Kategorie: Allgemein

Vorläufiger Rückzug aus dem E2H-Projekt | IQN Bekanntmachung

Mit Datum vom 13. Oktober 2020 hat die Initiative Queer Nations e.V. dem projektverantwortlichen Verein Freund*innen des Elberskirchen-Hirschfeld-Hauses – Queeres Kulturhaus e.V. den vorläufigen Rückzug von IQN aus dem E2H-Projekt zur Kenntnis gebracht. Der Text der Bekanntmachung im Wortlaut.


Als initiatorische Institution des Projekts für ein Queeres Kulturhaus, politisch schon vor fünf Jahren als Queerer Leuchtturm für Berlin durch den damaligen rot-schwarzen Senat markiert, sehen wir mit großer Sorge die aktuelle Entwicklung dieses aktuell so genannten Elberskirchen-Hirschfeld-Hauses.

Die Initiative Queer Nations e.V. wurde 2005 aus der Taufe gehoben, um jenseits parteipolitischer Wünsche und Profilierungsstrategien weltanschaulich unabhängige Projekte zu ermöglichen. Wir hatten wesentlich Anteil daran, die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld ins Leben zu rufen. Danach war sie federführend beteiligt, in Berlins Mitte ein der Öffentlichkeit zugängliches und bewusst weltanschaulich offen gehaltenes Queeres Kulturhaus zu initiieren. Darüber hinaus ermöglicht sie seit anderthalb Jahrzehnten den wissenschaftlichen – akademisch wie volxkulturell – Dialog zwischen allen Strömungen in den LGBTTIQ*-Szenen (nicht nur) in Berlin. Dokumentiert wird dies durch inzwischen 100 Queer Lectures und die Herausgabe des „Jahrbuch Sexualitäten“ (Wallstein-Verlag), das inzwischen in fünfter Ausgabe erschienen ist.

Wir haben stets insofern unsere Unabhängigkeit betont, als wir etwa in unseren Queer Lectures keiner ideellen oder diskursiven Richtung in der LGBTTIQ*-Community den Vorzug gaben oder je geben wollten. Im Gegenteil: Wir möchten den respektvollen und fairen Diskurs befördern, um miteinander eine gemeinsame Sprechfähigkeit zu erlangen. Gerade als queere Menschen sind wir überzeugt, dass Vielfalt – auch der Argumente und Überzeugungen – einen Wert in sich hat und geschützt und befördert werden muss.

Ausschließende oder gar feindselige Grundhaltungen

Dies scheint uns auch deshalb in jüngerer Zeit umso dringlicher geraten, als rechtspopulistische, teils homophobe, oft auch transphobe Stimmen in unserer Gesellschaft wieder stärker Raum beanspruchen und leider auch gewinnen. Als queere Personen können wir ein Beispiel setzen in einem Umfeld, das indes auf Diskursverengung zielt und seine gesellschaftszersetzende Kraft dadurch gewinnt, dass es Gegensätze ausspielt statt sich um eine Kultur der Toleranz und des Respekts zu bemühen. Diversität ist unser Charisma.

Die Initiative Queer Nations e.V. bedauerte sehr den Rückzug der queeren Archive – Magnus Hirschfeld Gesellschaft, Lesbenarchiv Spinnboden, das feministische Archiv FFBIZ sowie das Lili Elbe Archiv – aus unserem Projekt vom Queeren Kulturhaus.

Wie die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld möchten auch wir uns als IQN e.V. bis auf weiteres vom E2H-Projekt zurückziehen. Wir beobachten generell ausschließende oder gar feindselige Grundhaltungen gegenüber anderen Gruppen. Offener kontroverser Diskurs: ja, Diskriminierung: nein. Wir erinnern daran, dass ein Queeres Kulturhaus nur dann Sinn macht, wenn in diesem beispielsweise auch Trans- und Inter-Initiativen und -Gruppen und deren Kulturen ihren Platz finden können.

