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„Unsere Art des Liebens und Miteinanderseins ist ein Menschenrecht“

Karfreitagsprozession erinnert an den Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld

IQN-Vorstand Jan Feddersen würdigte in der Berliner Karfreitagsprozession die Pionierleistung des von den Nazis als Schwuler und Jude verfolgten Arztes Magnus Hirschfeld. Zugleich richtete er den Blick darauf, wo heute Leben und Rechte von LGBTIQ akut gefährdet sind.

Jan Feddersen (1.v.L.) trägt zusammen mit drei anderen Teilnehmenden das Kreuz vom Bebelplatz zur St. Hedwigs-Kathedrale.
Jan Feddersen (1.v.L.) trägt zusammen mit drei anderen Teilnehmenden das Kreuz vom Bebelplatz zur St. Hedwigs-Kathedrale. (Foto: Evangelischer Kirchenkreis Berlin-Stadtmitte 2024)

3. April 2024 | Redaktion

Kriege, die Klimakatastrophe, Gewalt gegen LGBTIQ, sexueller Missbrauch, Antisemitismus – diese Themen standen im Mittelpunkt der diesjährigen Berliner Karfreitagsprozession.

Jan Feddersen, Vorstandsvorsitzender der Initiative Queer Nations und Mitglied im Kuratorium der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, wurde eingeladen, am Ort der nationalsozialistischen Bücherverbrennung mit seinem Redebeitrag an Hirschfeld zu erinnern. Ebenso rief er den Prozessionsteilnehmer*innen mit eindrücklichen Worten ins Bewusstsein, dass die heutigen Errungenschaften für LGBTIQ in Deutschland keine Selbstverständlichkeit sind.

Hier im IQN-Blog gibt es Jan Feddersens Rede zum Nachlesen:

Station: Bebelplatz – Thema: Leid Queerer Menschen

Superintendentin Dr. Radosh-Hinder: An der fünften Station unserer Karfreitagsprozession stehen wir auf dem Bebelplatz, wo am 10. Mai 1933 Nationalsozialisten mehr als 20.000 Bücher vor über 80.000 Menschen verbrannten. Unter den Büchern waren auch die des Arztes und Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld, der hier in Berlin in Tiergarten 1919 das Institut für Sexualwissenschaften gründete und bis 1933 leitete. Dort wurden – um es mit einem Wort unserer Tage auszudrücken – queere Menschen beraten und fanden einen Schutzraum. Ab dem 6. Mai 1933 wurde das Institut von NS-nahen Studenten und NS-Funktionären geplündert und zerstört. Neben Büchern aus der dortigen Bibliothek warfen sie bei der Bücherverbrennung wenige Tage später auch eine Büste von Magnus Hirschfeld ins Feuer, der als Jude darüber hinaus noch den Hass der Nationalsozialisten auf sich zog.

Für die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld erinnert der Journalist Jan Feddersen, der auch 1. Vorstand der Initiative Queer Nations ist, an das Leid von Lesben, Schwulen, transidenten und intersexuellen Menschen, das in vielen Regionen unserer Welt unerträglich ist und zunimmt.

Erinnerungstext Jan Feddersen: Ein Aufbruch in Sagbarkeit

Die Erinnerung an Magnus Hirschfeld und seine freiheitlichen Traditionen ist auch eine, die mit gewissem Stolz erfüllen kann: Die Bundesrepublik gehört wie viele Länder in der Welt zu einer Gegend, in der sich schwule Männer, lesbische Frauen, trans Menschen und sich selbst als queer identifizierende Personen frei bewegen können. Manchmal ist das schwieriger als gewünscht, aber im Großen und Ganzen gelingt uns das, allen einzelnen Ängsten vor unliebsamen Situationen zum Trotz, so wie bei mir. Historisch korrekt muss gesagt werden: Der Fortschritt ist nicht vom Himmel gefallen, wir haben ihn selbst bewirkt, er lässt uns spüren, dass eine bessere Welt nicht nur möglich, sondern auch machbar ist. Das ist mitnichten in allen Teilen der Welt so, wir beklagen insofern die Schicksale der Unsrigen, die um ihre Leben fürchten müssen, sofern ihre Art der Liebe kenntlich wird, wenn sie zur Sichtbarkeit kommt oder wenn Einzelne dieser Lebensweise verdächtigt werden. Das ist unser Leiden, mithin unser Auftrag: Für eine Welt sich einzusetzen, die uns als gleich-gültig nimmt, nicht als abschätzig zu Behandelnde oder als Menschen, die kein Leben verdienen, solche, die Aggressionen bewirken.

In unseren Blicken liegt auch ein Mitleiden an dem, was uns peinigt. Es ist ein Trost, dass hierzulande Homo- und Transphobes inzwischen als moralisch unanständig und verwerflich gilt, soviel (Selbst-)Bewusstsein darf sein. Und so bleiben wir untröstlich, wenn wir anerkennen, dass es andernorts gefährlich ist, sich einander als queerliebend zu zeigen. Manche Länder verfolgen unsereins so intensiv, dass wir ums Leben fürchten müssen. In Russland, in Belarus, auch in Ghana, in Uganda und in fast allen arabischen Staaten, ebenso in Iran. Unsere Blicke dorthin bleiben auf Augenhöhe, sie meiden Hochmütigkeit, wenn wir auf andere Länder in schlimmen antiqueeren Verhältnissen schauen. Wir erkennen antifreiheitliche Menschen, die sich auf ihre Kulturen herausreden, um zu erklären, dass wir dort nicht gelitten sind. Und wir können nicht respektieren, wenn Religion, gleich welche, ob das Christentum, der Islam oder das Judentum, wie eine schlechte Apologie angeführt wird, um unsere Minderwertigkeit oder gar Strafwürdigkeit zu begründen.

Mit anderen Worten: Unsere Art des Liebens und Miteinanderseins ist ein Menschenrecht, universell, über alle Kulturen und Traditionen hinweg. Damit folgen wir der Tradition Magnus Hirschfelds und seiner Freundinnen*, wir wissen ihn an unserer Seite wie eh und je.

Superintendentin Dr. Radosh-Hinder: Gedemütigt, verspottet, misshandelt und gefoltert und dem Tod ausgeliefert. Hört auf die Worte des Evangelisten Lukas aus seiner Passionsgeschichte

Schriftlesung Generalsuperintendentin Ulrike Trautwein: Lukas 23,13-27 (Luther 2017)

13 Pilatus aber rief die Hohenpriester und die Oberen und das Volk zusammen 14 und sprach zu ihnen: Ihr habt diesen Menschen zu mir gebracht als einen, der das Volk aufwiegelt; und siehe, ich habe ihn vor euch verhört und habe an diesem Menschen keine Schuld gefunden, deretwegen ihr ihn anklagt; 15 Herodes auch nicht, denn er hat ihn uns zurückgesandt. Und siehe, er hat nichts getan, was den Tod verdient. 16-17 Darum will ich ihn züchtigen lassen und losgeben. 18 Da schrien sie alle miteinander: Hinweg mit diesem! Gib uns Barabbas los! 19 Der war wegen eines Aufruhrs, der in der Stadt geschehen war, und wegen eines Mordes ins Gefängnis geworfen worden. 20 Da redete Pilatus abermals auf sie ein, weil er Jesus losgeben wollte. 21 Sie riefen aber: Kreuzige, kreuzige ihn! 22 Er aber sprach zum dritten Mal zu ihnen: Was hat denn dieser Böses getan? Ich habe keine Schuld an ihm gefunden, die den Tod verdient; darum will ich ihn züchtigen lassen und losgeben. 23 Aber sie setzten ihm zu mit großem Geschrei und forderten, dass er gekreuzigt würde. Und ihr Geschrei nahm überhand. 24 Und Pilatus urteilte, dass ihre Bitte erfüllt würde, 25 und ließ den los, der wegen Aufruhr und Mord ins Gefängnis geworfen war, um welchen sie baten; aber Jesus übergab er ihrem Willen.

26 Und als sie ihn abführten, ergriffen sie einen, Simon von Kyrene, der vom Feld kam, und legten das Kreuz auf ihn, dass er’s Jesus nachtrüge. 27 Es folgte ihm aber eine große Volksmenge und viele Frauen, die klagten und beweinten ihn.

Superintendentin Dr. Radosh-Hinder: Lasst uns gemeinsam die fünfte Strophe des Lieds „O Haupt voll Blut und Wunden“ von Paul Gerhardt singen:

Erkenne mich, mein Hüter, mein Hirte, nimm mich an. Von dir, Quell aller Güter, ist mir viel Guts getan; dein Mund hat mich gelabet mit Milch und süßer Kost, dein Geist hat mich begabet mit mancher Himmelslust.

Jan Feddersens Rede auf YouTube anschauen:

Die Berliner Karfreitagsprozession findet seit 2010 statt. Die ökumenische Prozession ist eine Initiative des Evangelischen Kirchenkreis Berlin-Stadtmitte. Laut Angaben der Veranstalter beteiligten sich in den letzten Jahren mehrere hundert Menschen. Vertreter*innen christlicher Konfessionen führen den Marsch an und tragen traditionell ein großes grünes Kreuz. Beteiligt waren unter anderem Bischof Christian Stäblein von der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, der katholische Berliner Erzbischof Heiner Koch und der griechisch-orthodoxe Bischof Emmanuel von Christoupolis. Nach dem Gottesdienst in der St. Marienkirche am Alexanderplatz beginnt die Prozession und endete nach insgesamt sechs Stationen mit einem Segen der Bischöfe  vor der Hedwigs-Kathedrale auf dem Bebelplatz. Weitere Informationen gibt es auf der Website des Kirchenkreises.

Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Umstrittene Leitlinie für Transkinder

Die Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter wurde am 20. März 2024 der Presse vorgestellt. Trotz international geführter Kontroversen hält man am gender-affirmativen Behandlungsansatz fest. Wie lange noch?

Wie schnell sollen bei geschlechtsdysphorischen Minderjährigen Medikamente eingesetzt werden? (Foto von Mufid Majnun auf Unsplash)

1. April 2024 | Till Randolf Amelung

Die Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter steht nach sieben Jahren Erarbeitungszeit kurz vor der Finalisierung! Vertreter_innen von insgesamt 27 medizinische Fachgesellschaften erarbeiteten diese Leitlinien unter der Leitung des Münsteraner Psychiaters Georg Romer. Auch zwei Trans-Verbände gehörten der Leitlinienkommission an.

Nachdem die Fertigstellung mehrmals verschoben wurde, haben die an der Erstellung beteiligten Autor_innen Dagmar Pauli (Universitätsklinik Zürich), Achim Wüsthof (Endokrinologikum Hamburg), Claudia Wiesemann (Universitätsmedizin Göttingen) und Sabine Maur (niedergelassene Psychotherapeutin) diese Leitlinie Ende März in einer virtuellen Pressekonferenz vorgestellt. Derzeit wird der Leitlinien-Entwurf von den beteiligten Fachgesellschaften kommentiert, bevor die finale Fassung schließlich voraussichtlich im Laufe des Junis veröffentlicht werden kann. Die neue Leitlinie sollte ursprünglich den höchsten Evidenzgrad S3 erreichen, doch die derzeitige Studien- und Evidenzlage in der Medizin gibt diesen Grad nicht her. Daher wurde diese Leitlinie mit dem schwächeren Grad „S2k“ versehen (IQN berichtete). Das bedeutet, die Empfehlungen sind vor allem konsensbasiert. Die neue Leitlinie soll nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich und der Schweiz gültig sein.

Deutschland hält an Pubertätsblockern fest

Während andere europäische Staaten in ihren Leitlinien medikamentöse Behandlungen mit Pubertätsblockern und Geschlechtshormonen bei Minderjährigen sehr zurückgenommen haben, hält die deutsche Leitlinie an dem fest, was auch als gender-affirmativer Ansatz bekannt ist. Insbesondere die skandinavischen Länder haben in den letzten Jahren die Verwendung von Pubertätsblockern stark eingeschränkt, in Großbritannien wurde der Einsatz erst kürzlich verboten.  Gerade in den erwähnten Ländern haben Kenntnisse über Fehlbehandlungen und Risiken dieser medikamentösen Behandlungen zu stärkerer Zurückhaltung geführt und kontroverse Debatten ausgelöst. Schließlich führten systematische Überprüfungen der Evidenzlage dazu, dass in diesen Ländern wieder Psychotherapie den Vorzug vor der Gabe von Medikamenten erhält.

Diese Entwicklungen wurden auch in Deutschland wahrgenommen. Eine Gruppe Psychiater_innen um Florian D. Zepf (Universitätsklinikum Jena) veröffentlichte im Februar ein Paper und bewertete neuere Studien zum gender-affirmativen Ansatz mit Pubertätsblockern und Hormontherapie, die nach den britischen Reviews der Evidenzbasis erschienen sind (IQN berichtete). Das Fazit der Autor_innen fällt negativ aus. Zepf gehörte selbst bis Ende 2022 der Leitlinienkommission an, verließ diese jedoch, weil er gravierende Bedenken gegen den gender-affirmativen Ansatz mit Pubertätsblockern hat.

In der Pressekonferenz begründeten die Expert_innen das Festhalten am gender-affirmativen Ansatz mit Pubertätsblockern mit dem erheblichen Leidensdruck, mit dem junge geschlechtsdysphorische Menschen in die Sprechstunden kommen. Dem „Deutschen Ärzteblatt“ zufolge sagte die Medizinethikerin Wiesemann sinngemäß, dass die Pubertätsblockade diesen jungen Menschen einen Entwicklungsraum für eine reflektierte Entscheidung über die eigene Zukunft ermögliche. „Das zu verweigern, aus Sorge vor Nebenwirkungen, ist medizinisch und ethisch unangemessen. Im Vergleich zu der Krisensituation sind die Nebenwirkungen einer Pubertätsblockade für die Betroffenen in aller Regel unerheblich“, so Wiesemann weiter. Nach Absetzen der Medikamente könne die  körperlich angelegte Pubertätsentwicklung stattfinden, wenn die medizinische Transition nicht mit Geschlechtshormonen fortgeführt werde. Laut „Ärzteblatt“, weise die Leitlinie aber auch darauf hin, dass zum Beispiel die psychosexuelle Entwicklung durch die Blockade verzögert sein könne. Sehr ausführlich würden Auswirkungen auf die Fortpflanzungsfähigkeit behandelt. Die beteiligten Mediziner_innen halten Risiken bei fachgerechter Anwendung jedoch für gering.

Der Endokrinologie Wüsthof sagte zudem laut „Deutschlandfunk“, dass es das Ziel sei zu vermeiden, dass die Betroffenen mit einer lebenslangen Stigmatisierung konfrontiert würden. Damit ist gemeint, dass die körperlichen Veränderungen durch eine unerwünschte Pubertät gar nicht oder nur mühsam korrigiert werden könnten. Durch ein frühzeitigeres Unterbinden der unerwünschten und Einleiten der erwünschten körperlichen Veränderungen könne im Alltag ein konfliktfreieres Leben im Identitätsgeschlecht ermöglicht werden.

Wann sollen Pubertätsblocker eingesetzt werden? Die neuen Leitlinien sehen vor, dass eine persistierende Geschlechtsinkongruenz im Jugendalter entsprechend ICD 11 und zugleich ein geschlechtsdysphorischer Leidensdruck bestehen muss, so das „Ärzteblatt“. Außerdem solle eine Pubertätsblockade nicht präventiv eingesetzt werden, vielmehr müsse die Pubertät begonnen haben.

