekt etwa zu spießig, zu vormodern, zu sehr heteronormativ, wie sie sagen würden?

Ehe für Alle zu unspektakulär?

Wesentlich, so meine These, ist hierfür, dass die Ehe für alle lediglich homosexuellen Paaren etwas brachte. Das Selbstbestimmungsgesetz hingegen trug die Möglichkeit in sich, die persönliche Welt aus den Angeln zu haben, einen Geschlechtswechsel, einen Identitätsswitch nach Gusto. Die meisten JournalistInnen aus dem politischen Bereich scheuten damals das Thema und wichen auch beim Selbstbestimmungsgesetz zurück: zu kompliziert, zu verworren, zu viel Ärger mit den Translobbygruppen. Den Komplex überließen sie den Jüngeren in den Redaktionen, die in ihren Bubbles tüchtig ermuntert wurden.

Dass die Transfrage, im Kern eine Frucht der esoterisch anmutenden Dekonstruktion des Geschlechterbegriffs durch Judith Butler, letztlich zu einer linken Identitätsfrage wurde, lag auch daran, dass die traditionelle Linke in den vergangenen drei Generationen kaum etwas zu den sozialen Fragen (Wohnungen, Lebenshaltungskosten, Löhne etc.) zuwege gebracht hatte. Der Nachwuchs, meist aus mittelschichtigen Familien, hielt Identitätsfragen für wichtiger. Auch wegen dieses Nachwuchses und seiner Transagenda hat Trump gewonnen – und kann jetzt entsprechend disruptiv den amerikanischen Rechtsstaat aushebeln.

Aktivismus statt Journalismus

Abermals gefragt: Worin liegt die Tendenz journalistischer Milieus geborgen, dass etwa bei der Transfrage (aber auch zu den Themen Klima, Flüchtlinge, Rassismus) so häufig die Informationen ungefiltert aus aktivistischen Kreisen kommen – und so gut wie unbearbeitet weitergetragen werden? Warum wird alles geglaubt – etwa, dass die Suizidrate von jugendlichen GeschlechtsdysphorikerInnen stiege, ließe man sie nicht in eine pharmakologische Transition mit Pubertätsblockern und entsprechenden Hormongaben?

Weil Journalismus, so meine These, anders als vor 50 Jahren eine Neigung zur Emotionalisierung zu entwickeln hat, und dies gepaart mit Opferismus, also der Haltung, erstmal allen Opferklagen zu trauen. Weil Emotionen immer mehr zu zählen scheinen als harte Faktenanalyse. Weil man mit Emotionalitäten mehr Gefolgschaft in den Sozialen Medien organisiert als mit kühl abwägenden Texten und Filmen.

Außerdem fühlen sich gerade öffentlich-rechtliche Medien einer gesellschaftlichen Sphäre verpflichtet, die man als besser gebildet, dünkelhafter, politisch interessierter verstehen kann.  Aktivistisch von oben herab argumentieren nun gerade die jungen KollegInnen, es käme doch „auf die Menschen an“. Ich würde sagen: Es kommt auf die Fakten an. In Sachen Trans lässt sich faktenbasiert sagen: Der psychoesoterische Ansatz, allen geschlechtsdysphorischen Minderjährigen zu glauben, dass sie trans sind, ist gescheitert. Überall ist dies öffentlich-rechtlich vermittelt – nur nicht in Deutschland.

All dies zusammengenommen heißt das: Journalismus, der auf Aktivismus setzt, der selbst aus diesem Aktivismus entstammt, ist keiner. Mehr noch: Er schadet der Glaubwürdigkeit jener gesellschaftlichen Sphäre, die als „Vierte Gewalt“ positiv stilisiert wird. Transfragen haben zur Polarisierung der gesellschaftlichen Debatten beigetragen, nicht weniger als die Top-Down-verordnete Gendersprache, die auf erheblichen Widerstand jenseits der bildungsbürgerlichen Mediensphären stößt. Wer glaubt, eine nötige Umjustierung des aktivistischen Journalismus im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen diene nur den Rechten, verkennt, dass der Schwindel um aktivistische Fake News längst aufgeflogen ist. Er schadet der Linken, nicht der Rechten.


Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Trans: Wenn Öffentlich-Rechtliche Medien sich mit Aktivisten gemein machen

In Großbritannien warf ein Untersuchungsbericht der öffentlich-rechtlichen BBC vor, dass ihre Berichterstattung zu bestimmten Themen verzerrt sei – darunter auch zu Genderfragen, also zum Thema „Trans“. Dem Publikum wurden kritische Aspekte rund um dieses Themenfeld oft vorenthalten. Wie ein aktueller Spiegel-Artikel zeigt, ist die BBC keine Ausnahme. Auch in Deutschland fehlt den öffentlich-rechtlichen Medien ein angemessen differenzierter journalistischer Umgang mit „Trans“.

Screenshot von BBC News, Symbolbild für Artikel "Trans: Wenn Öffentlich-Rechtliche Medien sich mit Aktivisten gemein machen"
Blick in das Nachrichtenstudio der BBC: Hier wurde oft zu einseitig über „Trans“ berichtet (Foto von ThisisEngineering auf Unsplash).

15. November 2025 | Till Randolf Amelung

Anfang November machte ein geleakter Untersuchungsbericht der BBC, verfasst vom unabhängigen Berater Michael Prescott, Schlagzeilen. Die Vorwürfe gegen das britische Pendant des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wogen schwer: Berichterstattung zu bestimmten Themen sei verzerrt worden – d.h. unangemessen einseitig ausgefallen. Betroffen sei laut Bericht insbesondere Berichterstattung zu US-Präsident Donald Trump, dem Gaza-Krieg und zur Transfrage. Als Konsequenz aus diesen Vorwürfen traten in der BBC Generaldirektor Tim Davie, und Deborah Turness, die Leiterin von BBC News, von ihren Posten zurück.

Negative Aspekte zu Trans weggelassen

Speziell zum Thema „Trans“ beschrieb Prescott gegenüber der konservativen Tageszeitung The Telegraph die Lage in der BBC so:

„Die Geschichte, die mir jede Person erzählte, klang effektiv nach einer Zensur durch die Fachredaktion für LGBTIQ-Themen innerhalb der Nachrichtenredaktion.“

Außerdem bemerkte er selbst beim Anschauen der Beiträge folgendes:

„Mir ist aufgefallen, dass Berichte, die schwierige Fragen zur Transgender-Agenda aufwarfen, von der BBC nicht behandelt wurden – selbst, wenn sie anderswo ausführlich behandelt wurden.“

Ein Beispiel für ignorierte Entwicklungen rund um „Trans“, sind die Leaks aus einem internen Austauschforum der World Professional Association for Transgender Health im März 2024. Diese Leaks offenbarten schwerwiegende Mängel hinsichtlich der Qualität der Betreuung von Kindern mit Geschlechtsidentitätsstörungen und wie riskant experimentell der affirmative Ansatz mit Pubertätsblockern eigentlich ist.

Kein Cass-Report in der ARD

Doch die BBC ist mit solch einer Voreingenommenheit bei der Transfrage kein Einzelfall. Auch in Deutschland gibt es bei diesem Thema eine seltsame Schlagseite in den Medien mit insgesamt linksliberaler Ausrichtung, vor allem bei ARD und ZDF. Während die BBC beispielsweise immerhin noch über die bahnbrechende Bedeutung des Cass-Reports berichtete, der schließlich der Pubertätsblockade – faktisch eine chemische Kastration – als Mittel der ersten Wahl ein Ende setzte, suchte man Berichte beispielsweise in der deutschen ARD vergeblich.

Die weitgehende Vermeidung negativer Aspekte beim Thema „Transkinder“ in deutschen öffentlich-rechtlichen Medienanstalten ist kein Hirngespinst rechtspopulistischer Kreise, wie nun ein Beitrag im aktuellen Spiegel aufzeigt. Dieser Text beschäftigt sich mit dem Eklat um die Absetzung der Journalistin Julia Ruhs vom kontrovers diskutierten Format „Klar“. Teil der Entstehungsgeschichte dieses Formats im NDR ist laut Spiegel folgende Erfahrung des „Klar“-Schöpfers und NDR-Redakteurs Thomas Berbner:

„Im Sommer 2023 wird in der ARD darüber diskutiert, eine Dokumentation über die steigende Zahl von Jugendlichen zu drehen, die sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren. An der Schalte nehmen unter anderem Berbner teil, Julia Ruhs und ein Redakteur des Bayerischen Rundfunks. Die Idee ist, sich in dem Film mit den Risiken auseinanderzusetzen, die es mit sich bringt, die sogenannte Geschlechtsdysphorie schon in jungen Jahren mit Hormonen oder gar chirurgischen Eingriffen zu behandeln. Es ist ein Thema, das politisch und emotional enorm aufgeladen ist und viele Menschen bewegt. Zum Ärger von Berbner und Ruhs wird die Idee in den ARD-Gremien abgelehnt. “

Für Personen, die dieses Thema seit einigen Jahren intensiv verfolgen – darunter auch ich – war es nicht nachvollziehbar, wie sehr die Kritik am gender-affirmativen Ansatz im Ausland von deutschen Medien und insbesondere den Öffentlich-Rechtlichen ignoriert wurde. Stattdessen dominieren möglichst positive Porträts von Betroffenen die Berichterstattung – wenn über Prozesse einer Geschlechtsangleichung bei Minderjährigen berichtet wird. Von der zunehmend komplexen und auch kontroversen Debatte in internationalen medizinischen Fachkreisen erfährt man in diesen Medienberichten hingegen kaum etwas.