Eine Kultur von Sicht- und Sagbarkeit

Wir wünschen uns im Queeren Kulturhaus eine inklusive und offensive Willkommenskultur. Wer „anders als die anderen“ ist, soll hier ein Zuhause finden. Dazu gehört auch, weitere Bereiche queerer Lebensrealität zu integrieren, historisch wie aktuell und perspektivisch – oder wenigstens perspektivisch zu denken. Sensibel zu bleiben für Anliegen, die sich noch nicht laut artikulieren konnten, ist ein zentraler Bestandteil queerer Verantwortung.

Zu diesen Themen gehören zum Beispiel Geschichte und Gegenwart der People Of Colour (nicht nur) in Deutschland sowie der Menschen, die als sogenannte „Gastarbeiter:innen“ nach Deutschland (und andere Länder Mittel-, West- und Nordeuropas) kamen und deren LGBTTIQ*-Erfahrungen bislang kaum berücksichtigt werden; denen Erzähl-Räume ebenso fehlen wie Zuhörer:innen von allen Seiten: So verstehen wir eine Kultur von Sicht- und Sagbarkeit.

Als queere Menschen teilen wir die Erfahrung, unsichtbar bleiben zu sollen. Darum ist es uns als Initiative Queer Nations e.V. ein besonderes Anliegen, nicht einzelnen Teilgruppen der queeren Community besondere Sichtbarkeit zu ermöglichen, und seien sie geschichtlich noch so sehr begründet. Es gilt dazu beizutragen, alle Sexualitäten und Identitäten sichtbar und hörbar zu machen – seien sie im queeren Spektrum nun schwul, lesbisch, trans oder inter.

Dass es noch nicht zu spät ist, möchten wir glauben – bitten zunächst aber darum, dass unser Logo wie auch unser Name bis auf weiteres von der Website des E2H entfernt wird. Eine Rückkehr ins E2H-Projekt wünschen wir uns, indes nur mit den genannten queeren Archiven und der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld.

Vorstand der IQN e.V. – Clemens Schneider, Manuel Schubert, Markus Bernhardt und Jan Feddersen

Berlin, 13.10.2020


COVID-19 und die Auswirkungen auf die LSBTIQ*-Community | Appell


Appell der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld an Staat und Gesellschaft


Das Coronavirus diskriminiert nicht, trifft jedoch auf diskriminierende gesellschaftliche Strukturen. Deswegen sind marginalisierte Gruppen besonders stark betroffen, unter diesen die LSBTIQ*-Community. Gemäß dem Ziel der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (BMH), einer gesellschaftlichen Diskriminierung von lesbischen, schwulen, bi-sexuellen, trans- und intergeschlechtlichen sowie queeren Personen (Abkürzung: LSBTIQ*) in Deutschland entgegen-zuwirken, möchten der Vorstand und der wissenschaftliche Beirat der BMH auf drei Probleme hinweisen, Besorgnis zum Ausdruck bringen und zu Lösungsansätzen beitragen:

Erstens hat sich der medizinische Fokus in den letzten Monaten auf die Bekämpfung der Pandemie verlegt. Andere wichtige medizinisch notwendige Versorgungsleistungen (allgemeine Gesundheitsvorsorge; Behandlung chronischer (Infektions-)Erkrankungen; operative Eingriffe; Hormonbehandlungen; psychotherapeutische Versorgung) sind dem-gegenüber oftmals aufgeschoben worden. Davon sind LSBTIQ*-Personen überproportional negativ betroffen.

Zweitens hat häusliche Gewalt durch Ausgangssperren und eingeschränkte soziale Kontakte außerhalb des eigenen Haushalts zugenommen. In Familien, in denen bereits vor der Pandemie besondere Spannungen bestanden (etwa in Familien, in denen LSBTIQ*-Personen wegen ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität nicht akzeptiert werden), besteht ein erhöhtes Risiko häuslicher Gewalt. Dies betrifft insbesondere minder jährige LSBTIQ*-Personen, die bei ihren Eltern leben. Im Lockdown wurde zudem vielen LSBTIQ*-Personen die Verweigerung der staatlichen Anerken-nung ihrer Partnerschafts- und Familienmodelle wieder schmerzhaft bewusst, besonders wenn sie nicht in einem Haushalt zusammenleben.