Kontroverse um Dauerhaftigkeit

Diese Regelungen verweisen auf die besonders strittigen Fragen rund um den Einsatz pubertätsblockierender Medikamente. Im Vordergrund steht die Frage, wie dauerhaft die Diagnose „Geschlechtsinkongruenz“ bzw. „Geschlechtsdysphorie“ im Jugendalter gestellt werden kann. Die körperliche und geistige Entwicklung ist in der Pubertät im Fluss. So besteht die Möglichkeit, dass sich die jungen Menschen mit ihrem Körper und ihren biologischen Geschlechtsmerkmalen versöhnen oder zumindest abfinden können. Auch auf die Möglichkeit einer Detransition, also Schritte einer Geschlechtsangleichung wieder rückgängig machen zu wollen, wurde eingegangen. Dabei betonen die Leitlinien-Autor_innen, dass dieses Risiko gering sei. Ebenso gebe es eine kleine Minderheit, die die Pubertätsblockade abbreche und den Transitionsweg nicht mit Geschlechtshormonen fortführe.

Insgesamt wurde die Leitlinie für geschlechtsinkongruente/geschlechtsdysphorische Kinder und Jugendliche von den Verantwortlichen so präsentiert, dass man einen verantwortungsbewussten Rahmen geschaffen habe, um der Zielgruppe wirksam helfen zu können.

Kritik an den Leitlinien

Nicht alle Mediziner_innen sind davon überzeugt. Kritik daran gibt es vom bereits erwähnten Psychiater Zepf, der gegenüber der Tageszeitung „Die Welt“ sagte, dass es derzeit keine klare medizinische Evidenz für die Behandlung biologisch gesunder Minderjähriger mit Geschlechtsdysphorie mit Pubertätsblockern oder Hormonen gebe und die Leitlinie dies ausblende. „Es gebe aktuell keine eindeutigen Nachweise, dass diese Interventionen tatsächlich eine Geschlechtsdysphorie oder die psychische Gesundheit nachhaltig und substanziell bei Kindern und Jugendlichen verbessere“, wird der Zepf noch in der Zeitung zitiert. Der Mediziner Zepf bezweifelt zudem, dass Jugendliche auf dieser Grundlage eine tatsächlich informierte Zustimmung zur Behandlung geben könnten. Ähnlich sieht es auch sein Mannheimer Fachkollege Tobias Banaschewski. Dieser sagte gegenüber „Die Welt“: „Wir sprechen hier nicht über Erwachsene, die selbst entscheiden können, ob sie sich operieren lassen wollen, sondern über Kinder und Jugendliche, deren Körper sich noch in der Entwicklung befindet.“ Alexander Korte, Psychiater am Universitätsklinikum München und profiliertester Kritiker von frühen affirmativen Behandlungen, beklagte im Interview mit EMMA, dass kritische Stimmen mundtot gemacht werden sollen.

WPATH-Leaks offenbaren medizinethische Mängel

Anfang März machten vor allem im englischsprachigen Ausland Enthüllungen Schlagzeilen, die Zweifel am gender-affirmativen Ansatz befeuern. Die kanadische Journalistin Mia Hughes veröffentlichte zusammen mit der Kernkraftlobbyorganisation Environmental Progress Leaks aus einer Mitglieder-Austauschplattform der World Professional Association for Transgender Health (WPATH), auf der sich auch zu konkreten Fällen aus ärztlicher und therapeutischer Praxis ausgetauscht wurde (IQN berichtete).

Das von Hughes zusammengetragene Material dokumentiert, dass den gender-affirmativen Behandlern Schwachstellen und ungeklärte Risiken der Gabe von Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen sehr wohl bewusst waren und sind, sie aber offenbar keinen Anlass sehen, diesen Ansatz zu hinterfragen. Im Interview mit der deutschen Tageszeitung „Die Welt“ sagte Hughes: „Die Dateien zeigen, dass Patienten, die nur begrenzt oder gar nicht die Tragweite der Behandlungen abschätzen können, von diesen Ärzten auf einen lebensverändernden medizinischen Weg gebracht werden.“ Darunter seien auch Patient_innen mit schweren psychischen Erkrankungen, die Indikationen für Operationen und Hormontherapien bekämen, obwohl sie nicht psychisch stabilisiert seien.

Gerade in Bezug auf Minderjährige zeigen die Leaks eindrücklich, dass viele junge Patienten die Folgen der Behandlungen oftmals nicht einschätzen könnten. Dazu Hughes im Interview: „In dem Video der Podiumsdiskussion äußert ein kanadischer pädiatrischer Endokrinologe, dass er weiß, dass die jungen Patienten, die er bei der medizinischen Transition unterstützt, die Auswirkungen der eingenommenen Hormone auf den Körper nicht verstehen. Sie haben noch nicht die kognitiven Möglichkeiten, zu verstehen, wie sich der Verzicht auf ihre Fruchtbarkeit auf ihr Leben auswirken wird. Er beschreibt, wie schwierig es ist, die Auswirkungen von Pubertätsblockern und geschlechtsangleichenden Hormonen Menschen zu erklären, „die nicht Biologie studiert haben“. Der Endokrinologe vergleicht den Dialog mit einem 13-jährigen Patienten über die Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit mit einem „Gespräch mit einer leeren Wand“. Derselbe Endokrinologe beschreibt dann eine andere Gruppe von Patienten, die er in seiner Klinik behandelt. Das sind die jungen Patienten um die 20 Jahre, die unfruchtbar gemacht und diese Entscheidung bereuen, weil sie jemanden kennengelernt hätten und nun doch über Familie nachdachten. Er berichtet, wie er ihnen dann gerne sagt: „Ach, ein Hund reicht Ihnen jetzt doch nicht mehr aus?“ Genau das hätten sie als Jugendliche nämlich behauptet – sie wollten keine Kinder, ein Hund reiche aus. Ein häufiges Argument von Teenagern.“

Ebenfalls im März bewertete der australische Mediziner Andrew Amos im Fachjournal Australasian Psychiatry den gender-affirmativen Ansatz ebenfalls als unvereinbar mit kompetenter, ethischer medizinischer Praxis. Dadurch, dass der gender-affirmative Ansatz eine differenzierte psychiatrische Diagnostik und Anamnese und ebenso differenzierte Modelle zur Phänomenologie und Psychopathologie gezielt ablehne, könne Amos zufolge nicht sinnvoll beurteilt werden, für wen geschlechtsangleichende Behandlungen hilfreich seien und für wen nicht.

Psychotherapie als Konversionstherapie?

Eine Psychotherapie, die in anderen Ländern wieder erstes Mittel der Wahl bei geschlechtsdysphorischen Minderjährigen sein soll, wird jedoch von Leitlinien-Autor_innen wie Sabine Maur als nicht zielführend erachtet. Maur sagte gemäß „Die Welt“, dass Geschlechtsinkongruenz keine psychische Erkrankung sei und es daher auch keine Indikation für eine Psychotherapie gebe. Als Psychotherapeut_in könne man Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie begleiten, aber ihre Geschlechtsidentität solle bestärkt werden. Mit einem anderen Vorgehen käme man in den Bereich von sogenannten Konversionstherapien. Damit bezieht sich Maur auf das gesetzliche Verbot von oft religiös begründeten Ansätzen Homosexualität „heilen“ zu wollen. In Deutschland umfasst das Verbot solcher „Heilversprechen“ auch die Geschlechtsidentität. Transaktivistische Akteur_innen wollen jedoch nicht nur zu Recht als gefährlich und zweifelhaft geltende Angebote als Konversionstherapie verstanden wissen, sondern auch Therapie und Diagnostik, die den psychotherapeutischen Grundsätzen entsprechen. Der Psychiater Korte kritisierte die Äußerungen Maurs gegenüber EMMA als „Ausdruck eines essentialistischen Denkens“ und bescheinigte einen Mangel an entwicklungspsychologischem Verständnis.

Einige Lesben und Schwule üben scharfe Kritik an einem gender-affirmativen Ansatz, der ihrer Ansicht nach mitunter zu schnell in die Gabe von Medikamenten münde und den Weg für eine Geschlechtsangleichung festige. Die Kritik rührt daher, dass geschlechtsdysphorisches Empfinden auch Teil einer krisenhaften homosexuellen Entwicklung sein kann. Einige Studien untermauern dies eindrücklich, denn darin wurde festgestellt, dass sich bei gut 90 Prozent geschlechtsdysphorischer Jugendlicher dieses Empfinden wieder auflösen und in ein homosexuelles Coming-out münden kann.

Warum eine zugewandte, dem Stand der Wissenschaft entsprechende Psychotherapie bei Geschlechtsdysphorie mit Konversionstherapie gleichgesetzt wird, eine medikamentöse Intervention mit schwacher Evidenzbasis aber nicht, erscheint klärungsbedürftig.

Danach gefragt, wie die gegenüber Pubertätsblockern zunehmend kritischer gewordene Diskussion im Ausland die Arbeit an der deutschen Leitlinie beeinflusst habe, antwortete Dagmar Pauli: „Also wir haben sie immer zur Kenntnis genommen. Wir haben alles dazu gelesen. Wir haben uns aber auch immer wieder abgegrenzt“ Pauli verwies als Beispiel besonders auf Großbritannien, wo Minderjährige mit Geschlechtsdysphorie nur ein einziges Zentrum hatten und die Lage allein „schon wegen der Wartezeiten katastrophal war“.  In den DACH-Ländern sei die Versorgung anders strukturiert und die Qualität der Versorgung sei nicht gleichzusetzen. Ebenso seien jüngste Empfehlungen aus Großbritannien, insbesondere dezentrale Versorgung und sorgfältige Abklärung hier schon längst umgesetzt. Anfang des Jahres jedoch, stand Pauli selbst in der Kritik. Eine Elterngruppe warf ihr vor, die Diagnose „Geschlechtsdysphorie“ zu vorschnell zu stellen.

Nun bleibt abzuwarten, bis die finale Version der Leitlinie veröffentlicht wird. Die Auseinandersetzung darüber, wie man jungen Menschen mit Geschlechtsdysphorie am besten behandeln sollte, wird auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz weitergehen.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Sind Schwule rechts?

Eine Umfrage auf dem schwulen Datingportal „Planet Romeo“ schockierte: die Mehrheit der befragten Männer würde bei der Europawahl die AfD wählen. Wie konnte das passieren?

Welche Partei würden Schwule bei der Europawahl wählen? (Foto von Mika Baumeister auf Unsplash)

24. März 2024 | Till Randolf Amelung

„Umfragehammer: Rechtsruck in der schwulen Szene“, titelte das Community-Medium „männer*“ am 12. März 2024. Eine von „männer*“ in Auftrag gegebene und über das Datingportal „Planet Romeo“ durchgeführte Umfrage wollte von „Romeo“-Usern wissen, welche Partei sie bei der Europawahl am 9. Juni 2024 wählen würden. An der nicht-repräsentativen Umfrage nahmen rund 10.000 „Romeos“ teil. Für die AfD entschieden sich 22,3 Prozent der Teilnehmer, für die CDU/CSU 20,6 Prozent und knapp dahinter auf Platz 3  Bündnis90/Die Grünen mit 20,5 Prozent. Für die „alte Tante“ SPD konnten sich nur 13,9 Prozent erwärmen. Das Bündnis Sahra Wagenknecht erreichte aus dem Stand mit 7 Prozent, knapp mehr Zustimmung als DIE LINKE mit 6 Prozent. Für die Freien Wähler würden 4,9 Prozent der Befragten stimmen, die FDP landete mit 4,8 Prozent auf dem letzten Platz.

Wichtige Informationen fehlen

Bis auf die effektheischende Überschrift und die knappe Wiedergabe der Umfrage-Ergebnisse bleibt „männer*“ eine genauere Einordnung der Ergebnisse leider schuldig. So erfährt man keine näheren Details, zum Beispiel zu demografischen Differenzierungen oder darüber, welche Themen die Auswahl bestimmt haben. Es könne auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Umfrage manipuliert worden sei, so das Onlinemagazin „queer.de“ und die Nachrichtenplattform „DER WESTEN“. „Queer.de“ ist zudem überrascht, „dass mit der AfD und dem BSW fast ein Drittel der „Romeo“-Nutzer Parteien unterstützen würden, die am äußersten politischen Rand stehen und sich ausdrücklich gegen LGBTI-Rechte aussprechen.“ „Queer.de“ hat zudem im Januar 2024 selbst eine ebenfalls nicht-repräsentative Umfrage mit der Frage gestartet, welche Partei man bei einer Bundestagswahl wählen würde. In dieser Umfrage entschieden sich für Bündnis90/die Grünen knapp über 40 Prozent der Befragten, die AfD erreichte knapp zwölf Prozent. An der Umfrage nahmen innerhalb einer Woche rund 1.400 Personen teil. Eine repräsentative Befragung vor der Bundestagswahl 2021 bestätigt eher die Tendenz der aktuelleren „queer.de“-Umfrage. In dieser Befragung, die ein Forschungsteam des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Gießen in Kooperation mit dem Lesben- und Schwulenverband Deutschlands e.V. (LSVD) durchführte, wollten 52,6 Prozent der Teilnehmenden die Grünen wählen und lediglich 2,6 Prozent präferierten die AfD.

In Bezug auf die Europawahl jedoch zeigen aktuelle Umfrageergebnisse in der deutschen Bevölkerung allgemein, dass die CDU/CSU einen komfortablen Vorsprung gegenüber allen anderen Parteien hat. Die Gesamttendenz scheint für die Europawahl in Deutschland also eher zumindest zugunsten der Konservativen zu gehen. In der „männer*“-Umfrage kommt die Union immerhin auf den zweiten Platz, was den Gesamttrend bestätigt.

Was die AfD für einige Schwule attraktiv macht

Der Lesben- und Schwulenverband Deutschlands e.V. (LSVD) rief kürzlich LGBTI dazu auf, nur LGBTI*-freundliche Parteien zu wählen. „SCHWULISSIMO“ sieht diesen Aufruf mutmaßlich im Kontext der Ergebnisse der „männer*“-Umfrage, nach denen aktuell auch viele schwule und bisexuelle Männer mit konservativen und rechten Parteien zu sympathisieren scheinen. Bereits bei der Wiederholung der Berlin-Wahl hätten laut „SCHWULISSIMO“ viele Schwule die CDU gewählt.

Welche Gründe könnten hier nun eine Rolle spielen? Im vergangenen Jahr fragte „Buzzfeed“ AfD-Sympathisanten aus der LGBTI-Community, warum sie ausgerechnet eine Partei wählen würden, die sich wiederholt queerfeindlich äußert. Zwei Kritikpunkte wurden besonders stark gemacht: Fehlende Thematisierung von queerfeindlicher Gewalt durch Männer mit muslimischem Hintergrund sowie Durchdrücken eines Selbstbestimmungsgesetzes ohne öffentliche Debatte.

Die mangelhafte Thematisierung queerfeindlicher Gewalt durch Männer mit muslimischem Hintergrund konnte man zum Beispiel Ende 2022 sehen, als der Berliner Senat den zweiten Monitoringbericht zu homo- und transphober Gewalt veröffentlicht hatte. Darin wurde eine Beschäftigung mit den Täterprofilen weitgehend vermieden, obwohl genau dies für zielgerichtete Präventionsarbeit notwendig wäre. Auch Oliver L., der in Dresden einen islamistisch motivierten Anschlag schwer verletzt überlebte, sein Partner jedoch verstorben ist, beklagte in einem Interview mit dem „Weissen Ring“, dass Islamismus als Tatmotiv zu wenig gewürdigt wurde.