 Selbstbestimmungsgesetz – nur Positives, bitte

Von den gleichen Problemen ist im Öffentlich-Rechtlichen auch die Berichterstattung zum Selbstbestimmungsgesetz geprägt – bis heute. Lediglich die Kontroverse um Rechtsextremist Marla-Svenja (Sven) Liebich konnte nicht ignoriert werden. Doch man bemühte sich, dies mit Kommentaren für das Selbstbestimmungsgesetz wieder zu glätten. Auch während das Gesetz sich noch in den Mühlen der politischen Verfahren befand, fehlte in der Berichterstattung eine fundierte Auseinandersetzung mit Kritik am Gesetz. Stattdessen durfte ein inzwischen ehemaliger Mitarbeiter in der „Faktenfinder“-Redaktion der ARD-„Tageschau“ noch 2023 in diesem Format einen Artikel veröffentlichen, der jede Kritik am Selbstbestimmungsgesetz als „transfeindlich“ beschmierte. Texte wie diese trugen und tragen nicht unerheblich dazu bei, das Format des „Faktenchecks“ als Mogelpackung erscheinen zu lassen und damit für viele Menschen zu diskreditieren.

Warum werden beim Themenfeld „Trans“ eigentlich alle journalistischen Standards missachtet? Eine Erklärung könnte im vergangenen Umgang mit Homosexuellen sowie auch der Aidskrise liegen – so manche Berichterstattung musste sich in der Tat die Frage gefallen lassen, ob sie nicht dem Ressentiment schlechthin zuarbeitet. In Bezug auf „Trans“ ist es selbstverständlich wünschenswert, nicht die gleichen Fehler zu machen, aber darunter darf nicht der Umgang mit der komplexen Wirklichkeit leiden.

Journalistische Standards nicht zu finden

Wer nicht hinter dem Mond lebt, hat längst mitbekommen, dass bei Minderjährigen eine frühzeitige affirmative Medikalisierung mit Pubertätsblockern Risiken birgt. Und Geschlechtsdysphorie ein Symptom ist, das bei unterschiedlichen Gruppen auftreten kann – und für die wenigsten ist ein zügiger Einsatz von Medikamenten und später chirurgischen Eingriffen das Richtige. Dazu zählen beispielsweise Teenager mit einer sich entwickelnden homosexuellen Orientierung oder biologische Mädchen mit Pubertätskrisen. Im Ausland mehren sich Berichte über früh Behandelte, die als junge Erwachsene die irreversiblen Schritte bitterlich bereuen und mit den gesundheitlichen Folgeproblemen für den Rest ihres Lebens klarkommen müssen. Darüber muss auch im Öffentlich-Rechtlichen differenziert berichtet werden können.

Auch die eklatanten Schwächen des Selbstbestimmungsgesetzes lassen sich nicht verbergen. Zuletzt berichtete der öffentlich-rechtliche WDR immerhin über Vorwürfe gegen einen Polizeibeamten in Düsseldorf, dem vorgeworfen wird, die Änderung des Geschlechtseintrags von männlich zu weiblich nur für schnellere Beförderungen vorgenommen zu haben. Eine systematische Auseinandersetzung mit den Schwächen des Gesetzes bleibt jedoch verhalten. Spannung verspricht in dieser Hinsicht übrigens auch das neue Wehrpflichtmodell mit der verpflichtenden Musterung. Werden in den kommenden Jahren viele junge Männer die Möglichkeiten des Selbstbestimmungsgesetzes entdecken? Und: Wird man im Öffentlich-Rechtlichen dann endlich journalistisch angemessen mit diesem Gesetz umgehen?

Öffentlich-Rechtliche Medien schwächen sich selbst

Mit der in Dauerschleife zu hörenden Floskel „Man muss sich mit Kritik zurückhalten, weil sie nur den Rechten nützt“ wird man diesem Problem nicht begegnen können. Das Publikum ist nicht plötzlich unkritisch gegenüber Geschlechtsangleichungen von Minderjährigen oder dem Selbstbestimmungsgesetz, nur weil man die erwünschten Narrative unermüdlich wiederholt. Eher im Gegenteil: Das wirkt unangenehm volkserzieherisch und führt dazu, Publikum dauerhaft zu verlieren. Längst gibt es Konkurrenz in Form sogenannter alternativer Medien und populistischer Krawallmacher wie Julian Reichelts Portal Nius. Wenn vor allem auf solchen Plattformen die Aspekte angesprochen werden, die im Öffentlich-Rechtlichen bewusst unter den Tisch fallen, braucht man sich über den Vertrauensverlust nicht zu wundern.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Wegen Genderideologie: Lettland will raus aus Istanbul-Konvention

In Lettland hat das Parlament mit knapper Mehrheit darüber abgestimmt, wieder aus der erst 2024 ratifizierten Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt auszutreten. Rechtspopulisten behaupteten, die Konvention würde schädliche „Genderideologie“ transportieren. Zwar wurde der Schritt durch ein präsidiales Veto vorerst abgewendet, doch das Ereignis in Lettland weist auf grundlegende Probleme um den Gender-Begriff und die Istanbul-Konvention hin.

Die Saeima - das Parlament Lettlands - in Riga von außen, Symbolbild für Artikel "Lettland will raus aus Istanbul-Konvention"
Die Saeima in der lettischen Hauptstadt Riga (Foto: Ralf Roletschek auf Wikimedia)

9. November 2025 | Till Randolf Amelung

Letzte Woche Donnerstag hat die Saeima, das lettische Parlament, mit einer Mehrheit von 56 der 100 Abgeordneten beschlossen, wieder aus der erst 2024 ratifizierten Istanbul-Konvention auszutreten.  Damit gemeint ist das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, was 2011 nach langjährigen Verhandlungen in der türkischen Metropole am Bosporus verabschiedet wurde.

Die Istanbul-Konvention „ist ein völkerrechtlich bindendes Instrument zur umfassenden Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Dazu gehören Opferschutz, Prävention und Strafverfolgung sowie die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter in den Verfassungen und Rechtssystemen“, heißt es auf der Website von UN Women Deutschland. Bislang haben 38 Nationalstaaten die Konvention ratifiziert und sich damit zu umfassenden Maßnahmen zum Schutz von Frauen und Mädchen verpflichtet – so auch Lettland.

Zwischen „natürlicher“ Familie und Genderideologie

Doch nun will das Land die Ratifizierung wieder zurücknehmen. Angestoßen wurde dies in der Saeima durch einen Antrag der rechtspopulistischen Oppositionspartei Latvija pirmajā vietā („Lettland zuerst“). Ein wesentlicher Vorwurf: Die Konvention würde traditionelle Werte der Nation gefährden. Damit meinen die Rechtspopulisten, anstatt Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, würde dieser völkerrechtlich bindende Vertrag Lettland die gleichgeschlechtliche Ehe oder geschlechterneutrale Toiletten aufzwingen. Laut Tagesspiegel habe deren Parteivorsitzender Ainārs Šlesers die lettische Bevölkerung dazu aufgerufen, sich zwischen einer „natürlichen“ Familie und einer „Gender-Ideologie mit mehreren Geschlechtern“ zu entscheiden.

Eine solche Interpretation wie in Lettland ist kein Einzelfall. Ebensolches war auch aus Polen, Kroatien, Bulgarien oder Ungarn zu vernehmen. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Begriffe „Gender“ und „Gender Identity“ (Geschlechtsidentität). Bereits 2021 beschrieb die Politikwissenschaftlerin Eszter Kováts im Jahrbuch Sexualitäten der IQN, wie „Gender“ als Feindbild der Rechten funktioniert und wie auch ein progressives Geschlechterverständnis mit Fokus auf Identität und Geringschätzung für biologische Evidenz dies befeuert. In Ungarn behauptete zum Beispiel die Fidesz-KDNP-Regierung, die Istanbul-Konvention deshalb nicht ratifizieren zu wollen, weil diese mit einem Konzept von Gender als freie Wählbarkeit des Geschlechts arbeite.

Europarat muss auf Vorwürfe reagieren

Schon 2018 musste der Europarat eigenen Angaben zufolge auf solche Behauptungen reagieren, damals mit Artikeln in der bulgarischen wie auch der kroatischen Ausgabe der Zeitschrift ELLE:

„Um der Vorstellung entgegenzutreten, dass die Istanbul-Konvention den Mitgliedsstaaten eine Art ‚Gender-Ideologie‘ aufzwingen wolle, wird in den Zeitschriftenartikeln der Unterschied zwischen den Begriffen ‚biologisches Geschlecht‘ (englisch ‚Sex) und ‚soziales Geschlecht‘ (englisch ‚Gender‘) erläutert: Der erste Begriff bezieht sich auf die biologischen Merkmale, die einen Menschen als Frau oder Mann definieren, während der zweite Begriff die gesellschaftlich geprägten Rollen, Verhaltensweisen und Tätigkeiten betrifft, die eine bestimmte Gesellschaft als für Frauen und Männer angemessen ansieht.

Demzufolge bedingt das soziale Geschlecht die Rollen, die von Frauen und Männern erwartet werden. Diese Rollen sind allzu oft von überholten Stereotypen geprägt. Diese Klischees können dazu führen, dass Gewalt gegen Frauen, Einschüchterungen und Angst ‚akzeptabel‘ werden. Beide Artikel betonen daher, dass sich das Übereinkommen per se nicht gegen traditionelle Geschlechterrollen richtet. Wenn Frauen als Mütter zu Hause bleiben möchten, während der Ehemann arbeitet, spricht sich die Istanbul-Konvention nicht dagegen aus, da sie nicht darauf abzielt, Frauen oder Männer zu einer bestimmten Lebensweise zu zwingen.“

Außerdem wies der Europarat damals schon Vorwürfe zurück, die Istanbul-Konvention würde die Staaten zur Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Ehen und eines dritten Geschlechts oder zu Schulunterricht über sexuelle Ausrichtung und Geschlechtsidentität verpflichten. Doch solche Vorwürfe von Rechtspopulisten gegen die Istanbul-Konvention verstummen nicht.