Drittens ist die Inanspruchnahme staatlicher Leistungen seit Monaten nur eingeschränkt möglich. Dies betrifft zum einen den individuellen Zugang zu allgemeinen und speziellen Hilfs- und Förderprogrammen für die LSBTIQ*-Community sowie den Zugang zu Verwaltung und Justiz (etwa in Verfahren zu Personenstandsänderungen oder Aufnahme von Pflege- und Adoptivkindern). Zum anderen ist die institutionelle Absicherung von Community-Struk-turen gefährdet, deren Angebote zeitweise nicht durchgeführt werden konnten und/oder deren weitere Förderung pandemiebedingt in Frage steht.

Vorstand und Fachbeirat der Stiftung erinnern an die grund- und menschenrechtlichen Verpflichtungen der Bundes-republik, insbesondere an das Recht auf (physische und psychische) Gesundheit sowie an die Diskriminierungs- verbote. Der Staat muss die garantierten Grund- und Menschenrechte nicht nur selbst in seinen Handlungen achten, sondern auch positiv schützen und fördern.

Staatliche Akteure in Bund, Ländern und Kommunen, zivilgesellschaftliche Akteure und Unternehmen müssen bei der Bekämpfung der Pandemie die besondere Situation der LSBTIQ*-Community berücksichtigen und die beson-deren negativen Effekte der Coronapandemie auf die LSBTIQ*-Community stärker erforschen und ihnen entgegen-wirken. Es gibt vielfältige Ideen, wie die Situation verbessert werden kann. Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld appelliert an staatliche und nichtstaatliche Akteure, mit der LSBTIQ*-Community zu diesen Zwecken einen nachhal-tigen öffentlichen Dialog zu führen. Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld bietet an, diesen Dialog zu bündeln und in eine konkrete Machbarkeit z. B. in Form eines bundesweiten Aktionsplans zu überführen.

Die Initiative Queer Nations e.V. unterstützt diesen Appell ausdrücklich.


Sie finden diesen Appell auch hier als PDF zum Download.



Pause. Bis auf Weiteres


Es war kein Virus, der die Planungen für die Queer Lecture im März 2020 über den Haufen warf. Es ist jedoch ein Virus, der unsere Planungen für die nächsten Monate obsolet macht. Gründe genug für eine Bestandsaufnahme der Initiative Queer Nations.


Im April hätten wir wieder zu Queer Lectures eingeladen, Eszter Kovats und Fabian Hennig mit ihren Expertisen zum Kampf gegen „Gender“ in Ungarn sowie zur Frage, weshalb es nach wie vor keine „Verhütung“ für (heterosexuelle) Männer gibt, hatten sich so gefreut wie wir uns auf sie.

Aber wir müssen die Öffentlichkeit, die Queer Nations seit 2005 mit ihren Lectures entfaltet hat, pausieren lassen: Wir fügen uns so wie viele andere Vereine und Veranstalter den in der Tat sinnvollen behördlichen Wünschen und Auflagen, die in dieser virologisch hochriskanten Zeit menschliche Versammlungen über den unmittelbar familiären Bereich hinaus – und damit sind queere Familienverhältnisse ausdrücklich mit gemeint – untersagen.

Gerade die jüngsten Queer Lectures wie etwa „Pädophilie: Verbrechen ohne Opfer?“ am 15. Januar mit Jan-Hendrik Friedrichs im neuen taz Haus an der Friedrichstraße 23 waren sehr gut besucht mit 70, durchaus eng beieinander sitzenden Zuhörenden. Wir würden die gesundheitliche Integrität unserer Mitglieder und Freund*innen riskieren, wären wir darauf aus, unser Programm stur und beharrlich weiterzuführen.

Fehlendes Maß an Respekt

Die für den März geplante Queer Lecture von Gunda Schumann zum Thema „Transgender: Geschlechtergerechtigkeit passé?“ konnte aus anderen, nicht pandemischen Gründen nicht stattfinden. Auch aufgrund unserer eigenen Hilflosigkeit in öffentlich-kommunitiver Hinsicht wurde diese Veranstaltung mit einem Text angekündigt, der als transfeindlich und als verächtliche Äußerung über eine bestimmte Gruppe von Menschen verstanden werden konnte und musste.