Das Selbstbestimmungsgesetz, welches das Transsexuellengesetz (TSG) ersetzen soll und eine amtliche Vornamens- und Personenstandsänderung ohne jedweden Nachweis über eine dauerhafte und ernsthafte Transidentität ermöglichen soll, gilt ebenfalls als umstritten. Momentan stockt dieses Gesetzesvorhaben im parlamentarischen Verfahren, denn es fehlen noch die zweite und dritte Lesung inklusive Abstimmung. Aktuell ist ungewiss, wann es weitergeht. Alle größeren LGBTI-Verbände unterstützen dieses Vorhaben, ungeachtet wachsender kritischer Stimmen, insbesondere von Schwulen und Lesben. Die von Florian Greller gegründete Interessensvertretung „Just Gay“ zum Beispiel, wehrt sich gegen eine Definition von Schwulsein, die vom biologischen Geschlecht als Referenzpunkt entkoppelt wird und fordert das Recht, sich entsprechend zu organisieren und auch „unter sich“ bleiben zu dürfen. Dementsprechend möchten sich Greller und seine Mitstreiter explizit als „schwul“ und nicht als „queer“ verstanden wissen.

Ähnlich äußerte sich auch der CDU-Politiker und Bundesgesundheitsminister a.D. Jens Spahn im November 2023 gegenüber dem rechtspopulistischen Medium „NIUS“. Spahn halte das geplante Selbstbestimmungsgesetz für ein Risiko für Frauenrechte. Zudem bezeichne er sich selbst nicht als „queer“, sondern als „schwul“. „Queer“ stehe seiner Ansicht nach für eine bestimmte Form der Identitätspolitik, die er ablehne.

AfD-Chefin Alice Weidel erregte ebenfalls Aufsehen, als sie sich 2023 im ARD-Sommerinterview dazu bekannte, „nicht queer“ zu sein, sie sei mit einer Frau verheiratet, die sie seit 20 Jahren kenne. Auch Weidel lehnt das Selbstbestimmungsgesetz ab. Gerade Weidel scheint als offen lebende lesbische Frau, die mit einer aus Sri Lanka stammenden Frau verheiratet ist, die AfD für konservativere Schwule und Lesben zu „entschärfen“ und damit wählbar zu machen.

Keine Illusionen über die AfD machen

Doch wie im Grimm’schen Märchen „Rotkäppchen“, hat auch dieser Wolf nur Kreide gefressen: Ungeachtet der Vorzeige-Lesbe an der Parteispitze, wurde mit Maximilian Krah für die Europawahl ein stramm-reaktionärer Katholik als Spitzenkandidat nominiert, der sich wiederholt feindlich und abwertend gegenüber allem äußerte, was nicht heterosexuell ist. Zudem zeigte der Trubel um einen Mitgliedsantrag des deutsch-türkischen schwulen Influencers Ali Utlu, dass viele Mitglieder der AfD völkisch-rechts eingestellt sind. Utlu, der sich auf Twitter dem Kampf gegen „woke“ verschrieben hat und sich für keinen Krawall zu schade ist, sollte laut vieler Kommentare lieber abgeschoben werden. Daraufhin zog Utlu seinen Antrag wieder zurück. Insofern sind Warnungen an LGBTI mehr als berechtigt, die AfD ernsthaft als Alternative an der Urne in Betracht zu ziehen.

Schwule wählen nicht nur als Schwule

Das Heizungsgesetz brachte viel Unmut (Foto von Anton Maksimov auf Unsplash)

Die schockierten Reaktionen auf die Ergebnisse der „männer*“-Umfrage muten allerdings mitunter realitätsfern an. Die Unzufriedenheit in Deutschland mit der derzeitigen Ampel-Koalition in der Bundesregierung macht nicht vor schwulen Männern halt. Auch Schwule sind nicht nur schwul, sondern sie können auch als Unternehmer, Eigenheimbesitzer, Arbeitnehmer oder natürlich mit Interesse an innerer Sicherheit Wahlentscheidungen treffen. Als das umstrittene Heizungsgesetz hitzig debattiert wurde und auch eine Pflichtberatung zur Heizungsart im Raum stand, konnte man sich fragen, wieso man Bürger_innen die Wahl des Geschlechtseintrags eigenverantwortlich zutrauen wolle, aber die Wahl der Heizung nicht. Es reicht eben als Partei nicht aus, Regenbogenfähnchen zu schwenken oder mit vorgestanzten identitätspolitischen Aussagen um sich zu werfen, wenn man Schwule als Wähler gewinnen möchte.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Kritik unerwünscht – Wie Medien zum Sprachrohr von Transaktivisten gemacht werden sollen

Weltweit häufen sich kritische Berichte und Enthüllungen, die zeigen, wie riskant der gender-affirmative Ansatz eigentlich ist. Nun versuchen Transaktivisten, Druck auf Journalisten auszuüben, um unliebsame Berichterstattung zu verhindern.

Transaktivist_innen wollen kritische Journalist_innen muten. (Foto von Josh Eckstein auf Unsplash)

21. März 2024 | Till Randolf Amelung

Martina Lenzen-Schulte ist eine erfahrene Fachjournalistin, die im Bereich Medizin tätig ist.  Ihr Spezialgebiet ist die Beckenbodengesundheit von Frauen. Zuletzt berichtete sie für das „Deutsche Ärzteblatt“ auch über die international geführte fachliche Kontroverse um die angemessene Behandlung von Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie – also einem tiefgreifenden Leiden an den körperlichen Geschlechtsmerkmalen. Im Zentrum dieser Kontroverse steht die Frage, wie schnell bei Minderjährigen medikamentöse und chirurgische Maßnahmen erfolgen sollten – und ob überhaupt. In ihren Artikeln geht Lenzen-Schulte auch auf ungeklärte oder nicht ausreichend gewürdigte Risiken von geschlechtsangleichenden Behandlungen ein.

In einem Telefonat betont sie, dass sie gerade durch ihre umfassenden Kenntnisse im Bereich Beckenbodengesundheit die Tragweite von geschlechtsangleichenden Operationen und bisher dazu vorhandene medizinische Informationen gut einschätzen könne. Doch plötzlich wird sie beschuldigt, Desinformation zu verbreiten. Vorgebracht werde dies durch eine Gruppe von Psychotherapeut_innen, die Transpersonen begleiten. Diese hätten sich, so Lenzen-Schulte, in einer offenbar koordinierten Aktion an die Chefredaktion und den wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Ärzteblatts gewandt. Ziel: Ihre kritische Berichterstattung zu stoppen. „So etwas habe ich in meiner über 30-jährigen Tätigkeit noch nie erlebt!“, sagte sie gegenüber dem Blog der Initiative Queer Nations e.V.

Vor allem habe sich niemand dieser Psychotherapeut_innen auch direkt an sie gerichtet. Lenzen-Schulte benennt das eigentlich übliche Vorgehen: „Normalerweise würde man sich mit einzelnen Artikeln über einen Leserbrief auseinandersetzen, und ich nehme mir immer die Zeit, jede Leserzuschrift zu beantworten.“ Dann hätte sie in einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Kritiker_innen ihre Ausführungen erläutern und belegen können. Im Telefonat betonte sie mehrfach, dass in ihren Artikeln auch das gesamte, sehr divergierende Spektrum an Standpunkten innerhalb der Fachwelt zu Wort gekommen sei, um in der hochaufgeladenen Debatte allen Aspekten gerecht zu werden. In Fachkreisen, zum Beispiel vom emeritierten Medizinprofessor Helmut Schatz, der den Blog der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie betreut, wird Lenzen-Schultes Arbeit sehr geschätzt und ihre Texte als „fachlich fundiert“ bewertet.

Weitere Angriffe auf kritische Berichterstattung

Die Attacken auf die Medizinjournalistin des „Deutschen Ärzteblatts“ sind keine unrühmliche Ausnahme. In der Schweiz wird die Journalistin Michèle Binswanger, die für den „Tages-Anzeiger“ schreibt, von einem Bündnis mehrerer Organisationen, darunter Jugendorganisationen von Parteien sowie Transgender Network Switzerland und feministische Gruppen, in einem Offenen Brief angegriffen. Im Gegensatz zu der Gruppe, die Lenzen-Schulte attackiert, agieren die Gegner_innen von Binswanger öffentlich, ihr Brief ist im Internet einsehbar. Darin heißt es unter anderem: „Insbesondere sehen wir die Darstellung von trans Themen im Tages-Anzeiger durch Artikel von Michèle Binswanger oder in Artikeln des SRF zum Thema Detransitioning als problematisch an. Diese Beiträge konzentrieren sich darauf, Sorgen in der Schweizer Bevölkerung zu schüren, und vergessen dabei die Rechte und Bedürfnisse der betroffenen Personen.“ Eine kritische, differenzierte Berichterstattung verstärke nach Ansicht der Briefverfasser_innen „ein gefährliches Narrativ, dass Zweifel an der Legitimität und Notwendigkeit von Transidentitäten und -erfahrungen sät.“

Ironischerweise schreiben sie im nächsten Absatz: „Die Medien müssen ihre Verantwortung ernst nehmen und eine Berichterstattung anbieten, die die Vielfalt der trans Erfahrungen anerkennt und widerspiegelt.“ Daher fordert das Bündnis: „Der Tages-Anzeiger und die Schweizer Medien müssen sich davon distanzieren, öffentlich Stigmatisierung zu propagieren, und sollten sich stattdessen darauf konzentrieren, trans Personen als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft darzustellen. Die persönlichen Meinungen von Journalist*innen wie Frau Binswanger müssen entsprechend deklariert werden und dürfen die offizielle Berichterstattung des Tages-Anzeigers nicht länger mit gefährlichen Narrativen und transfeindlichem Framing prägen.“

Binswangers Artikel zum Thema befassen sich ebenfalls mit den Kontroversen rund um die angemessene Behandlung von geschlechtsdysphorischen Minderjährigen, aber auch mit Konflikten zwischen bedingungsloser Anerkennung von Transpersonen und Frauenrechten. Der angeführte Beitrag des öffentlich-rechtlichen Senders SRF, der ebenfalls von den Aktivist_innen abgelehnt wird, befasst sich mit dem Phänomen „Detranstion“ – damit ist gemeint, eine vollzogene oder sich vollziehende sogenannte Geschlechtsangleichung soweit möglich rückgängig machen zu wollen. Allerdings bezieht der SRF-Beitrag auch Perspektiven von Transpersonen mit positiven Erfahrungen mit ein.

Leerstellen im positiven Bild von Geschlechtsangleichungen

Es scheint, als seien Transaktivist_innen Medienberichte ein Dorn im Auge, die aktivistische Forderungen in Frage stellen könnten, wonach jede Selbstäußerung einer Transidentität unhinterfragt zu akzeptieren sei. Viele Jahre lief Medienberichterstattung über Trans vornehmlich zugunsten der Aktivist_innen, indem persönliche Schicksale in den Mittelpunkt gestellt wurden, bei denen eine Geschlechtsangleichung die Ultima Ratio für ein gelingendes Leben war und natürlich einen positiven Ausgang hatte.

Als jedoch international über Anpassungen von medizinischen Leitlinien und gesetzliche Regelungen diskutiert wurde, deren Ziel eine Vereinfachung des Zugangs zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen ist, wurde deutlich, dass die medikamentösen und chirurgischen Behandlungen gerade bei Minderjährigen als experimentell eingestuft werden müssen. Zumal auch in allen westlichen Ländern aus bislang ungeklärten Ursachen die Zahl der Behandlungssuchenden anstieg, besonders unter Mädchen im Teenageralter.

Zugleich traten vermehrt Menschen, unter ihnen viele junge Frauen, an die Öffentlichkeit, die eine Geschlechtsangleichung inzwischen bereuen. Ebenso organisierten sie sich Vernetzungs- und Austauschplattformen, zum Beispiel auf Reddit. Das Forum dort hat, Stand März 2024, mittlerweile 52.831 Mitglieder. Die Britin Keira Bell machte 2020 international Schlagzeilen, weil sie gegen ihre früheren Behandler, den Gender Identity Developement Service (GIDS) der Londoner Tavistockklinik vor Gericht zog. Bell suchte als Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie im GIDS Hilfe, stellte aber als junge Erwachsene fest, dass sie keine geschlechtsangleichenden Behandlungen, sondern gute psychotherapeutische Unterstützung gebraucht hätte. Mit einer solchen Unterstützung hätte sie schon als Teenager mit Geschlechtsdysphorie als lesbische junge Frau erkannt werden können, statt als transitionsbedürftig. Dies hätte bei ihr eine Mastektomie sowie bleibende Veränderungen durch die eigentlich nicht erforderliche Testosteronbehandlung verhindert.

In Schweden führte 2018 ein Vorhaben der damals regierenden Sozialdemokraten, Altersgrenzen für eine Vornamens- und Personenstandsänderung sowie Einwilligung in geschlechtsangleichende medizinische Behandlungen drastisch senken zu wollen, zu kritisch-investigativer Berichterstattung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Diese wiederum hatte zur Folge, dass schwedische Gesundheitsbehörden die Evidenzbasis für den gender-affirmativen Ansatz mit Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen untersuchten und als „mangelhaft“ beurteilten. In Großbritannien folgte auf Bell vs. GIDS der Cass-Review, der ein ähnliches Resultat brachte. Der GIDS wird als eine Konsequenz aus diesem Review inzwischen abgewickelt. Mittlerweile sind alle skandinavischen Länder und Großbritannien vom gender-affirmativen Ansatz bei Minderjährigen wieder abgerückt. Das heißt, für Minderjährige mit Geschlechtsdysphorie soll wieder Psychotherapie die erste Wahl sein, anstatt sie zügig einer medikamentösen und später chirurgischen Behandlung zuzuführen.

Auch in Deutschland nimmt die Kritik zu, Ende Februar wurde der Artikel „Beyond NICE: Aktualisierte systematische Übersicht zur Evidenzlage der Pubertätsblockade und Hormongabe bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie“ veröffentlicht. Deren Autor_innen setzen sich mit den britischen Untersuchungsberichten zur Evidenzbasis für das gender-affirmative Behandlungskonzept auseinander sowie mit neueren Studien auf diesem Feld. Auch hier lautet die Bewertung „mangelhaft“.

Zunehmende Kritik als Gefahr

Unter diesen Rahmenbedingungen steht in Deutschland nun die Veröffentlichung der neuen Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung“ kurz bevor. Mutmaßlich wird diese Leitlinie weiterhin an Pubertätsblockern als Behandlungsoption festhalten, obwohl auch hierzulande die Kritik daran wächst.

Die Gemengelage ist hochkomplex, aber die derzeitigen Entwicklungen lassen erahnen, dass den Transaktivist_innen und ihren Verbündeten offenbar die Felle davonschwimmen. Daher wird nun versucht, Journalist_innen einzuschüchtern, um mit antidemokratischen, totalitären Mitteln einen Diskurs zum eigenen Vorteil zu beeinflussen. Die Aufgabe von Journalistinnen wie Martina Lenzen-Schulte ist es jedoch, gerade in so einer Situation die Komplexität zu vermitteln und nicht zur PR-Agentur von Aktivisten zu werden. Dazu sagte Lenzen-Schulte IQN gegenüber: „Es ist unser Auftrag als Journalisten, alle Facetten darzustellen und gerade in der Medizin ist das wichtig! Nur, wer alle Aspekte einer Behandlung kennt, kann eine informierte Einwilligung geben.“ Dazu gehören auch beim Thema Trans Nebenwirkungen von Medikamenten und unerwünschte Folgen von Operationen sowie Berichte von unzufriedenen Patient_innen. Trans darf eben nicht ausschließlich auf Glitzer, selbst erdachte Pronomen und bunte Flaggen reduziert werden. Das Bonmot „Sagen, was ist!“ des SPIEGEL-Gründers Rudolf Augstein, gilt nicht nur dann, wenn es zu den eigenen Zielen passt.