Geschlechtsidentität sorgt für Konflikte

Es ist in der Tat iso, dass der Begriff „Geschlechtsidentität“ kein Bestandteil des Haupttextes der Konvention ist. Allerdings taucht er, laut dem Think Tank „Athena Forum“, in der Nichtdiskriminierungsklausel auf. Dies geht auf das Engagement des queeraktivistischen Dachverbands ILGA-Europe zurück, der sich erfolgreich in die Verhandlungen der Konvention einschaltete. Der 2025 neu gegründete genderkritische Think Tank „Athena Forum“ kritisiert daran, dass „Geschlechtsidentität“ weder eine klare Definition noch einen klaren Rechtsstatus habe. Trotzdem sei auf diese Weise der Begriff in das Völkerrecht gelangt – ohne klare Definition und ohne Konsens. Diesen Umstand der Unklarheit würden nun Rechtspopulisten international ausnutzen, um lebensrettenden Frauenschutz zu sabotieren.

In Lettland ist der Ausstieg aus der Istanbul-Konvention noch keine vollendete Tatsache. Denn Edgars Rinkēvičs, Präsident des baltischen Staats, machte von seinem Vetorecht Gebrauch und schickte das Gesetz über den Ausstieg zu einer neuen Prüfung an die Saeima zurück, die wohl erst in der nächsten Legislaturperiode geschehen wird. In anderen Ländern hat der unklare Begriff der Geschlechtsidentität laut „Athena Forum“ jedoch bewirkt, dass die Konvention nicht ratifiziert wurde: In Bulgarien entschied das Verfassungsgericht 2018, dass die Konvention aufgrund ihrer unbestimmten Terminologie verfassungswidrig sei. In der Slowakei und in Ungarn lehnte man 2020 die Ratifizierung aus denselben Gründen ab.

„Athena Forum“ fordert deshalb:

„Es ist an der Zeit, neu zu überdenken, wie Rahmenwerke für die Menschenrechte von Frauen ausgehandelt werden, wessen Interessen sie prägen und wie sichergestellt werden kann, dass keine politische Ideologie – wie gut sie auch gemeint sein mag – die Sicherheit und Würde aller Frauen und Mädchen untergräbt.“

Auch Politikwissenschaftlerin Kováts plädierte 2021 in ihrem Essay:

„Wenn man aber sogar die Ambition hat, zu verstehen, warum Feminismus, LSBTI und Gender als negative Projektionsflächen in der Gesellschaft funktionieren, dann muss man sich kritische Fragen stellen und darf Konflikte nicht scheuen.“

Die Konflikte, die sich hier zum Verständnis von Geschlecht zeigen, gehen über bloße Gegensätze zwischen konservativen und progressiven Gesellschaftsentwürfen hinaus.  International breit etablierte Instrumente wie die 2008 veröffentlichten Yogyakarta-Prinzipien oder das Positionspapier „Human Rights and Gender Identity“ des Europarats von 2009 weisen in die Richtung, dass der Identität unabhängig von biologischen Gegebenheiten die Priorität eingeräumt werden soll.

Dagegen wächst ebenso international der Widerstand, insbesondere unter Frauen. Um hier Rechtspopulisten global die Nahrung für ihre insgesamt ja auch antihomosexuelle Propaganda wegzunehmen, aus der sie politische Energie ziehen können, wäre es wichtig, Begrifflichkeiten rund um Geschlecht noch einmal zu überarbeiten und für Kohärenz zu sorgen. Am Ende sollte beides möglich sein: Schutz für Frauen und Mädchen im Sinne des biologischen Geschlechts sowie auch Schutz für LGBTI.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Ein Jahr Selbstbestimmungsgesetz: Alles gut?

Seit einem Jahr gibt es nun das Selbstbestimmungsgesetz, mit dem Trans- und Interpersonen ihren Vornamen und Geschlechtseintrag ohne medizinische Nachweise auf dem Standesamt ändern können. Für viele Personen im queeren Aktivismus ist dieses Gesetz ein Erfolg, doch die gesellschaftliche Akzeptanz ist rückläufig.

Eine Fußgänger-Ampel zeigt ein grünes Trans-Symbol, Bild zu Artikel "Ein Jahr Selbstbestimmungsgesetz: Alles gut?"
Unter der Ampel-Regierung gab es grünes Licht für das Selbstbestimmungsgesetz (Foto von Kamsin Kaneko auf Unsplash).

6. November 2025 | Till Randolf Amelung

Im November ist das Selbstbestimmungsgesetz seit nunmehr einem Jahr in Kraft. Das noch von der Ampel-Koalition unter Ex-Bundeskanzler Olaf Scholz beschlossene Gesetz ermöglicht es, Vorname und Geschlechtseintrag auf dem Standesamt zu ändern – ohne ein aufwändiges Gerichtsverfahren mit Gutachten oder anderweitigen medizinischen Nachweisen. Auch bei Minderjährigen entfällt dies. Kürzlich veröffentlichte Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen, dass im Zeitraum November 2024 bis Juli 2025 ungefähr 22.049 Menschen ihren Geschlechtseintrag ändern ließen. Damit liegen die Zahlen deutlich über den von der Ampel-Regierung geschätzten 4.000 Personen jährlich.

Von Beginn an war das Selbstbestimmungsgesetz von heftiger Kritik und Skepsis begleitet – darunter auch meiner. Hauptkritikpunkte waren – und sind nach wie vor – die Missbrauchsanfälligkeit, die fehlende Rechtsfolgenabschätzung und zu wenig Schutzmaßnahmen für Minderjährige. Gerade die Kontroverse um Rechtsextremist Liebich hat deutlich gemacht, welche Schwierigkeiten es geben kann, wenn offenkundige Verächter des bundesdeutschen Rechtsstaats Gebrauch von dieser Regelung machen.  

Kolloquium zieht Bilanz

Am Montag wurde bei einer Veranstaltung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld Bilanz gezogen. Im kleineren Kreis haben Personen aus verschiedenen Verbänden referiert, wie erfolgreich sie das Selbstbestimmungsgesetz bewerten. Da die Veranstaltung nicht öffentlich war, sei so viel verraten: In der Summe haben alle das Selbstbestimmungsgesetz als längst überfällige Maßnahme bewertet und die bisherige Nutzung zeige, dass dieses Gesetz seinen Zweck erfülle. Für viele Trans- und Interpersonen sei es eine notwendige Erleichterung.

Allerdings hat der Fall Liebich auch unter Befürwortenden Diskussionsbedarf angeregt, wie sich solche Fälle in Zukunft möglichst vermeiden ließen – und zwar, ohne die Wiedereinführung von Plausibilitätsprüfungen mittels Gutachten oder auch vorgeschriebener Beratung. Erleichtert zeigte man sich zudem, dass die Initiative von Innenminister Alexander Dobrindt gescheitert ist, mit einer Verordnung Daten über vollzogene Änderungen nach dem Selbstbestimmungsgesetz automatisch an alle Behörden weiterzuleiten und jederzeit sichtbar zu machen.

Doch auch von den Teilnehmenden des Kolloquiums ist längst spürbar bemerkt worden, dass trotz dieses Erfolgs gegen Innenminister Dobrindts anvisierte Verschärfung des Selbstbestimmungsgesetzes, das gesellschaftliche Klima gegenüber Transfragen ungemütlicher wird. Vor allem die Frage, ob Geschlechtsidentität und das biologische Geschlecht gleichrangig zueinander sind, rückt zunehmend in den Fokus. In Großbritannien fiel kurz vor Ostern das international registrierte Urteil, dass sich die Bedeutung von „Geschlecht“ in Gleichstellungsgesetzen auf das biologische Geschlecht und nicht die Identität bezieht.

Außerdem wurde bemerkt, dass nach dem deutschen Erfolg mit dem Selbstbestimmungsgesetz anderswo Bestrebungen, vergleichbare Reglungen einzuführen, stagnieren oder erst gar nicht mehr aufkommen. Außerdem zeigt die Einführung von Gentests als Teilnahmevoraussetzung in Frauenwettbewerben durch mehrere Sportverbände, dass Biologie bei Geschlecht elementar bleibt.

Aktivismus gegen Selbstbestimmungsgesetz

Hier lohnt sich ein Blick auf Berichte über eine Tagung, die am Wochenende im beschaulichen Siegburg von dem Verein „Frauenheldinnen e.V.“ ausgerichtet wurde. Dort versammelten sich Frauen, deren Aktivismus sich gegen die Gleichsetzung von Geschlechtsidentität mit dem biologischen Geschlecht richtet und damit auch gegen das Selbstbestimmungsgesetz. Auch Prominenz, wie EMMA-Herausgeberin Alice Schwarzer oder die britische Aktivistin Kellie-Jay Keen-Minshull (bekannt unter dem Pseudonym „Posie Parker“) war in Siegburg zu Gast.

Während sich Schwarzer ausweislich eines Tagungsberichts im Blog Ruhrbarone zumindest für eine Rückkehr zum Transsexuellengesetz mit Begutachtungen aussprach, machten andere deutlich, dass sie jede Regelung für eine Änderung des amtlich registrierten Geschlechtseintrag ablehnen und generell in Abrede stellen, dass Geschlechtsangleichungen für manche Personen eine hilfreiche und unterstützenswerte Maßnahme sind.