Verschiedene Seiten reagierten auf diese Ankündigung mit scharfer, überwiegend uns einleuchtender Kritik, auch wenn die Tonlage etlicher Angriffe gegen die Ankündigung des Vortrags von Gunda Schumann – die inzwischen ihre Bereitschaft zur Queer Lecture zurückgezogen hat – das nötige Maß an Respekt, das die Kritiker*innen selbst einfordern, vermissen ließen.

Wir als Vorstand der Initiative Queer Nations bedauerten daraufhin in einer öffentlichen Stellungnahme dieses Missverständnis und betonten, dass uns nichts ferner liegt als die Diffamierung von Transpersonen, die uns als Mitstreiter*innen immer willkommen waren, sind und sein werden. Wir wollen kontroverse Debatten ermöglichen, aber auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung.

Neue Lectures nach der Sommerpause

Deswegen wollen wir Fragen, die sich aus bestimmten radikal-feministischen Perspektiven auf das Thema Transgender ergeben, auch weiterhin diskutieren. Wir denken, dass sich durchaus konstruktive Antworten finden lassen: Wie lässt sich die Vervielfältigung geschlechtlicher Identitäten mit einer an der Unterscheidung von Mann und Frau orientierten Gleichstellungspolitik verbinden? Darüber möchten wir weiterhin gerne in angemessener Form debattieren, wenn sich die Aufregung über die ursprünglich geplante Queer Lecture etwas gelegt hat.

Das heißt: Wir halten aus diesem Grund sowie wegen der aktuellen Corona-Krise inne – und haben unsere Vortragenden eingeladen, ihre Expertisen mit dem Ende der Sommerferien in unsere öffentliche Arena zu tragen: Neben Eszter Kovats und Fabian Hennig sind dies Götz Wienold und der Schriftsteller Stephan Wackwitz, die einen Abend zu einem legendären deutschen Autor veranstalten werden: „Der queere Hölderlin“.

Monty Ott wird darüber hinaus eine Lecture halten, in der er ausführt, warum der Intersektionalitätsbegriff Jüdisches ausschließt und damit den Blickwinkel auf antisemitische Weltbilder verstellt; Aaron Lahl wiederum wird zu einer Relektüre Herbert Marcuses einladen – und fragen, was es mit der Kategorie der „repressiven Toleranz“ heutzutage auf sich hat; Viktoria Preis wird außerdem über „Angst (vor) der Psychoanalyse“ sprechen – mit Überlegungen zum Vorwurf der Homosexuellenfeindlichkeit in dieser von Sigmund Freud begründeten Subjektwissenschaft.

Die neue Ausgabe des Jahrbuch Sexualitäten kommt

Mit diesem Programm zeigen wir, dass es Queer Nations nicht darum geht, einer wissenschaftlichen oder ideellen Richtung allein Raum zu geben – bei uns kommt zur Geltung, was uns interessant scheint und was neu zu denken und wahrzunehmen lohnen könnte.

Wir können dies in diesem Jahr wegen der Corona-Pandemie nur eingeschränkt tun – wir bedauern dies sehr.

Im Juli erhalten alle Mitglieder die in diesen Tagen gerade redaktionell fertig betreute neue Ausgabe des „Jahrbuch Sexualitäten“, auf dem Cover und in dem „Jahrbuch Sexualitäten“ selbst Arbeiten des schwulen Zeichners Ralf König, der im August seinen 60. Geburtstag feiert. Ob es einen Release-Abend zum neuen „Jahrbuch Sexualitäten“ geben wird, können wir aktuell nicht wissen.

Wir gehen indes in gewisser Weise schon jetzt davon aus, dass die längst in intensiver Vorbereitung befindliche CSD-Saison in diesem Jahr ausfallen muss. Immerhin, mittelironisch angefügt, geschieht dies weder aus homo- oder transphoben Gründen, sondern weil diese Epidemie allen Rücksichtnahme abverlangt.

Ihnen und Euch alles Gute – vor allem gute Gesundheit!

Der Vorstand von IQN e.V.