Ergänzung vom 24. März 2024: Auch Radio Canada scheint von Transaktivist_innen ins Visier genommen worden zu sein. Der kanadische öffentlich-rechtliche Sender hatte Anfang März in einem ausführlichen und differenzierten Beitrag über die Probleme mit frühzeitiger medikamentöser und chirurgischer Intervention bei Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie berichtet (siehe auch unseren Blogbeitrag). Nun wurde auf einem linksradikalen Blog ein Bekennerschreiben einer transaktivistischen Gruppe veröffentlicht. In diesem bekennen sie sich, in der Nacht vom 12. auf den 13. März 2024 Fensterscheiben des Sendergebäudes eingeworfen zu haben – weil ihnen die Berichterstattung nicht passte.

Hinweis in eigener Sache: Dr. med. Martina Lenzen-Schulte wird auch einen Beitrag im Jahrbuch Sexualitäten 2024 veröffentlichen. Die Release-Party findet übrigens am 5. Juli 2024 in Berlin statt – wir empfehlen sehr, sich diesen Termin vorzumerken!


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Texte von ihm, insbesondere zu politischen, transaktivistischen Zielen, sind auch im Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze) erschienen. Darin hat er ebenfalls auf die Mängel beim gender-affirmativen Ansatz und die Entwicklungen im Ausland hingewiesen. Im November 2023 war er auf Einladung der CDU/CSU-Fraktion Sachverständiger im Familienausschuss zum Selbstbestimmungsgesetz.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Essay von Alexander Zinn zur Kritik an Judith Butler online

In loser Folge stellen wir Aufsätze aus älteren Ausgaben des Jahrbuchs Sexualitäten gratis zum Download bereit. Passend zur Kontroverse um Judith Butlers Aussagen zum antisemitischen Hamas-Terror gegen Israelis kommt nun der Essay des Historikers Alexander Zinn „Von Blüher zu Butler. Über die zerstörerische Wirkung queerer Identitätspolitik“. 

Pronomen als Ausdruck der Geschlechtsidentität zu sehen, ist eine aktivistische Konsequenz aus Judith Buters Theorien (Foto von Alexander Grey auf Unsplash)

9. März 2024| Redaktion 

Alexander Zinn, Historiker und früherer Aktivist für Schwulenrechte, kritisiert in seinem Essay den heutigen queeren Aktivismus für das Zentrieren einer Opferkultur und der Verweigerung rationaler Auseinandersetzungen. Gespeist wird diese Haltung unter anderem von der Queer Theory nach Butler, bei der die Grenzen zwischen sozialwissenschaftlicher Theorie und politischer Ideologie verschwimmen und deren wissenschaftliche Evidenz streitbar ist. Zinn sieht in solch radikalen politischen Theorien Gefahren, dass sie bereits erreichte Erfolge von Bürgerrechtsbewegungen wieder zunichte machen können.

Dieser Essay wurde zuerst im Jahrbuch Sexualitäten 2022 veröffentlicht und ist nun mit freundlicher Genehmigung des Wallstein-Verlags frei zugänglich. Eine Weiterverbreitung ist nur mit Angabe der jeweiligen Quelle, also der entsprechenden Jahrbuch-Ausgabe, zulässig.

➡ Zum kostenlosen Download des Essays als PDF

Der Essay basiert auf einem Livestream-Vortrag, der am 17. Mai 2021 als taz Talk meets Queer Lectures gehalten wurde. Eine Aufzeichnung ist auf YouTube verfügbar.

Auf ein Wort in eigener Sache

Die Intiative Queer Nations arbeitet ehrenamtlich. Wir stellen diesen Text zum kostenlosen Download bereit. Die Produktion und der Druck des Jahrbuchs Sexualitäten sind indes nicht kostenlos.

Deshalb freut sich Queer Nations jederzeit über Unterstützung mittels Spenden oder Mitgliedschaften: queernations.de/unterstuetzen

Vielen Dank für Ihren Support.


Ideologisch getriebene Verantwortungslosigkeit

WPATH-Files bestätigen Risiken des gender-affirmativen Ansatzes

Der gender-affirmative Ansatz insbesondere bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie ist heftig umstritten. Geleakte Inhalte einer Austauschplattform für Mediziner_innen zeigen, wie riskant dieser Behandlungsansatz für die Patient_innen sein kann.

Ein Sturm zieht auf – auch beim gender-affirmativen Ansatz. (Foto von Raychel Sanner auf Unsplash)

8. März 2024| Till Randolf Amelung

Es steht nicht gut um geschlechtsidentitätsbejahende Behandlungen. International häufen sich die Enthüllungen und Berichte, die allesamt in eine Richtung weisen: der gender-affirmative Ansatz zur Behandlung von Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie – also einem tiefgreifenden Leiden unter den körperlichen Merkmalen des biologischen Geschlechts – hat eine unzureichende Evidenzbasis. Das bedeutet, das Verhältnis von Nutzen und Risiken ist zu wenig geklärt. Das gender-affirmative Behandlungsmodell sieht eine schnelle Bestätigung der Selbstaussage eines Kindes oder Jugendlichen über die Geschlechtsidentität nicht nur mit sozialer Anerkennung, sondern auch mit Medikamenten wie Pubertätsblockern und Geschlechtshormonen vor. Für Kontroversen sorgen vor allem Berichte von Menschen, die ihre Geschlechtsangleichung bereuen sowie massiv gestiegene Zahlen bei biologisch weiblichen Teenagern und jungen Frauen, die eine Transition zum Mann begehren. Dies nicht von Kindesbeinen an, sondern oft erst mitten in der Pubertät.

Vergangene Woche veröffentlichte eine Gruppe deutscher Psychiater_innen um Florian D. Zepf (Universitätsklinikum Jena) eine „systematische Übersicht zur Evidenzlage der  Pubertätsblockade und Hormongabe bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie“. Die Autor_innen stuften die Evidenzlage als „mangelhaft“ ein. Parallel dazu konnte man bei dem Vorhaben der Erarbeitung einer neuen Leitlinie für die Behandlung von geschlechtsdysphorischen Minderjährigen plötzlich nachlesen, dass diese nicht mehr den höchsten Evidenzgrad „S3“ erreicht, sondern nur noch „S2k“.

Hormonrezept nach 17 Minuten in Kanada

In Kanada brachte der öffentlich-rechtliche Sender Radio Canada zum Monatsanfang eine Reportage über die Probleme in diesem medizinischen Feld. Auch in Kanada ist der gender-affirmative Ansatz verbreitet. Das Reporterteam setzte eine 14-jährige Schauspielerin als Lockvogel ein und ließ sie sich in einer privaten Arztpraxis vorstellen. Nach einem insgesamt 17-minütigen Ersttermin bekam das Mädchen ein Testosteronrezept. Ohne sorgfältige Exploration ihrer Biografie und psychischen Gesundheit. Von den Reporter_innen damit konfrontiert, erwiderte die Ärztin, dass sie im Einklang mit den Standards of Care der World Professional Association for Transgender Health (WPATH) gehandelt habe. Die WPATH ist mit den von ihnen herausgegebenen Standards of Care eine international beachtete Autorität, an der sich der medizinische und therapeutische Umgang mit geschlechtsdysphorischen und geschlechtsinkongruenten Menschen in allen Altersstufen orientieren soll. Sie wollen den aktuellen Wissensstand abbilden.

WPATH-Leaks

Am 5. März 2024 wurden Auszüge aus dem Austauschforum der WPATH veröffentlicht, die zeigen, wie Mitglieder Fälle aus ihrem Behandlungsalltag besprechen. Diesen Interna zufolge, sei auch den dortigen ärztlich und therapeutisch tätigen Mitgliedern bewusst, wie riskant der Behandlungsansatz mit Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen bei Minderjährigen ist. Diskutiert wurde zum Beispiel auch über Leberkrebserkrankungen die mutmaßlich auf die gegengeschlechtliche Hormontherapie zurückgeführt werden können. Die Leaks wurden von der US-amerikanischen Organisation „Environmental Progress“ des Kernkraftlobbyisten Michael Shellenberger veröffentlicht, dessen vermeintliches Engagement für Umweltschutz von Kritiker_innen in Zweifel gezogen wird, da er und seine Organisation eher konservativen, rechten und industriefreundlichen Standpunkten zuarbeiten würden. Finanzierungsquellen sind nicht transparent. Trotz dieser zweifelhaften Plattform für eine Veröffentlichung sind die Leaks ernst zu nehmen. Denn sie fügen sich nahtlos ein in schon bisher bekannt gewordene Kontroversen rund um die Behandlung von geschlechtsdysphorischen Minderjährigen.

Affirmative Risiken

Ein großes Problem ist die deutliche Zunahme von biologisch weiblichen Behandlungssuchenden, die eine Transition zum Mann anstreben. Zugleich weist ein sehr großer Anteil dieser Behandlungssuchenden teils erhebliche psychische Erkrankungen auf und sind oft instabil. In dem kanadischen Medienbericht werden junge Frauen wie Clara oder Jane vorgestellt, die während Pubertätskrisen dachten, sie seien Trans und eine Geschlechtsangleichung könne ihre Probleme lösen. Sie nahmen Pubertätsblocker und Testosteron, ließen eine Mastektomie vornehmen. Doch ihr psychisches Befinden änderte sich nicht wesentlich, sondern verschlimmerte sich sogar. Solche Entwicklungen stellte auch die finnische Psychiaterin Riittakerttu Kaltiala fest, die in ihrem Land ein Behandlungsprogramm für Minderjährige mit Geschlechtsdysphorie nach dem gender-affirmativen Modell aufbauen sollte. Die Mehrheit ihrer jungen Patient_innen war weiblich, kam im Teenageralter in ihre Ambulanz und sehr viele wiesen erhebliche psychische Erkrankungen auf. Gerade bei dieser Gruppe führte die gender-affirmative Behandlung nicht zu einer Verbesserung ihres Befindens. Schließlich änderte Kaltiala den Behandlungskurs und Finnland wurde das erste Land, was sich vom gender-affirmativen Ansatz wieder verabschiedete.

Bei Jane aus der kanadischen Reportage setzte nach der Mastektomie früh die Reue darüber ein. Jane sagte gegenüber Radio Canada, im Nachhinein sei wohl sexuelle Gewalt, die sie vor der Transition erfahren habe, ein wichtiger Treiber ihrer Entscheidungen gewesen. Zwei Monate nach ihrer Mastektomie wandte sich Jane an ihre Operateure, dass sie detransitionieren wolle und eine Brustrekonstruktion anstrebt. Daraufhin wurde ihr mitgeteilt, dass sie zwei oder drei Jahre warten und mehr als ein Jahr lang zu einer Beratung gehen müsse. Vor der Mastektomie seien ihr jedoch keine vergleichbaren Auflagen gestellt worden, obwohl sie von solchen Bedingungen aufgrund ihrer Vorgeschichte wahrscheinlich profitiert hätte. Ihr wäre ein operativer Eingriff erspart geblieben.

Umkämpftes Schlachtfeld

Auch in den WPATH-Leaks gibt es mehrere Äußerungen von Ärzt_innen über Patient_innen, die schwerwiegende psychische Erkrankungen haben, darunter Essstörungen, Schizophrenie. Ebenso, dass Trauma sehr weit verbreitet sei, wie auch dissoziative Identitätsstörungen. Akute psychische Erkrankungen waren jedoch kein Hinderungsgrund, zügig Pubertätsblocker, Hormone und Operationen zu verordnen. WPATH-Mitglieder haben sich dem gender-affirmativen Ansatz verschrieben. Das wurde auch deutlich, als 2022 die achte Fassung der Standards of Care erschienen ist, an deren Arbeit 2017 begonnen wurde. Erbittert wurde darum gerungen, ob es für bestimmte Behandlungsschritte Altersgrenzen geben solle, wie mit psychischen Komorbiditäten umzugehen sei. Ein Bericht in der New York Times widmete sich im Frühsommer 2022 der hochemotional geführten Auseinandersetzung um den richtigen Umgang mit Geschlechtsdysphorie bei Kindern und Jugendlichen. In den USA findet diese Auseinandersetzung in einer hochpolitisierten Atmosphäre statt, das Thema ist zu einem Kulturkampf zwischen Demokraten und Republikanern verkommen. Während die Demokraten das gender-affirmative Modell kritiklos fördern, überbieten sich Republikaner in von ihnen regierten Bundesstaaten mit restriktiven Gesetzen, die gender-affirmative Behandlungen verbieten. Im Niemandsland zwischen den Fronten sind verzweifelte Eltern und Teenager, die Hilfe suchen.

In einem ersten Entwurf der neuen Standards of Care wurden Altersgrenzen lediglich gesenkt, aber noch nicht gestrichen. Doch das war Transaktivist_innen, von denen einige auch als Ärzt_innen und Therapeut_innen tätig und WPATH-Mitglieder sind, zu reaktionär und sie bekämpften die Expert_innengruppe, die für das Kapitel zu Minderjährigen zuständig war. Eine sorgfältige Anamnese und der Nachweis einer mehrjährigen Geschlechtsdysphorie sei Psychogatekeeping und untergrabe die Patientenautonomie. Mitten in die Diskussion hinein, warnten erfahrene Psychologinnen wie Laura Edwards-Leeper und Erica Anderson 2021 vor schlampiger Behandlung, die dazu führe, dass mehr junge Menschen geschlechtsangleichende Behandlungen bereuen könnten. Die Gefahr für Patient_innen durch schlampig vorgenommene Behandlungen wurde in den USA inzwischen auch von Whistleblowerinnen wie Jamie Reed (Februar 2023) und Tamara Pietzke (Februar 2024) offenbart. Beide arbeiteten in Genderkliniken und waren für die Beurteilungen von minderjährigen Patient_innen zuständig.  Auch in den USA melden sich immer mehr Menschen, insbesondere junge Frauen, die tatsächlich vorgenommene Eingriffe einer Transition bereuen und sich im Nachhinein eine bessere psychotherapeutische Betreuung gewünscht hätten.

Politische Menschenrechtsfrage vs. Medizinisches Problem

In der WPATH entschied man sich 2022 schließlich, in den aktuellen Standards of Care Aktivist_innen entgegenzukommen, so die New York Times. Doch der gender-affirmative Ansatz steht immer mehr in der Kritik und die WPATH wird von Kritiker_innen immer weniger als Autorität akzeptiert. Schwedische Mediziner_innen zum Beispiel sehen WPATH inzwischen nicht mehr als wissenschaftliche, sondern als vorrangig aktivistische Organisation. Schweden gehört zu den europäischen Ländern, die nach eingehender Prüfung vom gender-affirmativen Ansatz bei Minderjährigen wieder abgerückt sind. In einem Anfang März veröffentlichten Beitrag im Fachjournal Acta Paediatrica plädiert der schwedische Psychiater Mikael Landén dringend für mehr Forschung zum Einsatz von Pubertätsblockern bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie. „Leider wird der Diskurs über den Einsatz von Pubertätsblockern bei Geschlechtsdysphorie oft als politische Menschenrechtsfrage und nicht als medizinisches Problem dargestellt.“, so Landén. Er fordert: „Unabhängig vom Ergebnis solcher Untersuchungen muss unbedingt sichergestellt werden, dass die Behandlung von Kindern mit Geschlechtsdysphorie dem gleichen Evidenzstandard unterliegt wie jede andere medizinische Behandlung von Kindern. Sich mit weniger zufrieden zu geben, käme einer ideologischen Diskriminierung gleich.“

Verspielte Reputation

Während eine einstmals respektable Organisation wie die WPATH nun mit einer verantwortungslosen Interpretation von „gender-affirmativ“ ihre Reputation verspielt, nehmen Menschen in vulnerablen Lebenssituationen Schaden, weil sie irreversible Behandlungen bekommen, die sie eigentlich nicht gebraucht hätten. Und das, obwohl man es hätte besser wissen können, aber aus aktivistisch-ideologischen Gründen nicht besser wissen wollte. Erste Reaktionen aus der WPATH selbst und von Befürworter_innen des gender-affirmativen Ansatzes wiegeln ab, dass es Probleme gebe. Der Schweizer Psychiater David Garcia Nuñez ruft auf Twitter dazu auf, diesem „terfigen Werk“ keine Beachtung zu schenken und retweetet einen Beitrag des US-amerikanischen Journalisten Evan Urquhart. In diesem schreibt Urquhart: „Assigned Media hat Hunderte von Forenbeiträgen von WPATH-Mitgliedern unter die Lupe genommen. Wir haben festgestellt, dass WPATH-Mitglieder Hunderte langweiliger Forenbeiträge erstellt haben.“

David Garcia Nuñez auf Twitter.