Im Ruhrbarone-Beitrag lässt sich auch lesen, wie die in Siegburg eingeladenen britischen Aktivistinnen ihre Erfolge einordneten:

„Entscheidend fanden die Britinnen, dass normale Menschen, die Hausfrauen und Mütter, für den Kampf gegen die Entwertung des biologischen Geschlechts der Frau gewonnen werden konnten, da die Akademikerinnen kaum zu erreichen sind.“

Diese Kluft zwischen akademischen, linksprogressiven Blasen und denen, die sich darin nicht bewegen, sollte nicht unterschätzt werden. Zumal es genau dort relevant wird, wo man sich im öffentlichen Raum begegnet. Dies kann man aktuell an einem Beispiel aus den USA sehen, was gerade im Kurznachrichtendienst X zirkuliert: Tish Hyman, eine in Los Angeles lebende Sängerin, beschwerte sich dokumentiert per Video über einen biologischen Mann im Frauenumkleidebereich ihres Fitnessstudios – und bekam dafür vom Studiobetreiber die Mitgliedschaft gekündigt. Nun will sie auch andere Frauen mobilisieren, sich gegen das Primat der Geschlechtsidentität als Zutrittskriterium zu nach Geschlecht getrennten Räumen zu wehren.

Geschlechtsidentität reicht nicht

Fälle wie diese tragen dazu bei, Vorbehalte und Abwehr gegenüber Transpersonen und andere gender-nonkonforme Personen zu fördern. Und das liegt nicht ausschließlich an rechtsextremer Agitation, wie viele queere Verbände postulieren, sondern ist auch ein hausgemachtes Problem. Brianna Wu, eine US-amerikanische Transfrau, die sich zwischen den Extremen queeraktivistischer Negierung körperlicher Realitäten und transfeindlicher Rechten für einen moderaten Umgang mit Transfragen einsetzt, kommentierte den jüngsten Fall auf X:

„Als ich vor zwanzig Jahren meine Transition begann, führten Transsexuelle offene Gespräche und gaben sich gegenseitig Feedback darüber, wann wir weit genug fortgeschritten waren, um die Damentoilette zu benutzen. […] Denn vor 20 Jahren war der gesellschaftliche Vertrag mit den Frauen für die Gemeinschaft von großer Bedeutung. ‚Wir versuchen, so gut es geht, eine von euch zu sein.‘ Und die meisten Frauen erkannten diese Bemühungen und begegneten ihnen mit Freundlichkeit. […]

Heute scheint es, als seien beide Seiten dieses gesellschaftlichen Gefüges zerbrochen. Transpersonen und die Politik der Selbstidentifizierung haben zu einem Anspruchsdenken geführt, selbst bei Menschen, die sich nicht anpassen. Doch es gibt auch ein politisches Projekt, das uns verfolgt und erniedrigt. Wir alle müssen versuchen, friedlich zusammenzuleben.“

In Wus Beitrag steckt viel Bedenkenswertes, insbesondere für den Transaktivismus. Es war ein Fehler, zu propagieren, ausschließlich die Geschlechtsidentität entscheide und man müsse rein gar nichts tun, um auch nur ansatzweise im sozialen Gefüge plausibel zu sein. Wer Validierung von der Umwelt verlangt, kann dies nicht ohne eigene Leistung dafür tun – sprich: Passing durch Optik und Verhalten ist unumgänglich. Alles andere mag zwar bei AkademikerInnen auf Gegenliebe stoßen, die sich für radikale Theorien Judith Butlers begeistern, wird aber zwangsläufig scheitern, sobald es auf Schutz- und Intimsphärebedürfnisse der vielen Frauen außerhalb des Hochschul- und NGO-Betriebs trifft.

Insofern wird der Transaktivismus in den kommenden Jahren Herausforderungen zu bewältigen haben, sich im komplexen Spannungsfeld zwischen Anerkennung der Relevanz des biologischen Geschlechts sowie Berücksichtigung der Geschlechtsidentität zu bewegen. Ohne die Berücksichtigung von Aspekten, die sich aus dem biologischen Geschlecht ergeben, wird jedoch keine gesellschaftliche Befriedung um die Transfrage erreicht werden können.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


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Stadtbild-Debatte: Was heißt sie für Queers?

Ein geraunter Satz von Bundeskanzler Friedrich Merz mit dem Wort „Stadtbild“ hat eine Auseinandersetzung angefacht, ob sich darin purer Rassismus ausdrückt oder schlicht die Wahrnehmung vieler BürgerInnen hinsichtlich der Sicherheit im öffentlichen Raum. Für Queers zumindest ist dieser wieder unsicherer geworden.

Die Trinkhalle "Hasenschänke" am Columbiadamm in Berlin, Symbolbild für Artikel "Stadtbild-Debatte: Was heißt sie für Queers?"
Ein Stadtbild aus Berlin: Die Hasenschänke an der Neuköllner Hasenheide (Foto von Hasan Tayyar Besik auf Unsplash).

30. Oktober 2025 | Jan Feddersen

Möglicherweise haben der Kanzler und seine Berater es so gewollt. Als er bei einer öffentlichen Rede, in der es hauptsächlich um Abschiebungen von straffällig gewordenen Asylbewerbenden ging, von  „diesem Problem im Stadtbild“ raunte, traf er offenbar den Nerv von Millionen von WählerInnen. In den Städten sei es nicht mehr wie früher, nicht mehr gemütlich, viel eher: gefährlich. Kurze Zeit später wurde er von Journalisten naheliegenderweise gefragt, was er mit diesen Andeutungen überhaupt meine. Auf tagesschau.de steht hierzu zu lesen:

„Merz hatte am 14. Oktober bei einer Pressekonferenz in Potsdam gesagt, es gebe ‚im Stadtbild noch dieses Problem‘ – offenbar als Anspielung auf Menschen mit Migrationshintergrund. Auf die Frage eines Journalisten, was er damit gemeint habe, sagte der Kanzler wenige Tage später, der Journalist solle, wenn er Töchter habe, diese fragen. ‚Ich vermute, Sie kriegen eine ziemlich klare und deutliche Antwort‘, sagte Merz, ohne dabei zunächst weiter zu präzisieren, was er als Problem versteht.“

Privilegierte Töchter melden sich

Diese sogenannten Töchter meldeten sich dann, bauten sich vor der CDU-Parteizentrale in Berlin-Tiergarten auf und hielten Reden. Zu diesen Frauen zählten durchweg privilegierte Personen wie Luisa Neubauer, Carolin Emcke und Ricarda Lang, die in den Vierteln, auf die der Kanzler angespielt hatte, garantiert nicht flanieren oder ihren Alltag verbringen. Sie leben in Quartieren, in denen sie sich geschützt fühlen müssen.

Den bislang differenziertesten Beitrag aus dieser Bubble hat der grüne Mitvorsitzende Felix Banaczak formuliert. Er, der aus Duisburg stammt, formuliert sehr präzise und nahbar die Probleme, die in seiner Stadt sehr sichtbar sind: eine falsch modernisierte Innenstadt, Deindustrialisierung überhaupt, Armutseinwanderung. Wer in den einst lebendigen Vierteln lebt, muss sich schützen, denn Polizeien sind nicht präsent, es geht dort – wie in meinem Neukölln – niemand mehr auf Streife.

Queere im Stadtbild

Nicht die Rede ist bislang von queeren Personen – das Wörtchen „queer“ hier als Sammelbegriff gemeint -, die in der Debatte aber eine Rolle spielen müssten, denn in der Tat ist in den vergangenen Jahren ein herber Anstieg von Gewaltdelikten gegen schwule Männer, lesbische Frauen und trans Menschen zu verzeichnen. Nicht nur auf CSDs im Osten unserer Republik, sondern auch in metropolen Gegenden, in denen man sich besser nicht so deutlich als schwul oder lesbisch oder trans zu erkennen gibt.

Aber das ist nicht neu, kein erst in jüngerer Zeit zu beklagendes Phänomen, das ist deshalb nicht automatisch mit migrantischen Jugendlichen in Verbindung zu bringen. Denn in den frühen siebziger Jahren waren sie als Angst machende, einschüchternde Personen noch nicht auf der öffentlichen Bühne. Wer damals Schrecken und Angst zu verbreiten wusste, waren untervögelte Jugendliche weißesten Kalibers.  Diese Jungmänner machten gern mal auf von ihnen als schwächer eingeschätzte Menschen Jagd, wenn ihnen danach war. Und ich weiß, wovon ich rede, dann ich war einer dieser nicht so kräftig eingeschätzten Männer, die zu drangsalisieren sich offenbar lohnen könnte.

Nebenbei: Als die ersten Gastarbeiter in die Bundesrepublik kamen, das war Ende der fünfziger Jahre, kursierten Gerüchte, nach denen diese die deutschen weißen und blonden Mädchen schänden könnten. Historische Untersuchungen quellengesättigster Art bezeugen inzwischen, dass im Gegenteil eben diese deutschen Frolleins hinter den dunkelhaarigen Männern her waren, weshalb die bedrängten Männer in vielen Orten darum baten, dass man ihre Wohnheime umzäunt, um nicht gestalkt zu werden.

Toxische Männlichkeit

Es ging, auch historisch gesehen, immer um den Charakter toxischer Männlichkeit. Und es ging um öffentliche Räume, um Einschüchterung, Geländesicherung und Beuteverhalten – heute durch oft migrantisch geprägten Nachwuchskerle. So wie in der Silvesternacht 2015 in Köln vor dem Hauptbahnhof, als Meuten an gelangweilten, beutebewussten und eben gerade geflüchteten Jungmännern vor allem aus Nordafrika, Frauen ins Visier nahmen – und malträtierten.

Die Interpretation vieler feministischer Linker war damals – und ist es bis heute -, dass man nicht betonen dürfe, es habe sich um Flüchtlinge gehandelt. Es dürfe allenfalls von männlichen Gewaltkulturen die Rede sein, nicht von solchen, mit denen nordafrikanische Gesellschaften zu leben haben. Hat es aber sehr wohl, denn die hatten das Terrain vor dem Dom der Stadt für sich genommen, auch als Spielplatz der Gelüste bei erstbester Gelegenheit.