Titelbild: Unsplash/Marcus Lenk



Queer Lecture Review | Das Hardcore-Dilemma


Der Philosoph Dr. Karsten Schubert von der Universität Freiburg, sprach in seiner Queer Lecture über „PrEP ändert Sex – Schwule Subjektivität, Biopolitik und Demokratie“. IQN-Gastautor Dr. Torsten Flüh hat die Lecture gehört.


Freitag, am 7. Februar 2020, hielt der Freiburger Philosoph Dr. Karsten Schubert seine äußerst gut besuchte Queer Lecture im taz-Neubau in der Friedrichstraße. Sein Thema betrifft alle Schwule, die Sex mit männlichen, menschlichen Körpern haben.

Das muss so formuliert werden, weil es heute ja auch Virtual Reality gibt, die nicht nur in Pornos auf die eine oder andere Weise in die Handlungen und Orgasmen eingebaut wird. Dating-Apps und Chats haben sich seit gefühlten Hundertjahren über nicht nur schwule Sexualpraktiken gelegt, um das Sexualleben in Pics, Icons und Schwanzlängen, PrEP-Usern und PrEP-Combats zu verdaten.

Nina Q. und die BILD

PrEP ist die Abkürzung für „Pre-exposure prophylaxis“ (Präexpositionsprophylaxe). Was heißt das hier für die avisierte Fragestellung? PrEP ist die Pille davor, mit deren pharmakologischem Support das Sexwesen sich keine HIV-Infektion zuzieht.

Karsten Schubert eröffnet seinen Vortrag mit einem Bild der „BILD“-Kolumnistin Nina Queer, die ganz im konservativ, bürgerlich-nichtbildungsbürgerlichen Sozialsprech verhaftet ist. In „BILD“ titelte sie Ende Oktober 2019: „Freie Fahrt für wilde Nutten – ‚So gefährlich ist PrEP!‘“ Das Ausrufezeichen ist wichtig, weil es vor allem einen Befehl markiert.

Nina Queer sei ein Familienmensch und befürchtet, dass ihre Familie dann von anderen sexuellübertragenen Krankheiten (STDs) wie Syphilis, Tripper, Herpes und Pilzen infiziert wird. Und wenn die Syphilis nicht entdeckt wird, dann gibt es „schwere Gehirnschäden“.

Pharmaindustrie liegt mit im Bett

Der queere „BILD“-Alarmismus von Nina Queer dient Karsten Schubert als Einstieg in eine Theoriediskussion in den queeren Sozialwissenschaften, die in den USA besonders engagiert geführt wird. Es geht nämlich um Biopolitik und wie die gestaltet werden soll. Den Begriff der Biopolitik hat Michel Foucault für seine Geschichte der Sexualität seit Anfang der 70er Jahre entwickelt.

Foucault interessierte die Frage, wie seit Beginn des 19. Jahrhunderts ein Wissen über die Sexualität herausgebildet, wie dieses das Sexualverhalten durch Bestrafung und Belohnung reguliert und die Menschen danach ihre Sexualpraktiken ausgerichtet haben. Er hat also genau nach dem Ausrufezeichen bei Nina Queer gefragt. Wie kann Sie so etwas formulieren?

Karsten Schubert arbeitete nun erst einmal heraus, dass „PrEP“ Biopolitik ist, weil die Pharmaindustrie mit den neuen Medikamenten das Sexualverhalten insbesondere unter Homosexuellen mit wechselndem Geschlechtsverkehr verändere. Was als neue Freiheit nach dem Zeitalter von AIDS und des Kondoms als Infektionsverhütung wahrgenommen wird, unterwirft jeden Prep-User zugleich den kapitalistischen Interessen der globalen Pharmaindustrie und ihren Anteilseigner:innen.