Für die WPATH reagierte deren Präsidentin Marci Bowers, selbst Transfrau und eine gefragte Chirurgin auf dem Gebiet der Genitalchirurgie: „WPATH ist und war schon immer eine wissenschafts- und evidenzbasierte Organisation, deren Empfehlungen von großen medizinischen Organisationen auf der ganzen Welt weitgehend unterstützt werden. Wir sind die Fachleute, die die medizinischen Bedürfnisse von Transsexuellen und geschlechtsspezifischen Personen am besten kennen – und sich gegen Einzelpersonen stellen, die die vielfältigen Identitäten und komplexen Bedürfnisse dieser Bevölkerung durch Panikmache falsch darstellen und ihre Legitimität verlieren. Die Welt ist nicht flach. Geschlecht wird ebenso wie Genitalien durch Vielfalt repräsentiert. Der kleine Prozentsatz der Bevölkerung, der transsexuell oder genderdivers ist, verdient Gesundheitsversorgung und wird niemals eine Bedrohung für die globale Geschlechterbinarität darstellen.“

Man möchte Bowers entgegnen, dass Transpersonen gute Gesundheitsversorgung verdienen. Dabei irren sich Ideolog_innen auf beiden Seiten, wie auch Erica Anderson betont. „Die Menschen auf der rechten Seite … und auf der linken Seite sehen sich nicht als extrem“, sagte sie im April 2022 der Los Angeles Times. „Aber diejenigen von uns, die alle Nuancen sehen, können erkennen, dass dies eine falsche Gegenüberstellung ist: Lassen Sie alles ohne Methode geschehen oder lassen Sie niemanden transitionieren. Beides ist falsch.“ Durch den sich immer stärker abzeichnenden Reputationsverlust der WPATH jedenfalls, nehmen nun auch Transpersonen Schaden, für die geschlechtsangleichende Behandlungen die richtige Entscheidung sind. Fehlbehandlungen, die aus ideologischen Gründen geschehen, tragen dazu bei, ein gesamtes medizinisches Feld zu diskreditieren.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Texte von ihm, insbesondere zu politischen, transaktivistischen Zielen, sind auch im Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze) erschienen. Darin hat er ebenfalls auf die Mängel beim gender-affirmativen Ansatz und die Entwicklungen im Ausland hingewiesen.



Kehrtwende in Deutschland bei Pubertätsblockern?

Geplante medizinische Leitlinien für Transkinder erhalten einen geringeren Evidenzgrad

Die Evidenzbasis für den Einsatz sogenannter Pubertätsblocker und gegengeschlechtlicher Hormone zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie ist mangelhaft. Im europäischen Ausland weiß man das längst, jetzt kommt die Debatte auch in Deutschland an.

Eine beliebte Parole von Tranaktivist_innen , zumeist für den Einsatz von Pubertätsblockern (Foto von Ehimetalor Akhere Unuabona auf Unsplash)

29. Februar 2024 | Till Randolf Amelung

Der international bemerkbare Paradigmenwechsel beim Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die sich als trans verstehen, erreicht nun offenbar auch Deutschland. Ein gender-affirmativer Ansatz, der eine zügige Bestätigung einer Transidentität und Einsatz von Pubertätsblockern sowie gegengeschlechtlicher Hormone vorsieht, gilt nach Bewertung der Evidenzlage nun als zu unsicher. Vor allem die Pubertätsblocker stehen dabei in der Kritik, weil Langzeitfolgen zu wenig bekannt sind. Deutsche Verfechter_innen dieses Ansatzes, insbesondere der Münsteraner Psychiater Georg Romer, verteidigen deren Einsatz. Romer, der dazu häufiger in Medien Rede und Antwort steht, sagte zum Beispiel noch im Oktober 2023 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Wir halten die biologische Uhr für einen verantwortbaren Zeitraum an, der gut vorgeplant und vorbesprochen sein muss. Wir lindern damit den empfundenen Dauerstress, den für eine betroffene Person die biologische Uhr bedeuten kann.“ Der Psychiater Alexander Korte hingegen widerspricht der Auffassung, es könne einen verantwortungsvollen Einsatz von Pubertätsblockern geben. Er stand in Deutschland jahrelang allein auf weiter Flur, als er zum Beispiel Anfang 2020 beim Deutschen Ethikrat auf die lückenhafte Evidenzbasis und ungeklärte Risiken bei der Gabe von Pubertätsblockern hinwies. Korte musste viel Kritik einstecken, wurde gar in die rechtsextreme Ecke gestellt, wogegen er sich unter Anderem 2022 in einem taz-Gespräch mit IQN-Vorstand Jan Feddersen und seiner taz-Kollegin Kaija Kutter verwahrte.

Neue Leitlinien für Kinder und Jugendliche

Zum 31. Dezember 2023 sollte die medizinische Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung“ fertiggestellt werden, die unter der Leitung von Georg Romer erarbeitet wird. In dieser Leitlinie soll festgehalten werden, wie Minderjährige mit Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie gemäß „weitreichender Neuentwicklungen im internationalen medizinischen Fachdiskurs zu geschlechts-nonkonformen Identitäten“ bestmöglich behandelt werden sollten – also die Minderjährigen, die oft als „Transkind“ bezeichnet werden. Mit Geschlechtsinkongruenz ist eine Abweichung zwischen Geschlechtsidentität, -rolle und -körper gemeint, Geschlechtsdysphorie bezeichnet das Leiden darunter. Das Ziel ist laut der Leitlinienbeschreibung eine „umfassende inhaltliche Aktualisierung auf der Basis der konzeptuellen Neufassungen nach ICD-11 und DSM 5“, den Klassifikationssystemen für medizinische und psychiatrische Diagnosen. In der elften Fassung der ICD, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben wird und seit Januar 2022 in den Mitgliedsstaaten in Kraft getreten ist, heißt es nun „Geschlechtsinkongruenz“, statt wie vorher „Transsexualismus“ und „Störungen der Geschlechtsidentität“. Ebenso ist „Geschlechtsinkongruenz“ nicht mehr im Kapitel „Psychische und Persönlichkeitsstörungen“ enthalten. Auch im DSM 5, welches von der American Psychiatric Association (APA) herausgegeben wird, ist längst nicht mehr von „Geschlechtsidentitätsstörung“, sondern von „Geschlechtsdysphorie“ die Rede. All dies soll vor allem nach dem Willen von Transaktivist_innen und ihren Verbündeten in der Medizin und Psychologie dazu beitragen, Trans zu entstigmatisieren.

Aus S3 wurde S2k

Aktualisierte medizinische Leitlinien für Transpersonen sollen diesen Veränderungen Rechnung tragen, so auch die für Kinder und Jugendliche. Geplant war bei der Anmeldung 2020, dass die neuen Leitlinien dem höchsten Evidenzgrad der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) entsprechen sollen. Dieser lautet „S3“, was folgendes bedeutet: „Bei S3-Leitlinien werden im Rahmen der formalen Konsensfindung zur Verabschiedung der Empfehlungen die methodisch aufbereitete Evidenz unter klinischen Gesichtspunkten gewertet und die Empfehlungen auf dieser Grundlage diskutiert.“

Doch wer sich Ende Februar 2024 über den Stand bei der geplanten Leitlinie für Kinder und Jugendliche informieren will, stellt mit einer gewissen Verwunderung fest, dass diese nun auf „S2k“ heruntergestuft wurde. Dies bedeutet: „Bei konsensbasierten Leitlinien (S2k) erfolgt die Verabschiedung und Feststellung der Stärke der Empfehlungen im formalen Konsensusverfahren, jedoch ist die Angabe von schematischen Empfehlungsgraden oder Evidenzgraden nicht vorgesehen, da keine systematische Aufbereitung der Evidenz zugrunde liegt. Der Grad einer Empfehlung wird sprachlich ausgedrückt.“ Derzeit befindet sich das Leitlinien-Manuskript laut Website der AWMF in der Begutachtung.

Evidenzbasis mangelhaft

Passend zu diesen Entwicklungen ist am 27. Februar der Artikel „Beyond NICE: Aktualisierte systematische Übersicht zur Evidenzlage der Pubertätsblockade und Hormongabe bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie“ erschienen, den eine Gruppe deutscher Psychiater_innen gemeinsam veröffentlicht hat. In diesem setzen sie sich kritisch mit der vorhandenen Evidenzbasis für die Anwendung von Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie auseinander. Grundlage sind zwei systematische Untersuchungen des britischen National Institute for Clinical Excellence (NICE) und seitdem hinzugekommene Studien. Die Studienlage bewerten die Autor_innen als „mangelhaft“ und begründen dies unter anderem so: „Die derzeitige Studienlage zu einer PB- und/oder CSH-Gabe bei Kindern und Jugendlichen ist sehr begrenzt und basiert auf wenigen Studien mit meist unzureichender Methodik aus wenigen Zentren. Die Ergebnisse der in der vorliegenden Arbeit zusammengetragenen und vorgestellten Studien, welche die Auswirkungen auf die Reduktion oder das Sistieren einer GD bzw. auf die Verbesserung der psychischen Gesundheit (sog. kritischen Endpunkte), der Körperzufriedenheit und der globalen und psychosozialen Funktionsfähigkeit (sog. wichtige Endpunkte)[sic] bei Kindern und Jugendlichen mit GD untersuchten, sind demnach von niedriger Qualität; das klinisch-wissenschaftliche Vertrauen in die berichteten (oft unspezifischen) Effekte ist gering.

Bei allen Studien, die in den beiden NICE-Übersichtsarbeiten (NICE, 2020a, 2020b) und in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt werden, handelt es sich um Beobachtungsstudien, die dem Risiko für Verzerrungen und dem Einfluss weiterer nicht erfasster Faktoren unterliegen. Die Dokumentation und Kontrolle des Einflusses psychischer und somatischer Komorbidität sowie von Begleitbehandlungen war in allen Studien unzureichend.“

Abkehr vom gender-affirmativen Ansatz im Ausland

Während man in Deutschland noch im Vogel-Strauß-Modus verharrte, setzte in mehreren europäischen Ländern eine Kehrtwende ein: Nachdem Probleme mit steigenden Patienten_innenzahlen und zunehmenden Berichten von Detransitionen zur Überprüfung der Evidenzbasis des Behandlungskonzepts mit Pubertätsblockade und anschließender Gabe gegengeschlechtlicher Hormone führten, änderten Finnland, Schweden, Großbritannien und Dänemark ihre Konzepte. Nun soll geschlechtsdysphorischen Minderjährigen wieder vorrangig mit psychotherapeutischen Methoden begegnet werden. Die WHO hat nun ebenfalls erklärt, die Evidenzbasis für geschlechtsangleichende Behandlungen bei Minderjährigen sei zu dünn, und daher soll dieser Bereich bei geplanten Leitlinien der WHO ausgeklammert werden. Zuvor gab es international Proteste gegen die Pläne der WHO, eine Leitlinienkommission mit ausschließlich trans-affirmativen Fachleuten und Aktivist_innen zu besetzen, worüber auch im IQN-Blog berichtet wurde.

Nun scheint sich auch in Deutschland etwas zu ändern. Vielleicht wäre es zudem bald an der Zeit, sich bei jahrelang so zu Unrecht geschmähten Personen wie Alexander Korte zu entschuldigen.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Texte von ihm, insbesondere zu politischen, transaktivistischen Zielen, sind auch im Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze) erschienen. Darin hat er ebenfalls auf die Mängel beim gender-affirmativen Ansatz und die Entwicklungen im Ausland hingewiesen.



Glücksversprechen in der Warteschleife

Das Selbstbestimmungsgesetz ist ins Stocken geraten – wieder einmal. Im Transaktivismus wächst die Sorge, dass das Gesetz noch auf den letzten Metern scheitern könnte. Zu offensichtlich sind die ungelösten Probleme um dieses Gesetz, auf die gerade die CDU/CSU hinweist.

Abgerissene Kalenderblätter liegen unordentlich auf einem Tisch
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21. Februar 2024 | Till Randolf Amelung

Das Selbstbestimmungsgesetz, eines von mehreren Projekten im Fortschrittsversprechen der Ampel-Regierung, läuft nicht nach Plan. Eigentlich hätte es noch vor dem Jahreswechsel 2023/24 in zweiter und dritter Lesung durch den Bundestag gebracht werden sollen. Als dies nicht passierte, wurden Wartende auf Januar vertröstet und schließlich auf Februar. Nun bleibt ungewiss, wann die Regierungskoalition aus SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP einen Anlauf wagen will. Passiert es noch im März? Oder erst kurz vor der parlamentarischen Sommerpause? Oder gar nicht mehr vor den Bundestagswahlen 2025?

Wachsender Pessimismus

Im Transaktivismus wächst die Sorge, dass das ersehnte Gesetz doch noch scheitern könnte. Besonders deutlich wird dies in einem Kommentar von Nora Eckert, Vorständin von TransInterQueer e.V., auf dem Online-Portal queer.de. Darin schreibt Eckert, dass sie wachsenden Pessimismus wahrnehme. Zugleich beschwört sie Gleichgesinnte, nicht aufzugeben: „Dass uns und der Ampelregierung die Zeit davonläuft, ist nicht zu bestreiten. Aber vor der Zeit und auf den letzten Metern etwas verloren geben, was wir dringend brauchen, das wäre fatal.“

Diese Ungewissheit, wie es mit dem Selbstbestimmungsgesetz weitergeht, liegt offenbar an interner Uneinigkeit innerhalb der Bundesregierung. Nach Einschätzung von politischen Korrespondenten verschiedener Medien im Bundestag gebe es innerhalb der regierenden Parteien zwei Lager. Die einen glauben, es wäre an der Zeit, die mutmaßlich nicht über die nächste Bundestagswahl im Herbst 2025 hinaus amtierende Regierung durchstarten zu lassen. Dieses Lager möchte bis dahin so viel an Reformen verabschieden, wie noch möglich ist. Dazu gehören auch die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen (Streichung des § 218) sowie das Gesetz zu „Verantwortungsgemeinschaften“. Die anderen sind dagegen und wollen bis zur Bundestagswahl von diesen Vorhaben nichts mehr umsetzen, weil alle Reformvorhaben nur der AfD und der Union Wahlkampfmunition liefern würden.

Die Nervosität unter Transaktivist_innen ist also berechtigt. Was Nora Eckert in ihrem Kommentar auch beschreibt, ist, dass der Entwurf für ein Selbstbestimmungsgesetz vielen Transaktivist_innen und ihren Verbündeten ohnehin nicht weit genug geht. Eckerts Sicht steht paradigmatisch dafür, wenn sie schreibt „dass etliche Paragrafen sich allein Missbrauchsängsten und Misstrauen“ verdanken. Darin sieht sie erhebliches „Diskriminierungspotential für diejenigen, denen das Gesetz das Leben eigentlich erleichtern soll und sie de facto dadurch nur behindert.“ Als Hindernis sehen Aktivist_innen wie Eckert jede Regelung, die eine rechtsverbindliche Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags allein auf Basis der Selbstaussage in irgendeiner Form einschränken könnten. „Selbstbestimmung“, so heißt es in ihrem Text, „ist ein elementares Freiheitsrecht“.