Kein öffentlicher Raum für Queers

Für offen performende schwule Männer, lesbische Frauen und Transpersonen war der öffentliche Raum allerdings immer kein sicherer. Unsereins hatte überall mit Aggressionen zu rechnen, in Schulklassen, auf Schulhöfen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Parks und also im „Stadtbild“ schlechthin. Dass gewisse bürgerliche Viertel, etwa in Berlin, für unsereins sicherer ist, ist noch lange keine Garantie für Unversehrtheit.  

Das gleiche gilt für Juden und Jüdinnen, vor allem für männliche Juden, die mit Kippa auf dem Kopf als solche erkennbar sind: Nicht nur in Neukölln, bevorzugtes Einwanderungsgebiet von arabischen Einwanderern, sondern auch in anderen Gegenden der Hauptstadt. Offen jüdisch sein, schwul zu sein, lesbisch oder trans: Kein Grund, sich überhaupt auf sicherem Terrain zu fühlen.

Prekariat als Problemquelle

Auf der anderen Seite darf man auch dies sagen: Für junge Menschen, die von ihren Eltern finanziell nicht üppig alimentiert werden, gibt es kaum noch Treffpunkte, Jugendzentren oder sonstige Areale zum gemeinsamen Abhängen. Die kommunalen Finanzen sind vielerorts, gerade dort, wo arme Jugendliche leben, ausgeholzt, karg gespart: Kein Wunder, dass dort die Kultur der Verachtung für die vermeintlich noch Schwächeren gedeiht.

Fatal wäre, wie der Offene Brief der Frauen (um Luisa Neubauer u.a.) suggeriert, von einem allgemeinen Problem von Gewalt gegen Frauen zu sprechen. Oder wie die eigentlich sehr kluge Politikwissenschaftlerin Susanne Schröter, die in der Debatte um das Merz‘sche „Stadtbild“ nur islamistische Momente am Wirken sieht: Religion, die islamische, allein macht noch niemanden aggressiv – nur im Zusammenwirken von persönlicher Disposition, Perspektivarmut, Langeweile und Mackertum der übelsten Sorte.

Schutz für LGBTIQ

Queere Menschen wünschen sich Schutz überall, aber vor allem Polizeipräsenz in riskanten Vierteln. Wir möchten, dass ein „Stadtbild“ so divers ist, wie es heutzutage nur sein kann – eben auch mit all den friedlich gesinnten Einwanderern, die gerade nach Deutschland geflüchtet sind, um einer toxischen Kultur in ihren ersten Heimatländern zu entrinnen. Es bleibt zu bedauern, dass die hiesige LGBTI-Szene sich mehr mit sich selbst beschäftigt ist und zu dieser Diskussion gerade so gar nichts beizutragen weiß.


Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Pädos und die queere Szene: Aufarbeitung nicht abgeschlossen

Die Ereignisse um die queeridentitäre Erweiterung von Artikel 3 des Grundgesetzes sowie Ermittlungen gegen die Berliner Szene-Ikone Jurassica Parka wegen mutmaßlichen Besitzes und Verbreitung von Kinderpornografie holen das Thema zurück auf die Tagesordnung der queeren Community: Pädophilie. Bereits 2020 analysierte der Historiker Jan-Henrik Friedrichs in einer Queer Lecture der IQN die blinden Flecken in der Auseinandersetzung mit Pädosexualität in linken und schwulen Bewegungen.

Ein Billboard Truck in Warschau mit "Stop Pedofili" und homophoben Slogans. Symbolbild für Artikel "Pädo und die queere Szene: Aufarbeitung nicht abgeschlossen"
Homophobe Bewegungen wie hier im polnischen Warschau nutzen das Pädothema, um LGBT insgesamt zu diskreditieren – und lenken dabei von eigenen blinden Flecken ab (Foto: Wikimedia).

27. Oktober 2025 | Till Randolf Amelung

Zwei aktuelle Ereignisse haben wieder mal einen Bereich grell ausgeleuchtet, mit dem sich die queere Szene schwertut: Wie umgehen mit Pädophilie, zumal in den eigenen Reihen? Also mit der Bagatellisierung von sexuellen Praktiken mit Kindern? Konkret: Das eine Ereignis ist die Forderung nach der Erweiterung von Artikel 3 Grundgesetz um „sexuelle Identität“, das andere sind Vorwürfe gegen die bekannte Berliner Drag Queen Jurassica Parka, diese habe sich Kinderpornografie beschafft und verbreitet. Beides weist auf bislang nicht hinreichend bearbeitete Problemstellung um Anliegen wie „sexuelle Befreiung“ sowie „Emanzipation von sexuellen Minderheiten“ in bestimmten Milieus hin, die der Historiker Jan-Henrik Friedrichs bereits im Jahrbuch Sexualitäten 2021 erörtert hat.

Sexuelle Identität ins Grundgesetz?

Die Erweiterung von Artikel 3 um die Nennung von grundsätzlich schützenswerter „sexueller Identität“ wird seit Jahren von queeren Verbänden vorgetragen, aktuell auch von der Queerbeauftragten der Bundesregierung, Sophie Koch. Vor zwei Wochen hat außerdem der Bundesrat diese Forderung aufgegriffen und bejaht. Dieser hat eine Gesetzesinitiative dafür in den Bundestag eingebracht, die nun beraten wird. Ob dies erfolgreich sein wird, ist ungewiss, denn für eine Änderung im Grundgesetz ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich – was angesichts der Fraktionsstärke der mitregierenden Union und der oppositionellen AfD unwahrscheinlich scheint.

Umstritten ist der Begriff der „sexuellen Identität“ deshalb, weil er sich nicht eindeutig eingrenzen lässt, wie KritikerInnen bemängeln. Denn: Könnten nicht auch Pädophile ihr sexuelles Triebschicksal als schützenswerte Identität geltend machen? Rechtswissenschaftler Arnd Diringer kritisierte bereits 2023 in der Welt, durchaus in Übereinstimmung mit entsprechenden Befunden der freudianisch orientierten Sexualwissenschaft:

„Pädophile gehen beispielsweise davon aus, dass auch ihre Neigungen als ‚sexuelle Identität‘ anzusehen sind. Das kann man etwa auf der nach einer Pädophilen-Gruppe benannten Internetseite krumme13.org lesen. Teile der juristischen Literatur lehnen das unter Verweis auf die Strafbarkeit des Verhaltens ab. Das ist, wie Professor Hartmut Oetker im Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht ausführt, aber ‚nicht zweifelsfrei, da das AGG nicht die untersagte Ausübung, sondern die Identität schützt‘. Letztere enthält keine Abgrenzung zu solchen Neigungen. Darauf wurde ebenso bei einer Expertenanhörung des Rechtsausschusses des Bundestags 2010 hingewiesen, als erstmals über die Aufnahme der ‚sexuellen Identität‘ ins Grundgesetz diskutiert wurde.“

Zudem seien LGBT bereits jetzt über das Grundgesetz geschützt, wie Andreas Edmüller, Unternehmensberater und Privatdozent für Philosophie, in seinem Blog erläutert. Er warnt auch davor, dass die explizite Auflistung „ein verfassungsrechtliches Fehlsignal“ sende:

„Es könnte der Eindruck entstehen, dass unser Grundgesetz tatsächlich nur Personen oder Gruppen schützt, die ausdrücklich genannt werden. Das wiederum würde eine Schwächung des allgemeinen und umfassenden Schutzprinzips bedeuten, das auf dem Würdegedanken beruht.“

BefürworterInnen wie der LSVD* hingegen sehen es als Makel an, dass homo- und bisexuelle Männer und Frauen als einzige Verfolgtengruppe unter dem Nationalsozialismus noch nicht explizit im Grundgesetz aufgenommen seien – wobei in dieser Perspektive historisch ungenau behauptet wird, lesbische Frauen seien vom nationalsozialistischen Regime ebenso systematisch verfolgt worden, wie schwule Männer.

Bei der Debatte zur ersten Lesung des Bundesratsantrags im Bundestag am 9. Oktober sagte die Grünen-Abgeordnete Nyke Slawik, dass der Bundestag in den vergangenen Jahren viele Gesetze erlassen habe, die die Lebenssituation von LSBTIQ-Personen verbessert hätten, sich diese Fortschritte aber bis heute nicht in unserer Verfassung widerspiegelten. Es gehe hier nicht um eine parteipolitische Debatte, sondern um Haltung für Demokratie und um Menschlichkeit.

Ob das mit dem Begriff „sexuelle Identität“ im Grundgesetz tatsächlich zielführend ist? Der Jurist Diringer bewertete dies schon 2023 nicht als sehr wahrscheinlich:

„Da der Begriff notwendige Abgrenzungen nicht ermöglicht, begibt man sich mit einer Verfassungsänderung auf gefährliches Terrain. Die Rechte lesbischer, schwuler, bisexueller, asexueller und pansexueller Menschen würden dadurch nicht gestärkt.“

Kinderpornografie bei Jurassica Parka?

Vorigen Donnerstag erschütterte die Meldung über eine Hausdurchsuchung bei der Berliner Drag Queen und Szene-Ikone Jurassica Parka (bürgerlich Mario O.) die queere Öffentlichkeit. Es geht um den Verdacht des Besitzes und der Verbreitung von Kinderpornografie. Den Hinweis bekamen die deutschen Ermittlungsbehörden aus den USA. In einem eigenen Statement auf Instagram sprach der Künstler Mario O. hierzu von Kontrollverlust, Substanzkonsum und einem Ermittlungsverfahren, weshalb er sich erstmal aus der Öffentlichkeit zurückziehen wolle.