„Unlimited Intimacy“ vs. „Vital Politics“

Wer sich Prep nicht leisten kann, bleibt draußen oder wird krank. Zugleich gefährde, so Tim Dean, Sozialwissenschaftler in den USA, Prep die „Unlimited Intimacy“ der Barebacking Community als subversive, quasi anti-kapitalistische soziale Form. Tim Dean lehne in seiner Govermentalitätsanalyse Prep als Macht ab. Dagegen hat sich sein Kollege Nicolas Rose mit seinen „Vital Politics“ mit einem demokratischen Modell gewendet. Durch Selbstorganisation einer „biologischen Bürgerschaft“ könnten sich die Gegensätze zwischen Natur und Kultur, normal und pathologisch, Krankheitsbehandlung und Körperoptimierung auflösen.

Karsten Schubert plädiert für eine demokratische Aushandlung des Sexualverhaltens und sieht Prep nach genauer Überprüfung aller medizinischen Argumente als eine Chance für eine Demokratisierung der Schwulen-Community. Seine genaue und detailreiche Argumentation wird im im Juli 2020 erscheinenden „Jahrbuch Sexualitäten“ nachgelesen werden können.

Text: Dr. Torsten Flüh


Titelbild: Unsplash/Taras Chernus


Queer Lecture Review | Eine Ära der Bagatellisierung von Gewalt


Warum wurde in den „Pädophiliedebatten“ der 1970ern bis 90er den betroffenen Kindern der Opferstatus systematisch vorenthalten und warum konnten Täter mit ihren Forderungen und Strategien so lange reüssieren? In einer bemerkenswerten Queer Lecture analysierte Dr. Jan-Henrik Friedrichs die dunklen Flecken westdeutscher Emanzipationsbewegungen seit 1968.


Ja, es gab sie im Publikum dieser Queer Lecture, eine kleine Zahl von Zuhörern, die die Fragestellung, ob Pädosexualität ein eigenständiges sexuelles Triebschicksal ist (so wie Hetero- und Homosexualität), wahrscheinlich bejahen würden. Doch sie blieben die ausdrückliche Minderheit. Das große Mehrheit der Anwesenden dürfte eher den Terminologien der Sexualwissenschaft folgen und Pädosexualität als Störung einordnen.

Doch wer nun glaubte, in dieser erste Queer Lecture des Jahres 2020 unter dem Titel „Pädophilie: Verbrechen ohne Opfer?“ ginge es um jene Frage, irrte erheblich. Diese Fragestellung stand überhaupt nicht zur Debatte, wie Referent Dr. Jan-Henrik Friedrichs deutlich klarstellte: er sei kein Sexualwissenschaftler, er könne und wolle nichts dazu sagen.

Sein Thema sei der sozialwissenschaftliche Diskurs um Pädophilie in den siebziger bis neunziger Jahren: Wie konnte es dazu kommen, dass die Perspektive der Opfer – Kinder, Heranwachsende – in jenen Jahren in der Debatte um die Aufhebung der Altersgrenzen zum Schutz von Minderjährigen ignoriert wurde und gar das populäre Magazin „betrifft: erziehung“ pädosexuelle Handlungen als „opferlos“ schilderte?

Auf welche Weise konnten die Perspektiven von (allermeist) Männern gewichtig genommen werden, doch die von Kindern und Heranwachsenden nicht? Gesellschaftliche Machtverhältnisse, etwa zwischen den Generationen, wurden hier ignoriert und trugen zugleich dazu bei, dass Kindern der Opferstatus systematisch vorenthalten wurde. Dies betraf vor allem Mädchen sowie Kinder aus armen Verhältnissen und aus dem globalen Süden, so Friedrichs.

Faktisch bagatellisierende Strategien

Moderiert von Prof. Juliane Jacobi, einst Professorin für Historische Sozialisationsforschung an der Universität Potdam, hörte das Publikum dem Referenten gebannt zu: Friedrichs umriss eine Zeit, in der auch die Sexual- und Erziehungswissenschaften – nicht nur die Partei der Grünen – sich den Anliegen von Pädosexuellen und ihren Verbänden gegenüber mehr als nur offen zeigten.

Friedrich monierte, dass die Akteure der klassischen Schwulenbewegung der siebziger bis frühen neunziger Jahre bis heute nicht hinlänglich über ihre faktisch bagatellisierenden Strategien zur sexuellen Gewalt wider Kinder und Heranwachsende in den Diskurs getreten sind.