Zum Ende hin appelliert Eckert noch an die CDU/CSU, dass konservativ sein „ja wohl nicht die Anerkennung von Freiheitsrechten“ ausschließe. Um direkt im Anschluss vorzuwerfen, dass eine kritische Haltung zum Selbstbestimmungsgesetz das Geschäft der AfD betreibe.

92 Fragen der Opposition

Die Unionsparteien wiederum haben ihrer Ablehnung gegenüber diesem Selbstbestimmungsgesetz mehrfach Ausdruck verliehen. Kurz vor den Weihnachtsfeiertagen stellte die CDU/CSU-Fraktion in einer Kleinen Anfrage im Bundestag an die Regierung 92 Fragen zu diesem Gesetzesvorhaben und wies schon im Gewitter der Fragezeichensätze auf die vielen Lücken, Widersprüche und unklaren Rechtsfolgen des avisierten Gesetzes hin. So zum Beispiel in Frage Nr. 57: „Sieht die Bundesregierung einen Widerspruch darin, den Geschlechtseintrag vom persönlichen Empfinden abhängig zu machen und rechtliche Folgewirkungen daran anzuknüpfen, obwohl viele rechtliche Regelungen, z.B. die in § 8 SBGG-E, an das biologische Geschlecht anknüpfen?“

Die Antwort der Bundesregierung, die durch den Queerbeauftragten Sven Lehmann (Bündnis90/Die Grünen) erfolgte, bleibt eine Klärung der Frage hier schuldig – auch dies exemplarisch: „Die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität einer Person hat aus Sicht der Bundesregierung mit Blick auf den grundrechtlichen Schutz, der aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG) folgt, eine hohe Bedeutung. § 8 SBGG-E stellt jedoch klar, dass physische Gegebenheiten im Zusammenhang mit der Fortpflanzung unabhängig vom personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrag berücksichtigt werden.“ Ebenso lapidar wurden von der Bundesregierung Fragen behandelt, die sich speziell auf höhere Schutzinteressen von Kindern und Jugendlichen bezogen. So beantwortete Lehmann Fragen nach Gründen für den Verzicht auf verpflichtende Beratungen oder Gutachten für diese Gruppe wie folgt: „Unter den eingegangenen fachmedizinischen Stellungnahmen besteht weitgehend Konsens, keine verpflichtende Beratung oder Begutachtung von Kindern und Jugendlichen zu fordern, bevor diese ihren Geschlechtseintrag ändern dürfen.“ Ignoriert wird dabei, dass die Evidenzbasis für einen gender-affirmativen Ansatz bei Minderjährigen zunehmend als „schwach“ kritisiert wird. „Gender-affirmativ“ bedeutet, die Selbstaussage über die Geschlechtsidentität möglichst unhinterfragt zu bestätigen sowie eine frühzeitige Transition in sozialer, medizinischer, aber auch rechtlicher Hinsicht zu ermöglichen. Eine ausführlichere Exploration möglicher Hintergründe, die andere Ursachen für das Leiden unter dem körperlichen Geschlecht nahelegen würden, wird gerade von Transaktivist_innen als Angriff auf die geschlechtliche Selbstbestimmung verstanden.

Kritik am gender-affirmativen Ansatz

Unter den eingegangenen fachlichen Stellungnahmen zum Selbstbestimmungsgesetz gab es auch welche, die auf die Risiken dieses Ansatzes hingewiesen haben, zum Beispiel die des Erziehungswissenschaftlers und Psychoanalytikers Bernd Ahrbeck. Lehmann scheint diese offenbar auszublenden. Im Ausland steht ein gender-affirmativer Ansatz bei Minderjährigen hingegen längst in der Kritik. Andere Länder, vornehmlich in Europa, sind davon bereits abgerückt, nachdem sie die Evidenzbasis prüfen ließen. Die Bundestagsabgeordnete Susanne Hierl (CSU) legte deshalb im Januar 2024 nach und reichte schriftlich die Frage ein, wie die Bundesregierung die Entwicklungen beispielsweise um die britische Tavistockklinik, deren Gender Identity Developement  Service (GIDS) nach einem vernichtenden Untersuchungsbericht in der bisherigen Form abgewickelt wurde, und die wachsenden Zweifel an der Evidenzbasis des „Dutch Protocols“ bewerte. Das „Dutch Protocol“, welches an der Universitätsklinik Amsterdam entwickelt wurde, ist die Grundlage für den gender-affirmativen Ansatz, insbesondere mit der Gabe von sogenannten Pubertätsblockern und der anschließenden Einleitung der gewünschten Pubertät durch gegengeschlechtliche Hormone. Zuletzt hat die konservative Premierministerin der kanadischen Provinz Alberta, Danielle Smith, verkündet, in ihrer Provinz der in Kanada insgesamt sehr weit verbreiteten gender-affirmativen Praxis bei Minderjährigen Grenzen setzen zu wollen. Ab Herbst 2024 sollen in Alberta zum Beispiel Jugendliche unter 15 Jahren keine Pubertätsblocker mehr bekommen dürfen und geschlechtsangleichende chirurgische Eingriffe bei unter 17-jährigen sollen verboten werden.

Der Queerbeauftragte Lehmann entgegnete auf die Frage Hierls lapidar, dass die Bundesregierung „derlei Vorgänge im Ausland“ nicht beurteile und verwies darauf, dass das Selbstbestimmungsgesetz keine medizinischen Behandlungen regele. Damit verschließt die Bundesregierung die Augen davor, dass hinter dem gender-affirmativen Ansatz verschiedene Maßnahmen stehen, bei denen es keinen Sinn ergibt, sie isoliert voneinander zu betrachten. Wer eine rechtswirksame Änderung des Geschlechtseintrags wünscht, beschäftigt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bereits mit medizinischen und sozialen Transitionsschritten. Entsprechend unzufrieden mit den Antworten äußerte sich die Abgeordnete Hierl gegenüber dem Münchener „Merkur“, dass Lehmann alle berechtigten Zweifel ignoriere und stur seine Ideologie vertrete.

Konfliktpotenzial mit Ansage: eine Klassenfahrt

Dabei ist längst auch jenseits medizinischer Behandlungen absehbar, dass es zu Konflikten kommt, wenn wir keinen gemeinsamen Referenzrahmen, also Verständnis von Geschlecht haben. Ebenso, wenn wir Kindern und Jugendlichen die gleiche Entscheidungsfähigkeit zuerkennen wie Erwachsenen. Auf X war neulich anonymisiert zu lesen, wie eine Lehrerin daran scheiterte, eine Klassenfahrt durchführen zu können: Zwei 16-jährige biologisch männliche Jugendliche in der Klasse hätten sich erst kürzlich zu Mädchen erklärt. Nun bestünden sie darauf, als Mädchen behandelt und gemeinsam mit ihren Klassenkameradinnen im Zimmer untergebracht zu werden und auch mit ihnen die Gemeinschaftsduschen zu nutzen. Kompromissvorschläge, wie separate Duschzeiten und ein Zweibettzimmer für die beiden Jugendlichen seien von diesen abgelehnt worden. Sie seien schließlich Mädchen, so heißt es auf X. Daraufhin hätten mehrere muslimische Eltern ihre Töchter von der Klassenfahrt wieder abgemeldet. Auch andere Mädchen hätten nicht mehr mitgewollt. Die Schule habe die betreffende Lehrerin mit der Situation allein gelassen, sodass diese die Fahrt schließlich absagte. Soweit die Geschichte auf X. Nachfragen mit der Bitte um Verifizierung blieben bisher unbeantwortet.

In der Konstellation und Darstellung aber sind diese Schilderungen exemplarisch für die Konflikte, die sich daraus ergeben, wenn die Aussage über das eigene Geschlecht ausschließlich der Selbstbestimmung überlassen wird. Selbstbestimmung kann überdies nicht als einseitig gewährtes Prinzip funktionieren, ohne den gesellschaftlichen Frieden zu gefährden. Im Hinblick auf mehrheitlich eher konservativere Muslime wird sich so manches queeraktivistische Vielfalts-Wimmelbild als romantische Phantasie entpuppen, welche mit der Realität wenig zu tun hat. Ein Bekannter schrieb mir neulich zudem, dass einige türkische Familien in seinem Umfeld nun auch die Debatten um das Selbstbestimmungsgesetz mitbekämen und dies für verrückt hielten.

Selbstbestimmungsgesetz als Urnengift?

Möglicherweise bemerken es auch zunehmend mehr Abgeordnete der Ampel-Koalition, dass Geschlecht als etwas rein Selbstbestimmtes gegenüber vielen Wähler_innen stark erklärungsbedürftig ist. Vielleicht sogar, dass unter diesen Abgeordneten selbst enthusiastische Zustimmung abhandengekommen ist oder ihnen erst jetzt zu Bewusstsein dringt, welche Dimensionen dieses Vorhaben hat. Die konfliktgeladene Stimmung in der Ampel-Koalition sowie bereits im Herbst dieses Jahres anstehende Landtagswahlen könnten die Bereitschaft, Risiken mit gewagten Reformprojekten einzugehen, negativ beeinflussen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Reform wie das Selbstbestimmungsgesetz in der derzeitigen gesellschaftspolitischen Atmosphäre für SPD, Grüne und FDP zum Urnengift wird, ist hoch.

Doch wer stellt sich nun hin und macht dies transparent? Das Eingeständnis des Scheiterns beim Selbstbestimmungsgesetz scheint unumgänglich, damit anschließend Wege gefunden werden können, das Transsexuellengesetz zu reformieren. Radikale Ideolog_innen müssen nun abtreten und an Realos übergeben, wenn nach dieser Hängepartie überhaupt noch etwas herauskommen soll. Moralische Erpressung und jegliche Kritik als „AfD-nah“ zu beschmieren, sind dabei allerdings kontraproduktiv.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Texte von ihm, insbesondere zu politischen, transaktivistischen Zielen sind auch im Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze) erschienen. Zum Selbstbestimmungsgesetz äußerte er sich in diesem Blog bereits: Wird der Bademeister zum Gutachter? und Der Gesetzesentwurf, mit dem kaum jemand glücklich ist.

Transparenzhinweis: Zum Selbstbestimmungsgesetz wurde er im Familienausschuss des Bundestages als Sachverständiger auf Einladung der CDU/CSU angehört. Ein Auszug wurde hier veröffentlicht.



Schwul an die Wäsche gehen | Meine Sonnenallee – Notizen Nr. 42

IQN-Vorstand Jan Feddersen berichtet auf Facebook regelmäßig vom Leben in der Neuköllner Sonnenallee. Exklusiv für unseren Blog geht es in der 42. Folge nun über gelebte (und ungelebte) schwule Sexualität unter arabischen Männern.

19. Februar 2024 | Jan Feddersen

Freund B. möchte noch länger in der Fuldastraße wohnen bleiben, fast direkt über der vor Jahren abgebrannten Metzgerei, die inzwischen wieder den Laden geöffnet hat. Allerdings nur zur Hälfte, aus Gründen, die niemand kennt. Man munkelte um den Brand dieses definitiv nicht halalen Geschäfts. „Die einen“, sagt B., „raunten etwas von verweigerten Schutzgeldzahlungen, die anderen hielten sich entfernt von solchen verleumderischen Gerüchten.“ So oder so: B. hat es fein in seinem Mietshaus. Einige Arme in den Wohnungen, sie hoffen, wie so viele, auf ihre alten Mietverträge und außerdem auf genügend Kraft, es auch im hohen Alter noch im fahrstuhllosen Treppenhaus bis nach oben zu schaffen. Der gar nicht mal junge Mann wird sehr gemocht: Er ist von freundlichem Wesen, grüßt die Nachbarn, manchmal trägt er auch schwere Einkaufstaschen nach oben. Dass er schwul ist, wurde ihm selbst vor sehr vielen Jahren nicht übel genommen. Es heißt, wie eine Bekannte aus dem Nachbarhaus mir mal versicherte: „Ach, der B., der bringt immer so verschiedene Herren nach Hause mit – der kann sich wohl nicht für den Richtigen entscheiden.“ Beziehungsweise: „Der B., der hat ja viele Nachhilfeschüler.“

Schwules Leben unter muslimischen Männern

Nein, der kann sich weder für einen Schüler noch für eine Bekanntschaft – gängige Vokabel unter nicht mehr so jungen Ureinwohnern für Bratkartoffelverhältnisse, falls jemand dieses Wort noch kennt – entscheiden. Und so fragte ich ihn: „Sag mal, B., über meine Sonnenallee will ich nur Gutes schreiben, die Leute dort haben es nicht einfach, viel Rufschädigung ist im Spiel, denn sie können ja nichts für die vielen bonsaigroßen Demos, die an ihnen weitgehend vorbeiparadieren. Also: Wie steht’s ums schwule Leben unter unseren muslimischen Bürgern?“
Kneipen gibt es ja nicht, die meisten haben kein Geld, um ins nahe SchwuZ im Rollbergkiez einzukehren. Und so wie einige es im Tiergarten hielten, Flüchtlinge viele, die sich auf dem botanisch umrankten Strich n Euro verdienten: Das ist ja alles nicht von dieser Alltagswelt.

Eine Millisekunde zu lang

„Tja“, sagt B. mit seinen letzten Resten an bosnischem Akzent, sein Deutsch ist tadellos, aber er hat immer einen leichten Nachhall in der Sprache, der mich an Bata Illic erinnert. Zieht an seiner vierten Zigarette auf dem Stuhl vor dem „Le Brot“ und sagt: „Ich hörte vom wunderschönen Stadtbad Neukölln, da in den Duschen der Herren … .“ Aber da, so B., ziehe es ihn nicht hin, er mag den ganzen Aufwand nicht, hingehen, Eintritt bezahlen, umziehen und so weiter und so fort. Lieber habe er den spontanen Augenkontakt, dieser um eine Millisekunde zu lange Blick zwischen zweien … Ein Blick, der nicht checkend Aggression prüft, sondern, nun ja, Interesse. Und dann sehe man eben weiter.

„Wie“, insistiere ich, „siehst du weiter?“ „Na, entweder begleitet man sich beim Schaufenstergucken, ob der andere das ernst gemeint habe – und wenn es denn es dann safe sei, dass dieser akkurat winzig zu lang-interessierte Blick in einem anbahnenden Sinne gemeint sei, dann … .“ Tja, dann gehe man nach oben, treffe sich. Er wolle mir in einer Woche mehr erzählen, weil er ersichtlich mit den echten Details nicht einverstanden ist. Besser: Die genaueren Umstände doch ziemlich undeutlich geblieben sind.

Coming-Out total verboten

B. hat jetzt seine fünfte Zigarette geraucht, den dritten Kaffee intus und verrät nur noch dies: „Wenn zehn arabische Männer zusammenstehen, kann es sein, dass die alle mal was miteinander hatten – aber sie würden es sich niemals anmerken lassen.“ Ja, B. nun fasziniert von seiner eigenen Beobachtung: „Dass sie es sogar vergessen haben könnten. Wie jeder mal unerzählbare Begebenheit vergisst.“

Wahr ist jedenfalls, dass es unter arabischen Bürgern jede Menge schwule Exemplare geben muss. Wie überall und in allen Gruppen. Aber sie tauchen nicht in den wenigen noch verbliebenen schwulen Kneipen im Nollendorfkiez auf, sie mischen sich nicht in die üblichen Homomittelschichtsevents ein. Sie sind einfach, wie alle auch, erotisch interessiert. Als modernes Coming-Out und Going Public aber, ist genau das unter eben eingewanderten Bürgern ganz und gar total verboten: eine erotische No-Go-Area. Bei Strafe des Familienausschlusses – und diesen will, ja, darf niemand riskieren. Also ist es diskret, und das wird es gewiss auch bleiben.