Noch am selben Tag berichtete das Berliner Szenemagazin Siegessäule exklusiv, dass O. bereits 2023 wegen des Besitzes und der Verbreitung von Kinderpornografie rechtskräftig verurteilt wurde. Besonders heikel ist daran, dass O. nach dieser Verurteilung in seiner Rolle als Jurassica Parka an Drag-Veranstaltungen auch mit Kindern beteiligt war. Dies wird nun von Medien aus dem rechten Spektrum ausgeschlachtet, die ohnehin Veranstaltungen mit Drag Queens für Kinder regelmäßig als „Frühsexualisierung“ schmähen.

Trotz solcher Dämonisierungen müssen sich Organisatoren der Drag-Kinderveranstaltungen mit Beteiligung von Mario O. kritische Fragen nach dem Vorhandensein von Schutzkonzepten gefallen lassen. Zum Beispiel, ob überhaupt von allen Künstlern im Vorfeld erweiterte Führungszeugnisse eingefordert wurden. Gesetzlich vorgeschriebene Pflicht ist ein solches Führungszeugnis für alle Personen vorzulegen, die hauptamtlich Umgang mit Kindern haben, bei ehrenamtlichen und nebenberuflichen Tätigkeiten liegt es im Ermessen des Trägers. Wie verschiedentlich auf Social-Media-Plattformen nachzulesen ist, gibt es Träger, die dies von sechzigjährigen Lesepatinnen oder Köchinnen, die einmal jährlich für Sternsinger in ihrer Gemeinde kochen, verlangen. Warum sollte man dann nicht auch in queeren Kontexten diesen Weg gehen?

In der queeren Szene ist man nun gespalten: Während die einen nun vor allem wilde Verdächtigungen über Verrat gegen Mario O.‘s langjährige Bühnenpartnerin Margot Schlönzke in den Äther blasen, fürchten andere vor allem die Reaktionen des politisch rechten Lagers. Um die eigentlichen Opfer, die geschädigten Kinder, geht es nicht mehr.

Blinde Flecken in der Pädodebatte – bis heute

Sowohl die Beratungsresistenz bei Grundgesetzänderungen als auch die Reaktionen auf die Ermittlungen gegen Drag Queen Jurassica Parka weisen auf den Umstand hin, dass vergangene Verstrickungen links-alternativer und schwulenbewegter Milieus mit Pädosexualität bisher nur ungenügend aufgearbeitet wurden. Dem Historiker Jan-Henrik Friedrichs zufolge ist seit Jahrzehnten dem gesamten Umgang mit dem Thema immanent: Die Ausblendung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen.

In seinem immer noch aktuellen und lesenswerten Beitrag „‚Verbrechen ohne Opfer‘? Die ‚Pädophiliedebatte‘ der 1970er Jahre in Sozialwissenschaft und Schwulenbewegung aus machttheoretischer Perspektive“ im Jahrbuch Sexualitäten 2021 schreibt er:

„Neben dem für das links-alternative Milieu und die Schwulenbewegung prägenden Diskurs um ‚Befreiung‘ der Sexualität und sexueller Minderheiten beeinflussten, so meine These, sexual- und erziehungswissenschaftliche Diskursstränge und innerdisziplinäre Logiken die Debatte um eine Legalisierung pädosexueller Handlungen. Darüber hinaus trafen die Argumente der Apologeten der Pädophilie vor allem deshalb auf Verständnis, so meine zweite These, weil gesellschaftliche Machtverhältnisse in der Debatte konsequent ausgeblendet wurden. Dies betraf das Generationenverhältnis, berührte aber auch Fragen von Sexismus, Klassismus und Rassismus.“

Mit einem gesamtgesellschaftlich steigenden Bewusstsein für die Geschädigten wurde das Thema in queeren Kreisen dann stillschweigend unter den Teppich gekehrt:

„So verweist die Nicht-Thematisierung der Pädophiliedebatte etwa bei Jeffrey Weeks möglicherweise auf die Schwierigkeit, diese in eine Erfolgsgeschichte homosexueller Emanzipation zu integrieren.“

Der Historiker Friedrichs zeigt, wie die Diskussion um Pädophilie auch ein Ausdruck der gesellschaftlichen Macht von Männern ist:

„Für ein Verständnis der historischen Vorgänge ist es aber auch nötig, den Blick umzukehren und ihn statt auf die sexistisch, ökonomisch oder rassistisch Marginalisierten auf ihr Gegenstück zu richten: weiße hegemoniale Männlichkeit. Tatsächlich wurde die Debatte um Pädophilie fast ausschließlich von Männern und aus einer männlichen Perspektive geführt. Zumeist ging es dabei um einen als selbstverständlich erachteten männlichen Anspruch auf Erfüllung sexueller Bedürfnisse.“

Um die notwendige Debatte zu unterstützen, stellt die IQN Friedrichs‘ Essay „‚Verbrechen ohne Opfer‘? Die ‚Pädophiliedebatte‘ der 1970er Jahre in Sozialwissenschaft und Schwulenbewegung aus machttheoretischer Perspektive“ jetzt kostenfrei online zur Verfügung:

Hinweis: Eine Weiterverbreitung ist nur mit Angabe der jeweiligen Quelle, also der entsprechenden Jahrbuch-Ausgabe, zulässig. Ebenso ist eine Verwendung für kommerzielle Zwecke ohne Genehmigung untersagt.


304 S., 15 Abb., geb., ISBN 978-3-8353-5023-6, Preis: € 34,90 (D) / € 35,90 (A)

Jahrbuch Sexualitäten 2021

Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Melanie Babenhauserheide, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf.

Mit Beiträgen von Janin Afken, Till Randolf Amelung, Marco Ebert, Jan Feddersen, Uwe Friedrich, Jan-Henrik Friedrichs, Benno Gammerl, Antoine Idier, Jane Clare Jones, Marco Kamholz, Eszter Kováts, Aaron Lahl, Rainer Nicolaysen, Peter Obstfelder, Monty Ott, Peter Rausch, Hedwig Richter, Manuel Schubert, Detlef Siegfried, Vojin Saša Vukadinović, Götz Wienold, Benedikt Wolf und Mesaoo Wrede.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Gentest für die Integrität des Frauensports – Richtig so!

Nach mehreren umstrittenen Fällen mit trans- und intergeschlechtlichen Athletinnen im Frauensport haben mehrere Welt-Spitzenverbände Gentests eingeführt. Nur, wer vor einem Wettkampf nachweisen kann, auch biologisch weiblich zu sein, darf in der Frauenkategorie starten. Das mag einzelne Sportschickale benachteiligen, aber für die Bewahrung des Frauensports insgesamt ist dies eine notwendige Maßnahme.

Ein Sanitäter nimmt mit einem Wattestäbchen einen Wangenabstrich von einer Frau, Symbolbild für Artikel "Gentests für die Integrität des Frauensports – Richtig so!"
Der Wangenabstrich zur Entnahme einer DNA-Probe ist ein unkomplizierter Vorgang (Foto: US-Marine von Mass Communication Specialist 2nd Class Michael Starkey, Quelle: Wikimedia).

24. Oktober 2025 | Jan Feddersen

Am Samstag um 10 Uhr am Vormittag beginnt im österreichischen Sölden die alpine Skisaison mit dem Riesenslalom der Frauen. Wer favorisiert ist, wer sich besonders gut präpariert zu haben scheint für die nachfolgenden olympischen Winterspiele im Februar 2026 in den italienischen Alpen, ist nicht Gegenstand dieses Textes. Im Mittelpunkt steht der Internationale Skiverband FIS, der – wie zuvor die Spitzenverbände der Leichtathletik und des Boxens – Gentests für seine Sportlerinnen eingeführt hat: Mit ihnen soll verhindert werden, dass Frauen, die biologisch eigentlich männlich sind, an einem biologischen Frauen vorbehaltenen Wettkampf teilnehmen.

Gentests gegen Schummeleien

Der Gentest wird durch einen Wangenabstrich diskret und unkompliziert durchgeführt – für alle Athletinnen, die neulich in Tokio bei der Leichtathletik-WM antreten wollten, war diese genetische Prüfung obligatorisch. Auch Sportlerinnen aus Ländern, in denen solche Tests verboten sind, in Frankreich etwa, mussten diese Prozedur durchlaufen, ihnen wurde der Test jenseits ihrer Heimatländer abgenommen. Konkrete Beschwerden gab es keine, prinzipielle indes viele. Dazu später mehr.

Die Tests wurden nötig, weil es in vielen Sportarten, in denen es auf muskuläre Kraft und physiologische Kondition ankommt, zu schummelartigen Auffälligkeiten gekommen war: Frauen haben durchschnittlich einfach weniger Kraft als Männer, ihre physiologischen Grundbedingungen sind denen biologisch männlicher Sportler unterlegen.

Veränderte körperliche Ausgangslage durch Intersex

Der prominenteste Fall: Die südafrikanische Mittelstrecklerin Caster Semenya etwa, olympische Goldmedaillengewinnerin in London 2012, stellte sich bei DNA-Nachprüfungen als genetisch im Vergleich mit ‚normalen’ Frauen bevorteilt heraus. Sie war mit einer genetischen Anomalie geboren worden, das im weitesten Sinne zum Spektrum der Intersexualität zu zählen ist. Konkret hieß das sportlich: Sie, die als Frau aufgewachsen ist und seit langem mit einer Frau zusammenlebt, war – für den Frauensport allen überlegen, im Männersport hingegen hätte sie nicht mithalten können. Semenya hat inzwischen ihre Laufbahn beendet, nachdem sie jahrelang versucht hat, gegen Auflagen wie testosterondämpfende Medikamente vorzugehen.