Was die Pädo-„Aktivisten“ am Mittwochabend zu hören bekamen, dürfte ihnen nicht gefallen haben

Die Queer Lecture war sehr gut besucht, mehr als 60 Menschen hörten Friedrichs, der seinen Forschungen an der Universität Hildesheim bei Prof. Meike Baader nachging, zu. Unter den Zuhörenden auch Dr. Christine Bergmann, einst in rotgrünen Zeiten Familienministerin, später Opferbeauftragte der Bundesregierung zur sexuellen Gewalt an Kindern. Ebenso im Publikum Menschen, die sich um die Opfer des „übersehenen“ Gewaltkomplexes kümmern, etwa der „Eckige Tisch“. Und eben auch jene Personen, die zum pädosexuellen Lobbykreis mit zu zählen sind. Um diesen kein Forum zu bieten, wurden Co-Referate strikt unterbunden und für den Fall der Missachtung der Verweis aus der Veranstaltung angedroht.

Die Queer Lecture im Konferenzraum des taz Naubaus, welcher freundlicherweise von Verlag der taz zur Verfügung gestellt wurde, lebte in ihrer Lebendigkeit auch von einer erstmals praktizierten Reißverschluss-Fragestunde nach dem Vortrag: jeweils zwei Fragen, je eine Frau und ein Mann, keine Statements oder Co-Referate etwa selbstpromotioneller Art.

Irriges im AfD-Twitter

Freilich, die sog. AfD twitterte hernach aus ihren Reihen im Berliner Abgeordnetenhaus in üblicher Manier – irrig bis lügnerisch. Wörtlich heißt es da etwa: An der Queer Lecture „teilgenommen hatte auch der bekennende Päderast Dieter Gieseking vom Pädonetzwerk Krumme13. Die Veranstalter hatten diese im Internet angekündigte Provokation kommentarlos hingenommen. Das ist eine unglaubliche Zumutung für Opfer, die deswegen vor der Tür blieben. Es ist ein Skandal, dass taz-Journalist Feddersen nicht einschritt und Gieseking mit seinen Pro-Missbrauch-Kumpanen zur Veranstaltung zuließ. Die Moderatorin der Veranstaltung erteilt den Missbrauchsleugnern und pädosexuellen Aktivisten sogar das Wort: In ihren Äußerungen relativierten sie anschließend den Kindesmissbrauch. (…)“

Diese Darstellung trifft nicht zu: Niemand blieb vor der Tür aus Protest, auch erteilte die Moderatorin Juliane Jacobi weder Gieseking noch anderen bekannten pädosexuellen Aktivisten das Wort. Relativierenden Andeutungen wurde entschieden widersprochen. Was diese „Aktivisten“ am Mittwochabend zu hören bekamen, dürfte ihnen nicht gefallen haben.

Der Abend lebte atmosphärisch vom Gegenteil dessen, was beim Gründungsparteitag der Grünen im Januar 1980 in puncto Indianerkommune der Fall war: Ein falsches, opferbelastendes Verständnis von dem, was Pädophile wünschen oder für wünschbar halten. Jan-Henrik Friedrichs wusste die Zeit nach dem angeblich magischen „1968“ smart zu dekonstruieren: auch eine Ära der Bagatellisierung von Gewalt gegen Minderjährige, gerade im sexuellen Bereich.

Damals, so Friedrichs, sei es wissenschaftlich nicht üblich gewesen, Fragen von „race“ und „class“ zu stellen: Gerade in dieser Hinsicht, lässt sich nach Friedrichs Ausführungen resümieren, haben Pädophile propagandistisch ihre Anliegen verbrämt – etwa mit Werbung für Ferien in maghrebinischen Ländern oder für Betreuungsverhältnisse mit proletarischen Jugendlichen.

Diese Queer Lecture, so die Reaktion vieler Zuhörender, war eine der im besten Sinne bürgerlichen Selbstaufklärung: Friedrichs hinterließ ein nachdenkliches Publikum, für viele aus diesem mit einem starken Bündel an Stoff zum Weiterdenken.

IQN, Berlin, 18.01.2020


Titelbild: Andrew Neel/Unsplash (Symbolbild)