B. fragt: „Noch nicht zufrieden mit der Aufklärungsstunde?“ Herzlichen Dank, nein. „Bald erzähle ich dir mehr“, verspricht er, „du wirst dich wundern.“


Jan Feddersen lebt in Berlin-Neukölln, seine bisher erschienenen Notizen „Meine Sonnenallee“ kann man auf Facebook finden. Außerdem ist er Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.



Biologie als Provokation

Die Anzahl der Geschlechter wird zum Mittel für Fankurven in Fußballstadien, mit dem sich Statements gegen den Deutschen Fußballbund setzen lassen.  Welche Folgen hat diese Polarisierung für die Akzeptanz von trans- und intergeschlechtlichen Menschen?

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11. Februar 2024 | Till Randolf Amelung

18.000 Euro – so viel kostete den Fußball-Bundesligisten Bayer 04 Leverkusen ein Banner der eigenen Ultras, laut einem Urteil des Sportgerichts des Deutschen Fußballbunds (DFB). Das beanstandete Banner wurde im vergangenen November bei der Partie gegen den SV Werder Bremen gezeigt. Zu lesen war folgendes: „Der Zitronenmann sagt: es gibt viele Musikrichtungen, aber nur 2 Geschlechter.“ Dieses Banner der Leverkusener Fans war eine Botschaft an die des SV Werder. Laut dem Magazin „Der Spiegel“ haben die Bremer Fans den Ruf, besonders links/progressiv/woke zu sein, im Gegensatz zu den Bayer-Anhängern. In einer Choreografie im Spiel gegen den SC Freiburg im Februar 2023 bezeichneten sich die Leverkusener Fans als „Raverkusen“. Die Werder-Fans griffen dies während der Partie Bremen gegen Leverkusen mit einem Spruchband mit der Aufschrift „Bierkönig ≠ Technoclub“ auf. Daher vermutet der „Spiegel“-Artikel, dass sich „Es gibt viele Musikrichtungen“ auf diese Vorgeschichte bezieht, jedoch „aber nur 2 Geschlechter“ die Gesinnung der Bremer Fans verspotten will. Die Aktion der Leverkusen-Ultras sorgte für Entrüstung, da sie als feindlich gegenüber trans- und intergeschlechtlichen Menschen eingeordnet wurde. Der DFB selbst formuliert seinen Anspruch wie folgt: „Kein Mensch darf auf Grund des Geschlechts benachteiligt oder ausgegrenzt werden. Frauen, Männer, Trans* und intergeschlechtliche Menschen sollen auch im Fußball gleichberechtigt teilhaben können.“ Ende Januar 2024 urteilte daher das DFB-Sportgericht, dass dieses Banner „diskriminierend im Sinne des § 9 Nr. 2 Abs. 1, Nr. 3 DFB-Rechts- und Verfahrensordnung in Bezug auf die geschlechtliche bzw. sexuelle Identität“ gewesen sei.

Mit diesem Urteil ging die Auseinandersetzung jedoch erst richtig los und es wird sichtbar, wie sehr Geschlecht zu einem Schauplatz des Kulturkampfes geworden ist. Eine Woche nach dem Urteil kommentierten die Fans vom Drittligisten Dynamo Dresden dieses während des Spiels gegen den FC Ingolstadt mit einem Banner mit der Aufschrift: „Es gibt nur einen lächerlichen DFB… und zwei Geschlechter!“ Fotos davon gingen auf Elon Musks Kurznachrichtendienst X viral, mittlerweile hat der DFB auch Ermittlungen gegen die Fans von Dynamo eingeleitet. Inzwischen wurde bekannt, dass auch im Regionalligaspiel zwischen Energie Cottbus und Viktoria Berlin von den Cottbusser Fans ein Banner mit „Es gibt nur 2 Geschlechter… beide verachten den DFB“ präsentiert wurde. Es ist abzuwarten, ob sich bei den kommenden Fußballspielen in allen deutschen Ligen noch weitere Fangruppen sich mit ihren Spruchbändern auf die Kontroverse um die Anzahl der Geschlechter und den DFB beziehen werden.
 

Die „One Love“-Doppelmoral

Die Ultra-Szene sieht sich mit ihrer Gegenkultur als Bewahrer einer ursprünglichen, weil anti-kommerziellen Authentizität des Fußballs. Seit Jahren schon, positionieren sich viele Ultra-Gruppen deshalb kritisch und teils mit martialischen Aktionen gegen den DFB. Zudem bleibt diesen Fans nicht verborgen, dass der DFB selbst daran scheitert, den ausgegebenen Parolen von Vielfaltsbewusstsein gerecht zu werden. Bis heute gibt es keine schwulen Coming outs von aktiven männlichen Fußballern in den höheren Ligen. Ein PR-Desaster der besonderen Art war zudem die „One Love“-Kapitänsbinde bei der WM 2022 in Katar. Im Wüstenstaat stehen homosexuelle Handlungen unter Strafe, sogar die Todesstrafe ist möglich. Dieser Austragungsort war gerade in der deutschen Bevölkerung höchst unpopulär, die Menschenrechtssituation war einer von mehreren Gründen. Da der DFB sich zuvor öffentlichkeitswirksam für Vielfalt im Fußball ausgesprochen hatte, waren nun die Erwartungen hoch, dass es ein Zeichen gegen die Homosexuellenfeindlichkeit der WM-Gastgeber geben sollte. Doch als die FIFA dieses Zeichen verbot und den Teams mit Konsequenzen wie gelben Karten drohte, knickte der DFB trotz vorheriger gegenteiliger Ankündigungen ein und ließ den damaligen Mannschaftsführer Manuel Neuer nicht mit der „One Love“-Binde auflaufen. Dabei war dieses Symbol ohnehin schon „entschwult“, denn es zeigte nicht die bekannte Farbgebung, wie damals taz-Redakteur und IQN-Vorstand Jan Feddersen feststellte.
 

Banales Schulwissen als Subversion

Dieser DFB nun, geht mit Furor gegen Fußballfans vor und skandalisiert eine Aussage, bei der viele Menschen wohl nicht nachvollziehen können, warum sie so umstritten sein soll. Diese Vorfälle um provokante Fanbanner richten ein Schlaglicht darauf, wie es um die Akzeptanz queeraktivistischer Bemühungen bestellt ist, biologische Fakten aus ideologischen Absichten heraus umzudeuten. Die Anzahl der möglichen Geschlechter beim Homo Sapiens ist zu einer umstrittenen Frage geworden, sogar bei der Frage, wie viele biologischen Geschlechter es denn nun gibt. Die einen beharren auf zwei, die anderen sehen auch das biologische Geschlecht als ein Spektrum, in dem es eine Vielzahl von Geschlechtern gäbe. Kern der biologischen Definition des Geschlechts ist jedoch die Gametenart, die produziert wird: kleine, bewegliche Spermien kennzeichnen das männliche Geschlecht, die Eizellen das weibliche. In den vergangenen 20 Jahren wuchs das Bewusstsein, dass es eine Vielfalt als physiologischer und anatomischer Erscheinungsformen gibt, darunter auch Intergeschlechtlichkeit. Ebenso, dass es Menschen gibt, die tiefgreifend unter ihrem Geschlechtskörper leiden und eine Geschlechtsangleichung anstreben. Ohnehin gesellschaftlich bekannt war, dass es eine Bandbreite an kulturellen Ausdrucksformen und Identitätsverständnissen gibt.
 

Ideologie vs. Fakten

Im queeren Aktivismus war man jedoch der Überzeugung, dass die bisherige Definition des biologischen Geschlechts weiterhin dazu beitrage, trans- und intergeschlechtliche Menschen als Abweichung und nicht wie eigentlich gewünscht als Normvariante zu begreifen. Daher suchte man neue Begründungsmöglichkeiten, die dem gewünschten Selbstbild besser Rechnung tragen könnten. Diese Begründungsmöglichkeiten wurden in aktivistischen Kreisen und akademisch vor allem über geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen verbreitet, um dann später in staatlich geförderten Informationsmaterialien für Akzeptanz von Vielfalt zu landen. Einen umfassenden Paradigmenwechsel hat es in der Biologie hingegen jedoch wohl so nicht gegeben. Um die aktivistische Neudefinition zu verteidigen, werden in Deutschland meistens der Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß und der Beitrag „Sex redefined“ der Wissenschaftsjournalistin Claire Ainsworth angeführt, wobei von letzterer bekannt ist, dass sie gegen Fehlinterpretationen Stellung bezogen hat.

Claire Ainsworth am 21. Juli 2017 auf X

Auf X kommentierte der Wiener Biologie-Professor Martin Fieder unter einem Beitrag des WELT-Journalisten Arndt Diringer zu der Geschlechterkontroverse: „Ich dachte lange der Unsinn ist nur Zeitgeist der schon von alleine verschwinden wird. Tut er aber nicht, wird nur immer schlimmer. War naiv, jetzt ist es an der Zeit sich als Biologe/ Naturwissenschaftler entschieden zu wehren, bevor wir an den unis in ein neues Mittelalter abgleiten.“ Auch andere Wissenschaftler, wie Jerry A. Coyne und Luana S. Maroja beklagen, dass ihr wissenschaftliches Feld, die Biologie, durch Ideologie vergiftet werde.
 

Gesellschaftliche Folgen

Auf dieser Grundlage nun, bestraft der DFB Fußballklubs dafür, dass deren Fans Banner mit Aussagen hochhalten, die lediglich banalen Schulstoff in Biologie wiedergeben. Man will so gegen Diskriminierung von trans- und intergeschlechtlichen Menschen vorgehen, aber man leistet dieser damit erst recht Vorschub. Denn trans- und intergeschlechtliche Menschen werden auf diese Weise mit Unwissenschaftlichkeit verknüpft und damit erhöht sich die Gefahr von Ablehnung gegen sie erst recht. Das Vorgehen des DFB polarisiert unnötig und gießt Öl in ein Feuer, dessen Flammen gar nicht erst hätten so hochschlagen müssen. Man hätte das Banner der Leverkusener Fans auch einfach ignorieren können. So aber, droht das Geschlechterthema zu einem Vehikel zu werden, mit dem man „gegen die da oben“ protestieren kann. 


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations.



Detransition und andere queere Tabuthemen

Menschen, die ihre Transition bereuen oder nicht stabile Transidentitäten sind im queeren Aktivismus unbeliebte Themen. Ein sachlicher Austausch über die komplexe Gemengelage Themenfeld „Trans“ ist geradezu unerwünscht. Doch international werden Stimmen lauter, die Sprechverbote aufbrechen wollen.

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. (Foto von Keren Fedida auf Unsplash)

6. Januar 2024 | Till Randolf Amelung

Mit ihrem neuen Jugendroman „Einfach nur Noni“ greift die Autorin Karen-Susan Fessel ein heißes Thema auf: Detransitionen, also Rückgängigmachen und Abbrüche von Geschlechtsangleichungen. Fessel begleitet die 16-jährige Noni in der ländlichen Idylle Brandenburgs durch Höhen und Tiefen auf der Suche nach der eigenen Identität. Noni ist sich sicher, kein Mädchen zu sein. Über Internetrecherchen findet die Romanheldin eine Gruppe für Transjugendliche, in der sie sich zum ersten Mal verstanden fühlt. Schließlich outet sich Noni gegenüber den Eltern als Transjunge und bekommt Unterstützung für ihre Neuidentifikation, später auch durch eine Psychiaterin – und hält schließlich das heiß ersehnte Rezept für Testosterongel in der Hand. Doch so sicher sich Noni zuerst noch war, taucht plötzlich die Frage auf, ob eine Geschlechtsangleichung zum Mann der richtige Weg für sie ist. Vollendet wird Nonis Gefühlschaos, als sie Mirna kennenlernt und sich beide ineinander verlieben.

Mittlerweile, an dieser Stelle ihrer Geschichte, nimmt Noni das Testosterongel nicht mehr regelmäßig und bricht die Einnahme schließlich ganz ab. Mit Hilfe der neuen Freundschaften aus der Transjugendgruppe und der lokalen queeren Community findet Noni schließlich den Mut, aus ihren massiven Zweifeln Konsequenzen zu ziehen und die Transition zumindest vorerst abzubrechen.

Kontroversen rund um Trans

Karen-Susan Fessel; Einfach nur Noni, Berlin: Querverlag 2023. ISBN: 978-3-89656-332-3, 232 Seiten, broschiert, 18 Euro

Fessel thematisiert also aktuelle Kontroversen rundum Transitionen im Jugendalter, indem sie umstrittene Begriffe wie ROGD (Rapid Onset Gender Dysphoria), eine plötzliche Transidentität ohne vorherige Anzeichen, und die zahlenmäßige Zunahme unter biologisch weiblichen Teenagern erwähnt. Ebenso fließt in den Roman ein, dass viele Lesben und Schwule retrospektiv von geschlechtsdysphorischen Empfindungen während der Pubertät berichten. Ein im heteronormativen Umfeld entwickeltes Gefühl von „nicht richtig“ sein äußert sich oftmals in Geschlechtsdysphorie.  Auch Studien zeigen, dass sich diese Geschlechtsdysphorie bei vielen, sich selbst noch nicht als homosexuell begreifenden, Teenagern in der weiteren Entwicklung häufig wieder auflöst und worauf ein schwules bzw. lesbisches Coming out folgt.

„Einfach nur Noni“ zeigt einen Idealfall, wie man sich den Umgang mit einem jungen Menschen auf der Suche nach der eigenen Identität wünschen möchte. Doch die Realität sieht bisweilen anders aus. Gerade Detransitionier*innen stellen transaktivistische Narrative vom inneren Wissen um sich selbst und damit den trans-affirmativen Behandlungsansatz in Frage. „Gender-affirmativ“ heißt, die Selbstwahrnehmung der Patient*innen unhinterfragt in den Mittelpunkt zu stellen und ihnen auch ohne psychologische Diagnostik möglichst ungehinderten Zugang zu medizinischen Behandlungen im Rahmen einer Geschlechtsangleichung zu gewähren. Bei Minderjährigen ist das oftmals auch mit einem Einsatz von Medikamenten wie sogenannten Pubertätsblockern und mit anschließender Gabe von Östrogen- oder Testosteronpräparaten verbunden.

Fehlender Diskurs als Risiko

In den letzten Jahren meldeten sich immer mehr Frauen und Männer, die eine Geschlechtsangleichung vollzogen haben, aber diesen Schritt nach einigen Jahren zu bereuen begannen. Bislang fehlt es an einem offenen und sachlichen Diskurs über diese Fälle – sowohl im queeren Transaktivismus, der Politik als auch in der Fachwelt. Dies hat negative Auswirkungen auf die Patient*innensicherheit und es werden Stimmen lauter, die den fehlenden Diskurs einfordern.

Die britische Journalistin Hannah Barnes berichtet in ihrem 2023 erschienenen Buch „Time to think. The Inside Story of the Collapse of the Tavistock’s Gender Service for Children“ über die Entwicklungen, die in Großbritannien zur Neustrukturierung der Versorgung für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie führten. Über viele Jahre war der Gender Identity Developement Service (GIDS) landesweit die einzige Anlaufstelle für geschlechtsdysphorische Minderjährige im staatlichen Gesundheitssystem, dem NHS. Doch Ende 2020 kam es zu einem weltweit beachteten Gerichtsurteil gegen den GIDS. Die damals 22-jährige Britin Keira Bell klagte, weil sie im Alter von 15 Jahren dort wegen Geschlechtsdysphorie Hilfe suchte und sich im Nachhinein zu schnell auf einen medizinischen Weg mit Pubertätsblockern, Testosteron und einer Mastektomie gesetzt sah. Später bereute sie diese Entscheidung und ließ vor Gericht feststellen, dass die gender-affirmative Behandlung noch zu experimentell ist und Minderjährige gar nicht oder nur eingeschränkt in der Lage seien, deren langfristigen Folgen einschätzen zu können. So wurde Bell zu einem prominenten Gesicht, insbesondere für biologische Frauen, die zunächst eine Angleichung an das männliche Geschlecht vollzogen, dies aber später wieder rückgängig machen wollten. Der NHS beauftragte schließlich eine unabhängige Untersuchung durch die Pädiaterin Hilary Cass, deren Ergebnisse letztlich die Neustrukturierung der Versorgung und ein Abrücken vom gender-affirmativen Ansatz zur Folge hatten.