Caster Semenya und viele ihrer FreundInnen in ihrem Heimatland wie in aller Welt behaupteten, die Prüfungen des Genprofils der Sportlerin verdankten sich auch rassistischen oder antilesbischen Erwägungen – aber das ist durch keine relevante Aussage belegbar. Bei ihr ging es nur darum, dass sie mit genetisch viel besseren Ausgangsbedingungen ausgestattet sei. Historisch ähnelte sie den Schwestern Press aus der damaligen Sowjetunion. Sie waren olympisch erfolgreich in den sechziger Jahren; und sie traten kurz vor der ersten Einführung von Gentests zurück. Das war in einer Zeit, ehe die gruselige Ära der pharmakologischen Manipulationen (Doping) von SportlerInnen begann.

Testosteron macht den Unterschied

Dass einige internationale Sportverbände nun diese Gentests durchführen lassen, ist ein Fortschritt: Intersexuelle Athletinnen oder Transathletinnen, die biologisch immer männlich bleiben werden, sind Frauen gegenüber bevorteilt. Im Schwimmen ist dies skandalisiert worden am Beispiel der Transfrau Lia Thomas, die im Collegesport alle dominierte – woraufhin sich Konkurrentinnen beschwerten und teils gegen sie nicht mehr antreten wollten. Thomas, unter Männern chancenlos, irgendetwas zu gewinnen, nahm zwar am Beginn ihrer Transition testosterondämpfende Medikamente ein, zehrte körperlich jedoch immer noch von einer männlichen Pubertät – sie war also ausgerüstet mit einer männlichen Muskelstruktur und einer männlichen Physiologie.

Transaktivistas machten um den Fall viel Geschrei – richtig war ihre Behauptung insofern, dass Thomas diskriminiert würde. Aber, dies muss wohl einmal nüchtern ausgesprochen werden, nicht jede Diskriminierung ist eine menschenverachtende. Denn in diesem Fall schützt sie eben Frauen vor körperlich noch weitgehend virilisierten, also männlichen Rivalen – und seien sie Trans oder Inter.

Der Fall Thomas hat den Internationalen Schwimmverband bewogen, seine Wettkampfrichtlinien zu ändern. Transfrauen dürften an Frauenwettbewerben teilnehmen, sofern sie ihre körperliche Transition mit dem zwölften Lebensjahr abgeschlossen haben – also vor der Pubertät, die in ihren Fällen eine männliche gewesen wäre. Als Alternative etablierte der Verband bei einigen Wettbewerben eine offene Kategorie für alle Geschlechter und damit auch für Transpersonen – aber niemand wollte und will offenbar an ihnen teilnehmen.

Boxverband führt ebenfalls Gentests ein

Der Boxverband hingegen hat vor seiner jüngsten WM in Liverpool Gentests eingeführt. Nicht an dem Turnier teilgenommen hatte die Algerierin Imane Khelif, die in ihrer Gewichtsklasse beim Olympischen Turnier 2024 in Paris auf dem Weg zur Goldmedaille alle Konkurrentinnen wegdrosch, die sich ihr in den Weg stellten. Das Olympiaturnier sah indes noch keine Gentests vor – deshalb konnte Khelif siegen. In Liverpool trat sie nicht an – und es steht zu vermuten, dass die Athletin, der bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde, aber physiologisch männlich geprägt ist, nie wieder bei einem Frauenturnier boxen wird.

Einer der prominentesten Fälle eines geschlechtlichen Missverständnisses war der der Österreicherin Erika Schinegger: 1966 gewann sie bei der WM in Portillo (Chile) den Abfahrtslauf der Frauen. Vor den Olympischen Winterspielen 1968 im französischen Grenoble musste sie sich einem medizinischen Test unterziehen, wie alle Athletinnen damals. Bei diesem stellte sich heraus, dass Schinegger über männliche Geschlechtsmerkmale verfügt, diese aber nach innen gewachsen waren – ein sehr seltener Fall von Anomalie. Die Österreicherin bzw. der Österreicher musste diese vollkommen unerwartete Wendung im Leben erst einmal verkraften.

Der Weltmeistertitel von 1966 blieb ihm, aber die damals Zweitplatzierte Französin Marielle Goitschel bekam rückwirkend ebenfalls Gold zugesprochen. Wohl um reinen Tisch zu machen wollte Schinegger seine WM-Goldmedaille 1988 Goitschel überreichen, sie lehnte dies jedoch ab.Schinegger fand später in ein Leben als Mann, hat geheiratet und Kinder bekommen. Obwohl er leistungsmäßig auch bei den Männern hätte mithalten können, kam sein Umfeld mit der Wendung um sein Geschlecht nicht klar, und so war die Sportlerkarriere beendet.

Biologische Realität vs. Inklusionswünsche

Aktuell gibt es, besonders in Deutschland, auch Kritik an den Gentests. Die Olympiasiegerin im Weitspringen von 2021, Malaika Mihambo sagte:

„Ein einzelner Gentest klingt nach einer klaren Lösung, ist aber wissenschaftlich verkürzt und blendet aus, dass Geschlecht kein simples Entweder-oder ist. Faire Wettbewerbsbedingungen bestehen aus vielen Faktoren – medizinischen, psychologischen, strukturellen. Wer hier unter Zeitdruck handelt, riskiert, die eigentlichen Gefahren für die Integrität des Sports zu vernachlässigen.“

Das ist schön gesagt, es klingt nach Gerechtigkeitswünschen und Inklusionssehnsucht. Doch selbst der von Anderen geäußerte Hinweis, dass Australiens Schwimmheld Ian Thorpe oder sein US-Konkurrent Michael Phelps über außerordentliche Physiognomien, etwa besonders große Hände, verfügten, verkennt, dass biologische Frauen niemals in Kraft- und Ausdauerdisziplinen mit männlichen Körpern konkurrieren können. Deshalb gibt es Frauensport – und auch dieser musste seit dem frühen 20. Jahrhundert den patriarchalen Verhältnissen abgetrotzt werden. Die Verflüssigung der Geschlechtsverständnisse zum Zweck der Inklusion von Trans und Inter mit biologisch männlicher Pubertät im Hintergrund würde zur Abschaffung des Frauensports führen.

Nebenbei, bzw. doch auch wesentlich: Transfrauen, die in Teamsportarten in Frauschaften (sorry: Frauenteams) antreten, sind ihren biologischen Kolleginnen körperlich überlegen. In den USA haben die Republikaner Donald Trumps eben dies zurecht skandalisiert. Dass Transfrauen in einem faktischen Männerkörper zu einer Gefahr für biologischen Frauen werden – Teamsportarten sind ja meist Kontaktsportarten: Beim Tackling haben Frauen gegen erst nach der Pubertät transitionierte Transfrauen keine Chance.

Dennoch liegt auch Frau Mihambo richtig: Sport hat auch etwas Ungerechtes. Ihre im Badischen angesiedelten Trainingsbedingungen sind nicht die gleichen wie die von Frauen in, sagen wir Burma oder Paraguay. Frauen führen in ökonomisch schwächeren Ländern auch nicht ein so vergleichsweises privilegiertes Leben wie Mihambo. Aber wichtiger für mich ist: Selbst, wenn die Gentests nicht der Weisheit allerletzter Schluss sein sollten, so sind sie ein praktisches Instrument zur Eindämmung von Ungerechtigkeit, denen biologische Frauen im Vergleich mit Personen, die eine biologisch männliche Pubertät durchlaufen haben, ausgesetzt sind. Will sagen: Mögliche Diskriminierungen sind quasi einzupreisen, um die Plausibilität des Ganzen – eben Frauensport – zu bewahren.


Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


ATHENA – Neuer Think Tank gegen Entbiologisierung von Geschlecht

International hat sich seit der Veröffentlichung der Yogyakarta-Prinzipien 2006 ein Geschlechtsverständnis als Paradigma etabliert, das Identität und nicht Biologie als zentral erachtet. Vor allem über internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen, Europäische Union und Europarat wurde dieses Verständnis seit mittlerweile zwanzig Jahren etabliert. ATHENA, ein neugegründeter Think Tank mit der Österreicherin Faika El-Nagashi an der Spitze, kritisiert diese Entwicklungen.

Porträtfoto von Faika El-Nagashi, der Gründerin des neuen Think Tanks ATHENA.
Neues Projekt: Faika El-Nagashi baut den Think Tank ATHENA-Forum auf (Foto: ATHENA-Forum)

5. Oktober 2025 | Till Randolf Amelung

Faika El-Nagashi, ehemalige österreichische Nationalratsabgeordnete für die Grünen, hat sich wegen unvereinbarer Standpunkte zu Geschlecht und zu Transthemen im Besonderen mit ihrer ehemaligen Partei überworfen. Während auch die österreichischen Grünen wie ihre deutsche Schwesterpartei bei Geschlecht auf die Selbstdefinition qua Identität setzen, gehört El-Nagashi in Österreich zu den wenigen öffentlichen Verteidigerinnen der Relevanz biologischer Tatsachen – vor allem für Frauen. Ebenso warnt sie beständig vor den Risiken gender-affirmativer Behandlungen bei Kindern und Jugendlichen.

Nachdem die österreichische Aktivistin schmerzlich erfahren musste, bei den Grünen mit ihren Standpunkten nicht mehr willkommen zu sein, hat sie nun zusammen mit anderen „ATHENA – a european initiative for sex-based rights, democractic values and political courage“ gegründet. Zu El-Nagashis Mitstreitern gehört auch Kurt Krickler, Mitgründer der HOSI Wien und Veteran der österreichischen Schwulenbewegung. Starthilfe gibt es aus Großbritannien von der Organisation Sex Matters.

EU als Schnittstelle

Zur Premiere von ATHENA legen El-Nagashi und ihre MitstreiterInnen einen Bericht vor, der die Europäische Union als wichtige Schnittstelle für die Verbreitung eines entkörperten und entbiologisierten Geschlechterbegriffs vorstellt. Die EU verstand sich von Beginn an auch als Bündnis für Menschenrechte, wie der Report erklärt:

„Die Europäische Union (EU) wurde nicht nur als Wirtschaftsbündnis gegründet, sondern auch als ein politisches Projekt, das auf den Grundrechten aufbaut. Zu ihren frühesten und am klarsten definierten Rechtsgrundsätzen gehört die Gleichstellung von Frauen und Männern, die erstmals 1957 in den EU-Verträgen verankert wurde, um gleiches Entgelt für beide Geschlechter zu gewährleisten. Im Laufe der Zeit wurde dieser Grundsatz auf die Arbeitsbedingungen, die soziale Sicherheit, den Zugang zu Waren und Dienstleistungen, den Mutterschutz und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ausgeweitet.“

Bezog sich „Geschlecht“ in den Dokumenten der EU zunächst auf das biologische Geschlecht, habe sich dies sukzessive hin zu Geschlechtsidentität geändert, den Entwicklungen in der Menschenrechtspolitik folgend. Ein bedeutender Umstand dafür sei laut El-Nagashi et al. die Übernahme des Begriffs „Gender“ in den 1990er Jahren gewesen. Damals habe sich der Begriff „Gender“ jedoch auf das soziale System ungleicher Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern bezogen, das in veralteten Stereotypen über das erwartete Verhalten von Frauen und Männern wurzelt, und nicht auf eine angeborene Identität, die von der biologischen Realität abweicht.

Ideologischer Begriffswandel

Seit mehr als fünfzehn Jahren habe sich in den europäischen Institutionen ein ernsthafter ideologischer Wandel vollzogen, der sich in einer veränderten Sprache, Konzepten, Politik und institutionellen Ausrichtung niederschlage.

Als wichtiges Dokument für die Interpretation hin zur Identität sehen die ATHENA-AutorInnen die Mitte der 1990er Jahre veröffentlichte „International Bill of Gender Rights“, die eine Gruppe US-amerikanischer Transaktivisten verfasst hat. In diesem Dokument plädieren die Aktivisten für die Ersetzung des biologischen Geschlechts durch ein inneres Gefühl der Geschlechtsidentität als Grundlage für rechtliche und soziale Anerkennung. Diese Interpretation habe in den folgenden Jahrzehnten an institutioneller Tragweite gewonnen – auch in der EU.

Für ATHENA ist dies ein fundamentaler Fehler:

„Gender Mainstreaming hat sich von der Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern auf die Förderung der Geschlechtsidentität und des Geschlechtsausdrucks verlagert; Konzepte, die nicht nur vage, sondern letztlich unvereinbar mit der Bedeutung und Funktion des geschlechtsspezifischen Schutzes. Wenn ‚Frau‘ alles bedeuten kann, bedeutet der Begriff letztlich nichts. In dem Maße, wie die Definitionen verschwimmen, verschwimmen auch die Mechanismen, die Frauen schützen sollen. Dienste, die für Frauen und Mädchen gedacht sind, wie z. B. Krisenzentren für Vergewaltigungen oder Sportwettbewerbe, stehen unter dem Druck, Gefühlen Vorrang vor der biologischen Realität einzuräumen.“

Die Institutionen der EU hätten, so ATHENA, LGBTI-Organisationen stark gefördert und ihnen damit eine intensivere Interessensvertretung ermöglicht. In den späten 2000er Jahren begannen transaktivistische Organisationen, den Europarat (CoE) als Anlaufstelle zu nutzen, um Geschlechtsidentität in internationales Recht und Politik einzubinden – mit Erfolg.

Menschenrechte und Geschlechtsidentität

Im Jahr 2008 berief der Menschenrechtskommissar des Europarats, Thomas Hammarberg, ein Expertentreffen mit transaktivistischen Organisationen ein, darunter ILGA-Europe und Press for Change UK. Wichtige Forderungen waren die rechtliche Anerkennung der Selbstidentität, den Zugang zu Dienstleistungen und institutionelle Reformen. Diese Forderungen wurden dann im 2009 veröffentlichten Themenpapier des Kommissars, „Menschenrechte und Geschlechtsidentität“ veröffentlicht und als Prioritäten innerhalb eines internationalen Menschenrechtsrahmens formuliert.

El Nagashi et al. weisen auch darauf hin, dass das maßgebliche Dokument für diese Prioritätensetzung die Yogyakarta-Prinzipien von 2006 sind, die von einer Gruppe international angesehener Menschenrechtsexperten und -expertinnen speziell zur Anwendung des bestehenden Völkerrechts auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität entwickelt wurden. In diesen Prinzipien wurde die Geschlechtsidentität als „eine tief empfundene innere und individuelle Erfahrung des Geschlechts“ definiert und diese Formulierung in den empfohlenen staatlichen Verpflichtungen, dem Verhalten der Medien und den Maßnahmen der Nichtregierungsorganisationen verankert. Im März 2007 wurden die Yogyakarta-Prinzipien auf einer Sitzung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen (UN) offiziell vorgestellt, im November 2017 wurden sie um zehn Punkte erweitert.

Obwohl die Yogyakarta-Prinzipien rechtlich nicht verbindlich sind, haben sie nach ihrer Veröffentlichung im Jahr 2007 schnell an offizieller Bedeutung gewonnen. Sie wurden, wie beabsichtigt, zur leitenden Interpretationshilfe, wie Menschenrechte für LGBTI zu beurteilen sind. Im Jahr 2009 verwies der Menschenrechtskommissar des Europarats im oben erwähnten Themenpapier auf sie und forderte die Mitgliedstaaten des Europarats auf, ihre nationale Gesetzgebung daran anzugleichen.

Wichtige Erfolge dieser transaktivistischen Bemühungen sind Gesetzesänderungen in mehreren EU-Mitgliedsstaaten ab 2014, die Änderungen des Vornamens und Geschlechtseintrags rein per Selbstdefinition und ohne medizinische Nachweise ermöglichen. Doch auch in weitere Felder sei laut ATHENA hineingetragen worden, „Geschlecht“ über Identität und nicht Biologie zu definieren, zum Beispiel in die Entwicklungshilfe, wo die EU einer der größten Mittelgeber weltweit ist.

Unterstützung für gender-affirmative Behandlungen

Doch nicht nur bei rechtlichen Aspekten, sondern auch in medizinischen Fragen wollen europäische Institutionen Einfluss nehmen. Das Papier „Human Rights and Gender Identity and Gender Expression“ des Europarats von 2024 beinhaltete eine Verteidigung geschlechtsangleichender Behandlungen von Minderjährigen inklusive Pubertätsblocker. In den vergangenen sechs Jahren wurde international zunehmend sichtbar, dass die medizinische Evidenz für diesen Ansatz unzureichend ist und damit schwerwiegende gesundheitliche Risiken nicht ausgeschlossen werden können. Besonders gründlich wurde dies für Großbritannien im Report von Hilary Cass dokumentiert – dessen Abschlussbericht ebenfalls 2024 vorgelegt wurde.

Doch dies ficht den Europarat nicht an, das Papier spricht sich eindeutig für den affirmativen Ansatz bei Minderjährigen aus, inklusive Verweis auf die niederländische Pilotstudie von 2011:

„Tatsächlich haben Ärzte beispielsweise in den Niederlanden berichtet, dass transsexuelle Jugendliche bei der Entscheidung, ob und wann sie bestimmte Behandlungsformen in Anspruch nehmen, vorsichtig sind. In mehreren Staaten wurden auch Bedenken geäußert, dass die Betroffenen die Eingriffe später bereuen könnten. Zwar kann das Bedauern über jede Art von medizinischer Behandlung generell ein berechtigtes Anliegen sein, doch gibt es keinen Grund, transspezifische Gesundheitsentscheidungen anders oder mit größerer Besorgnis zu behandeln.“

Dabei sind die Ergebnisse aus den Niederlanden nur begrenzt übertragbar, wie KritikerInnen bemängeln. So hat sich in den vergangenen 10 Jahren das Patientenprofil in den Gender-Ambulanzen deutlich verändert und die Studienergebnisse konnten in anderen Ländern so nicht wiederholt und damit auch nicht bestätigt werden. Politische Parteinahmen für einen medizinischen Ansatz wie vom Europarat bewirken jedoch, dass die wissenschaftliche Diskussion über die Entwicklung nicht offen und sachlich stattfinden kann.

Debatte unerwünscht

In Deutschland wurde dies zuletzt rund um eine Konferenz der Organisation SEGM sichtbar, die von Transaktivisten als „transfeindlich“ diffamiert wurde, weil auf dieser Konferenz die Risiken des gender-affirmativen Modells im Zentrum standen. Beteiligte Ärzte wurden von Aktivisten auf Instagram gar zu Feinden stilisiert, was die Bundesärztekammer nun als „inakzeptabel“ und „Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit“ verurteilte.

Die von Faika El-Nagashi mitbegründete Initiative ist angetreten, diesen Entwicklungen etwas entgegenzusetzen und sie überhaupt erst einmal einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Denn auch das ist bemerkenswert: Über all diese Entwicklungen blieb eine öffentliche und konstruktive Debatte bislang aus – insbesondere fehlt eine Rechtsfolgenabschätzung über den Shift von Biologie zu Identität beim Geschlechterbegriff. Ebenso ist in der Medizin eine differenzierte Auseinandersetzung mit den jüngsten Erkenntnissen wie im Cass-Report dringend erforderlich.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.