Keira Bell am Tag der Urteilsverkündung, (Screenshot von Sky News auf YouTube am 01.12.2020)

Für ihr Buch führte Barnes auch intensive Gespräche mit ehemaligen Psychotherapeut*innen und Ärzt*innen des GIDS. Diese berichteten unter anderen, dass differenzierte Fallbesprechungen nicht möglich gewesen seien, ebenso wenig eine Abwägung, ob der Geschlechtsdysphorie vielleicht nicht Transsexualität, sondern eine andere Ursache zugrunde liegen könnte. Auch über Detransitionen konnte offenbar gemäß den Aussagen einiger ehemaliger Behandler*innen intern nicht fachlich angemessen gesprochen werden. So sagte zum Beispiel Anastassis Spiliadis, ein ehemals im GIDS tätiger Arzt, gegenüber Barnes, dass Diskussionen über Detransitionen nicht erwünscht gewesen seien. Begriffe wie dieser sollten gar nicht erst verwendet werden. Auch die Frage zu stellen, wie viele der jungen Patient*innen sich doch wieder umentscheiden, war nicht gewollt. Die Leitung des GIDS habe Sorge gehabt, als „transphob“ zu gelten, wenn öffentlich bekannt würde, dass solche Fragestellungen thematisiert würden.

Der GIDS der Tavistock-Klinik ist bei dem Umgang mit dem Thema „Detransition“ oder auch der mehrfach festgestellten unzureichenden medizinischen Evidenz für den gender-affirmativen Ansatz leider keine unrühmliche Ausnahme. Unlängst beschwerten sich in der Schweiz Ärzte über eine national wichtige medizinische Fachzeitschrift, weil diese Zeitschrift kritische Leserbriefe zu zwei Artikeln nicht abdrucken wollte, die zu unkritisch den gender-affirmativen Ansatz bei Minderjährigen behandeln würden.

Trans als Kulturkampf

Solche Kritik gibt es auch in den USA, wo sich zum Beispiel Psychotherapeutinnen wie Erica Anderson oder Laura Edwards-Leeper gegen die Ablehnung von sorgfältiger psychologischer Diagnostik und Begleitung aussprechen. In den USA sind Fragen um Detransitionen und der richtige Umgang mit Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen ein Schlachtfeld des politischen Kulturkampfs geworden. Gegenüber der Los Angeles Times sagte Anderson im April 2022: “Die Menschen auf der rechte Seite … und auf der linken sehen sich selbst nicht als extrem. Aber diejenigen von uns, die alle Nuancen sehen, die können sehen, dass es ein falscher Gegensatz ist: alles ohne eine Methode passieren lassen oder niemanden durchlassen. Beides ist falsch.“

Elf Detransitionierer*innen in den USA suchen nun die Klärung vor Gericht. Möglicherweise wird dort über die Zukunft des gender-affirmativen Ansatzes entschieden. Bereits jetzt haben eventuell drohende Schadensersatzforderungen Auswirkungen auf Anbieter von geschlechtsangleichenden Behandlungen. Kleinere Kliniken haben erhebliche Schwierigkeiten, die inzwischen drastisch gestiegenen Versicherungsprämien für Haftpflichtversicherungen zu finanzieren oder überhaupt eine Versicherung zu finden. Einige Anbieter schließen inzwischen die Haftung für gender-affirmative Behandlungen von Minderjährigen im Kleingedruckten sogar ganz aus.

WHO ignoriert Entwicklungen

Lieber keine offene Diskussion! (Foto von Taras Chernus auf Unsplash )

Neben Großbritannien haben auch alle skandinavischen Länder nach Bewertung der medizinischen Evidenz und ungeklärten Risiken ihre Haltung zum gender-affirmativen Ansatz speziell bei Minderjährigen geändert. Diese aktuellen Entwicklungen scheinen die Weltgesundheitsorganisation  (WHO) jedoch nicht zu beeindrucken. Am 18. Dezember 2023 verkündete die WHO, dass sie Leitlinien für die Gesundheit von trans und genderdiversen Menschen entwickeln will. Ebenso wurden die Namen der 21 Mitglieder der Kommission veröffentlicht, die diese Leitlinien erarbeiten sollen. Auch ein Termin für die Sitzung im Hauptquartier der WHO im Schweizerischen Genf vom 19. bis 21. Februar 2024 wurde bereits anberaumt. Zu dieser Ankündigung wurde auch ein kurzes Zeitfenster für öffentliche Rückmeldungen geöffnet – bis zum 8. Januar 2024. All diese Ankündigungen und Fristen trafen auf einen Zeitpunkt, an dem sich die meisten Menschen in vielen Ländern in die Feiertage verabschiedet haben. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Zudem ist das Panel für die Erarbeitung der Leitlinien sehr einseitig besetzt, ausschließlich mit Befürworter*innen des gender-affirmativen Ansatzes. Darunter ist auch die kanadische Transfrau und Bioethikerin Florence Ashley, die alles andere, als den gender-affirmativen Ansatz als „Konversionstherapie“ diffamiert. Doch dieses Vorhaben blieb nicht unbemerkt und einige Ärzt*innen lancierten eine Petition, die in der Kürze der Zeit über 7000 Personen unterzeichnet wurde. Die Unterzeichner*innen fordern, dass dieses Leitlinienvorhaben so nicht weitergeführt wird.

2024 könnte das Jahr werden, in dem die extrem einseitige und aktivistisch motivierte Diskursführung über Transthemen endgültig überwunden wird. Bücher wie dies von Fessel können hierzu einen Beitrag leisten, denn bis auf die deutsche Übersetzung des Romans „Detransition, Baby“ von Torrey Peters, ist das Thema auf dem deutschen Buchmarkt bislang nicht präsent.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem gender-affirmativen Ansatz siehe auch folgende Texte von ihm aus dem Jahrbuch Sexualitäten: „Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar?“ (2022) und „Politische Hybris“ (2021).



CSD zwischen radikaler Gegenkultur und gesellschaftlicher Mitte

Eine Auseinandersetzung zwischen der YouTuberin PersiaX und queeren Influencer*innen um Aljosha Muttardi sorgt für Zuschauerreaktionen, die sich vor allem auf ein Thema fokussieren: Wie angemessen sind Nacktheit und Fetischpräsentationen in der Öffentlichkeit beim CSD?

YouTuberin PersiaX, Screenshot aus ihrem Video vom 25.12.2023

 3. Januar 2024 | Till Randolf Amelung

PersiaX, eine deutsche Transfrau und YouTuberin wurde am 19. Dezember 2023, kurz vor den Weihnachtsfeiertagen von FiNessi, ebenfalls Transfrau und YouTuberin, in einem Video als vermeintliche Islamhasserin,  als trans- und nicht-binär-feindlich angeprangert. Auch als Token wird PersiaX von ihren Gegner*innen bezeichnet, also als Vorzeigetransfrau, die als Feigenblatt für die ansonsten transfeindliche Gesellschaft fungieren würde.

FiNessi, Screenshot aus ihrem Video vom 19.12.2023

PersiaX, bürgerlich Lynn Kirchner, hat auf YouTube 122.000 Abonnenten (Stand 02.01.2024) und ist Meinungsvloggerin, die seit einigen Jahren insbesondere LGBTIQ-Themen kritisch kommentiert. Unter anderem hat sie sich mehrfach gegen einen Transbegriff ohne Geschlechtskörperdysphorie als Voraussetzung ausgeprochen. Ebenso hat sie andere Influencer*innen kritisiert, weil diese fragwürdige bis unverantwortliche Inhalte an ihr Publikum bringen. Zum Beispiel zeigte sie in einem Video, wie TikToker Gialu seine zumeist jugendlichen Zuschauer*innen offen über Schleichwege aufklärt, um an Hormone und Operationen zu kommen. Kirchners Videos erzielen oft eine große Reichweite und werden von ihren Abonnent*innen zumeist positiv bewertet. Ihre Kritiker*innen hingegen, sehen in Kirchners Reichweite eine Gefahr. Sieben von ihnen fanden sich schließlich zusammen, um das von FiNessi veröffentlichte Video zusammenzustellen. Mit dabei sind auch bekanntere Persönlichkeiten, wie Aljosha Muttardi (Queer Eye Germany) oder Leonie Löwenherz (Princess Charming). Muttardi wiederum, gab FiNessis Video eine größere Reichweite, indem er ein sogenanntes Reaction-Video dazu machte, also Auszüge des Originals präsentierte und kommentierte. Ebenso veröffentlichte auch Kirchner einen Videokommentar zu beiden Videos, inzwischen kommentierten weitere YouTuber*innen diese Auseinandersetzung. Dazu kann man unter all diesen Videos zusammengenommen nun mehrere tausend Userkommentare finden.

Fetisch in der Öffentlichkeit

Bemerkenswerterweise wurde gerade von den Zuschauer*innen vor allem auf ein Thema reagiert: das Präsentieren von Fetischen, ein beliebtes Synonym dafür ist auch „Kinks“, auf CSD-Paraden im öffentlichen Raum. Da YouTube gerade bei jüngeren Altersgruppen einen hohen Marktanteil hat und für diese oft Informationskanal der ersten Wahl ist, lohnt sich ein Blick, was dort zu queeren Themen diskutiert wird. PersiaX veröffentlichte 2022 ein Video, wo sie den CSD in Berlin kritisierte. Hauptkritikpunkt war, dass in dieser CSD-Parade viele Menschen nackt oder mit Fetischbekleidung bzw. -utensilien teilnahmen, Sex in der Öffentlichkeit hatten und alles vor den Augen Minderjähriger passiert sei. Diese Kritik von PersiaX griff die Gruppe um FiNessi und Aljosha auf, um sie als queerfeindlich, prüde und unangemessen abzukanzeln. Es sei nach deren Meinung gar kein Problem, wenn Kinder zum Beispiel Menschen in Fetischkleiden zu sehen bekämen, da sie dies doch ohnehin nicht verstünden. Zudem sei ein Kink nicht zwingend etwas Sexuelles. Die Kommentare unter allen Videos, die sich mit der aktuellen Kritik an PersiaX beschäftigen, widersprechen mehrheitlich dieser Auffassung über Fetische im öffentlichen Raum. Hier einige Auszüge:

Sehr oft heißt es, dass man die LGBTIQ-Community an sich unterstütze, aber Fetische und sexuelle Handlungen ohne Rücksicht auf anwesende Minderjährige gingen ihnen zu weit. Auch einige, die sich selbst zur LGBTIQ-Community zählen, schreiben in ihrem Kommentar, dass sie sich deswegen auf den CSD-Paraden unwohl fühlten und diese seitdem meiden würden. Aussagen zu Fetische und Minderjährige wie von Aljosha und Co., sind in queeraktivistischen Kreisen keine Ausnahme. Auch anderswo, zum Beispiel in „Sex in echt. Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät“, einem Aufklärungsbuch für Jugendliche, wird BDSM/Kink thematisiert, obwohl das so noch eher nicht zu deren Entwicklungsstufe passen dürfte. Und 2021 beschwerte sich der Journalist Matthias Kreienbrink über die vermeintliche Prüderie der Generation Z, also der jungen Leute, die Ende 1990er Jahre bis 2012 geboren wurden.

Influencer*innen wie Aljosha oder FiNessi geben sich ein sehr vielfalts- und diskriminierungssensibles Image, was man gemeinhin als „woke“ bezeichnet. Viele User kommentieren womöglich auch deswegen so kritisch, weil gerade die Woke-Bubble schnell dabei ist, überall sogenannte „Microaggressions“ zu beklagen. „Mikroaggressionen sind alltägliche Kommentare, Fragen, verbale oder nonverbale Handlungen, die überwiegend marginalisierte Gruppen treffen und negative Stereotypen verfestigen. Sie können sowohl absichtlich als auch unabsichtlich geäußert oder getätigt werden“, heißt es beispielsweise auf der Website der Universität zu Köln. Die Bedürfnisse anderer, die im öffentlichen Raum nicht ungewollt mit Nacktheit und Fetischen konfrontiert werden wollen, werden dagegen von Aljosha und Co. offen missachtet.

Kinks oder Kinder

Allerdings ist der Streit um Fetisch und Freizügigkeit auf CSD-Paraden keineswegs etwas Neues. Dieser Konflikt ist ein grundsätzlicher, der den LGBTIQ-Aktivismus schon lange begleitet. Es geht um die Frage, ob man vor allem radikale Gegenkultur sein oder sich als Teil der bürgerlichen Gesellschaft präsentieren will. Gerade in Berlin hat dies dazu geführt, dass es neben dem großen CSD mindestens eine weitere Parade gibt, die sich besonders der linksalternativen, antikapitalistischen und queerfeministischen Szene verpflichtet fühlt. Aber auch um die großen Paraden gibt es immer wieder mal Streit, zum Beispiel um Pup-Player, die

Aljosha Muttardi, Screenshot aus seinem Video vom 22.12.2023

in Fetischoutfit mit Hundemaske mitmarschieren. Zumal auch immer mehr Familien mit Kindern an CSD-Veranstaltungen teilnehmen. Will man ein Fest für die ganze Familie sein, egal ob Hetero- oder Regenbogenfamilie? Dann lassen sich Kinder- und Jugendschutzaspekte nicht mehr so einfach ignorieren. Bisher wurden solche Debatten vor allem über community-interne Strukturen und Plattformen geführt. Mit der Auseinandersetzung um PersiaX kann man nun erstmals sehen, wie ein diverses und wahrscheinlich mehrheitlich heterosexuelles Publikum auf dieses Thema reagiert, zumal sich inzwischen auch nicht-queere YouTuber beteiligen, darunter Tim Heldt alias KuchenTV, einer der reichweitenstärksten deutschen YouTuber. Es wird überdeutlich, dass es um Fragen von Kinder- und Jugendschutz eine erhöhte Sensibilität gibt und dies nicht nur „CDU-Boomern“ (Kreienbohm) vorbehalten ist, sondern generationsübergreifend Relevanz hat.

Angesichts einer 2023 erstmals festgestellten leicht rückläufigen Akzeptanz für LGBTIQ, sind solche Einblicke interessant und sollten gerade im queeren Aktivismus und der LGBTIQ-Community zum Nachdenken anregen.  Es scheint 2024 nicht sinnvoll, einfach wie bisher weiterzumachen und mehr vom Gleichen aufzufahren. Erst recht nicht, wenn man in anderen Fragen, zum Beispiel der Geschlechtsidentität, höchste Sensibilität und unbedingten Respekt von anderen verlangt, aber nichts davon zurückzugeben bereit ist. Doppelmoral wird nirgends positiv aufgenommen. Die Grenzen dessen, was im öffentlichen Raum zu welchem Anlass als akzeptabel empfunden wird, sind in stetiger Aushandlung. Verbunden ist dies mit gesellschaftspolitischer Aktualität, zum Beispiel rund um Schutz vor sexueller Gewalt gerade gegen Minderjährige, aber auch grundsätzliche Achtung von Grenzen anderer. Da ist es kein Wunder, wenn das auch in Diskussionen um den CSD auftaucht, beziehungsweise nie verschwindet.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations.