Mit der Berufung auf „Kinderschutz” hat Ungarns Regierung  Pride-Paraden per Gesetz im Land verboten. Betroffen ist vor allem die Parade in der Hauptstadt Budapest. Doch das neue Gesetz zielt eigentlich auf Viktor Orbáns Herausforderer Péter Magyar von der Oppositionspartei Tisza. LGBT-Rechte sind für Orbán und seine Fidesz-Partei in erster Linie Mittel zum Zweck des Machterhalts.

Pride-Parade 2023 in Ungarns Hauptstadt Budapest: Teilnehmer von hinten fotografiert, kleine Regenbogenfähnchen werden gezeigt, Seifenblasen schweben über den Menschen.
Pride-Parade 2023 in der ungarischen Hauptstadt Budapest. Das soll es nach dem Willen von Regierungschef Viktor Orbán und seiner Fidesz-Partei zukünftig nicht mehr geben (Foto von Christian Lue auf Unsplash).

28. März 2025 | Eszter Kováts

“Die Organisatoren der Pride sollten sich nicht um die Vorbereitung des diesjährigen Umzugs bemühen. Es wäre verschwendete Zeit und Geld“, kündigte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán seine Drohung am 22. Februar 2025 in seiner Rede an, die er üblicherweise als Rück- und Ausblick im Februar eines jeden Jahres hält. Knapp einen Monat später war es so weit: Am 17. März wurde der Gesetzesvorschlag im Parlament  eingereicht und am Folgetag als Gesetz verabschiedet.  Laut diesem Gesetz darf die Pride-Parade in Budapest mit Berufung auf Kinderschutz nicht wieder stattfinden.

Business as usual in Orbáns Ungarn seit 15 Jahren. Das gilt nicht nur dafür, dass das Parlament, in dem die Regierungskoalition Fidesz-KDNP Zweidrittelmehrheit hat, kein Ort der Auseinandersetzung und der Aushandlung ist, und Gesetze inkl. Grundgesetzänderungen üblicherweise ohne Beratung blitzschnell durchgewinkt werden. Das gilt auch dafür, dass der Regierung für den Machterhalt nichts zu teuer ist. Bei der Bemühung, den bisher aussichtsreichsten Herausforderer von Orbán, Péter Magyar und seine Partei Tisza, in eine Falle zu locken, bzw. ihre Wähler zu spalten, sind die sexuellen Minderheiten und ihre Verbündeten der Regierung nicht – wie Der Spiegel formuliert – „Dorn im Auge”, sondern Kollateralschaden.

Das Gesetz

Das Versammlungsgesetz wurde dahin gehend ergänzt, dass Versammlungen das Kinderschutzgesetz nicht verletzen dürfen. Dieses 2021 verabschiedete Gesetz verbietet jegliche Darstellung von Homosexualität und „Abweichen der Identität vom Geburtsgeschlecht” für Minderjährige.

Mit der jetzigen Gesetzesänderung wurde faktisch die seit 30 Jahren stattfindende Pride-Parade verboten. Wenn  sie dennoch stattfindet – und das wird sie wohl –, gilt die Teilnahme als Ordnungswidrigkeit.  Teilnehmer können  mit einer Geldbuße in Höhe von bis 200 000 HUF bestraft werden. Das sind umgerechnet 500 Euro – Nettodurchschnittsgehalt in Ungarn ist derzeit 1 200 Euro. Die Identifizierung der Teilnehmer würde  mit einer Gesichtserkennungssoftware  vorgenommen werden –  ein öffentlich viel zu wenig diskutierter Aspekt des Gesetzes. Kritiker befürchten einen massiven Schritt Richtung Überwachungsstaat.

Wie auch immer man zum Inhalt der Pride steht: das Verbot ist eine ernsthafte Einschränkung der Versammlungsfreiheit – eines wichtigen Grundrechts in Demokratien. Gerade deshalb äußern sich auch zum Beispiel christlich-konservative Intellektuelle, anti-woke Liberale, genderkritische Feministinnen kritisch, die sonst keine Fans der Pride sind.

Wenn Ansichten, dass die Erde flach sei, verbreitet werden können, dann wohl auch, dass es viele Geschlechter gebe oder Geschlecht keine biologische Grundlage habe und nur das Individuum darüber Auskunft geben könne. Versammlungsrecht gilt unabhängig vom Inhalt, so schwachsinnig er uns auch erscheinen mag. In den letzten 15 Jahren war die Einsicht in Ungarn vielleicht noch nie so stark wie jetzt: Betroffen ist nicht mehr nur die LGBT-Community; eine andere Gruppe könnte als nächste dran sein, in ihren Versammlungsrechten eingeschränkt zu werden.

Gesetz will Opposition herausfordern

Weitere Einschränkungen des Versammlungsrechts sind um so bedrohlicher, da das Orbán-Regime seit seinem Bestehen jetzt zum ersten Mal befürchten muss, die Macht bei den Parlamentswahlen 2026 zu verlieren. Und das ist auch der Kontext und der Zielhorizont des Gesetzes – nicht LGBT-Rechte, die sind nur das Mittel zum Zweck, wenn auch grausame.

In einem Jahr finden in Ungarn Parlamentswahlen statt, und Orbán hat letztlich einen ernstzunehmenden Herausforderer bekommen: Péter Magyar, den Ex-Mann der früheren Fidesz-Justizministerin Judit Varga.  Bis vor einem Jahr war er für die breite Öffentlichkeit in Ungarn unbekannt. Dann kam der sogenannte Begnadigungsskandal, in dem Präsidentin Katalin Novák einen ehemaligen stellvertretenden Leiter eines Kinderheims trotz Beihilfe zu Kindesmissbrauch begnadigte und die damalige Justizministerin Varga diese Begnadigung gegenzeichnete.

Als der Fall von einem Journalisten aufgedeckt wurde, mussten die Präsidentin und Magyars Ex-Frau, damals bereits keine Justizministerin mehr, sondern EP-Spitzenkandidatin für Fidesz, zurücktreten. Dann ist Magyar auf die Bühne getreten und seitdem wie ein Komet aufgestiegen. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament haben er und seine Partei Tisza – der Name verweist sowohl auf Ungarns zweitgrößten Fluss Theiß  und auf die Abkürzung für ’Respekt und Freiheit’ – fast 30 Prozent und 7 von den 21 Sitzen geholt. Nun stehen sie nach den Wahlumfragen um 40 Prozent mit Fidesz auf gleicher Höhe – etwas, was Ungarn seit 15 Jahren nicht gesehen hat.

Der 44-jährige mit Gym-CEO-Vibe hat fast alle anderen Oppositionsparteien verdrängt, trotzöffentlich dokumentierter Beweise darüber, wie herablassend er mit Frauen, Angestellten und Medien redet. Zur Illustration: Im ungarischen Parlament sind gerade fünf (!) Parteien vertreten, die laut Umfragen über 0-1% gesellschaftlicher Unterstützung verfügen.  Magyar kommt von rechts, sogar von Fidesz. Er bemüht nationale Symbolik und eine Rhetorik, die Menschen mit unterschiedlichen ideologischen Auffassungen anzusprechen versucht. Und hier kommt Fidesz’ Pride-Verbot zum Einsatz. Die Regierungspartei greift zu  Mitteln, die sie routinemäßig erfolgreich anwendet: Divide (durch Kulturkampf) et impera

Magyar ist damit unter Druck gesetzt: wenn er den Liberalen gegenüber keine Geste macht, und sie entfremdet, könnten sie sich einer der verbliebenen Kleinparteien zuwenden: der sozialdemokratischen DK, der Witzpartei Zweischwänzige Hundepartei oder der liberalen Momentum. Wenn er aber diese Einschränkung des Versammlungsrechts thematisiert – was Fidesz ja von ihm will, weil sie ihn dann der woken Identitätspolitik und Genderideologie bezichtigen könnten –,  dann würde erdamit potenzielle konservative Wähler entfremden. Diese Konservativen lehnen nicht die Existenz der Homosexuellen ab – die Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert Homosexualität – sondern wofür Pride heutzutage möglicherweise  steht: westliche und großstädtische Arroganz und Ignoranz, selbstgerechte Moralisierung , Infragstellung der biologischen Wirklichkeit der zwei Geschlechter. Ihnen sind diese Entwicklungen tatsächlich Dorn im Auge.

Es bleibt abzuwarten, ob Magyar den Druck aushält und bei seinen Themen (Lebensunterhaltskosten, Inflation, Gesundheitswesen, Bildung, marode öffentliche Infrastruktur) bleibt, bzw. ob die liberalen Wähler (vom Gesetz unmittelbar Betroffene und ihre Verbündete) so ein identitätsstiftendes Thema fallen lassen, zugunsten ihrer höheren Priorität, nämlich Orbán abzuwählen.

Symbolpolitik als Selbstzweck

Orbán und seine Fidesz-Partei spielen bewusst auf den Triggerpunkten der Budapester Liberalen und der westlichen Eliten, weil ihnen das politisch nutzt. Erinnern wir uns an 2021: Im Juni hat damals Fidesz aus ähnlichen Gründen – Provokation und Spaltung der vereinten Opposition – die Verschärfung des Pädophiliegesetzes mit Verbote der Darstellung von Homosexualität und Transgender-Identitäten für Minderjährige im Schulunterricht und Medien verbunden.

Das Resultat: Schriller Aufschrei, Putin-Vergleiche  und eine wochenlange politische Aktion in Deutschland, um zu erreichen, das  Münchner Fußballstadion  während dem EM-Spiel Deutschland gegen Ungarn „aus Solidarität mit LGBT-Menschen in Ungarn” in Regenbogenfarben beleuchten zu lassen. Eigentlich stellte die Gleichsetzung von ungarischen Spielern und Fans mit der ungarischer Regierung eine Demütigung dar, in jedem Fall war es zumindest eine leere, selbstgerechte Geste.

Solche moralisierenden Haltungsübungen , die politisch nichts erreichen, d.h. weder die Macht unter Druck setzen, noch Bystanders überzeugen, sondern nur weiter polarisieren, sind den ungarischen Liberalen auch nicht fremd. Momentan läuft ein in den sozialen Medien ausgefochtener Streit zwischen verschiedenen liberalen Oppositionspolitikern in Budapest, ob das Aufhängen der Regenbogenflagge in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Regenbogen-Beleuchtung einer Kirche ein leeres und kontraproduktives, oder eben ein wichtiges politisches Mittel ist, um Solidarität zu zeigen. Dieses Zeichen mag manchen Betroffenen als Anerkennung rüberkommen, aber Außenstehende wird es nicht überzeugen – und Fidesz wird es wohl nicht unter Druck setzen.

Ebenfalls auf ihre enge kleine Klientel gerichtet sind die Aktionen der urban-gebildeten Partei Momentum, die nun versuchen, durch die Politisierung dieses Themas wie ein Phönix aus der Asche aufzuerstehen. Deshalb machten sie im Parlament während des Verabschiedens des Gesetzes eine spektakuläre Aktion mit Rauchkerzen und scheuen sich seitdem nicht vor medienwirksamen Aktionen.  Die Aufmerksamkeitsökonomie ist damit bedient, und es könnte einige Magyar-Anhänger verunsichern, die darüber enttäuscht sind, dass seine Partei dieses Einschneiden eines wichtigen Grundrechts nicht aufgreift. Aber es ist Widerstand um des Widerstands willen, ohne politische Strategie, ohne eine Vorstellung über politische Veränderung. Wozu das führt, haben die Ungarn 2014, 2018 und 2022 bei den massiven Wiederwahlen der Fidesz erlebt.

Was nun?

In den nächsten Tagen wird noch etwas in Gesetz gegossen: eine Grundgesetzänderung, die festschreibt, dass es zwei Geschlechter gibt – Mann und Frau. Die Ähnlichkeit mit Trumps Dekret ist offensichtlich. Seit 2020 steht bereits  im Grundgesetz: „Die Mutter ist eine Frau, der Vater ist ein Mann.” Manche haben  diese Änderung als homophob, andere als transphob bezeichnet. Nun findet eine weitere biologische Tatsache Eingang ins Grundgesetz – zur Provokation, Spaltung, aber auch als vorbeugende Gesetzgebung, angesichts der Entwicklungen im Westen.

LGBT-Rechte sind ein Spielball in der Politik der ungarischen Regierung, um Macht zu behalten. Ihre anti-LGBT-Botschaften können in der breiten ungarischen Öffentlichkeit aber deshalb verfangen, weil sie auf manche problematische Entwicklungen im Westen reagieren.

„Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden”, so das berühmte Zitat von Rosa Luxemburg. Das ist etwas, was Orbán nicht vertritt, aber oft auch nicht die eifrigsten Befürworter der LGBT-Rechte im Westen („wenn du nicht mit uns bist, dann bist du mit Putin, AfD, Orbán”). Den Wert der Freiheit sollten die Linken für sich auch wieder entdecken – sonst haben es  Orbán und Co. es leichter, diese wegzunehmen. 


Eszter Kováts, Ph.D., ist Politikwissenschaftlerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Feministische Theorie, Gleichstellungspolitiken, Anti-Gender-Bewegungen, illiberale Rechte und illiberale Linke in Europa. Sie studierte Germanistik, Romanistik, Soziologie und Politikwissenschaft in Pécs, Szeged und Budapest und promovierte 2022 an der ELTE-Universität Budapest in Politikwissenschaft. Ihre Dissertation wurde unter dem Titel „Feindbild, Hegemonie und Reflexion – Bedeutung und Funktion des Genderbegriffs in der Politik des Orbán-Regimes und der deutschen radikalen Rechten“ veröffentlicht und 2022 mit dem Kolnai-Preis der Ungarischen Gesellschaft für Politikwissenschaft für das beste politikwissenschaftliche Buch des Jahres ausgezeichnet.

Seit Februar 2023 ist sie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien tätig, seit September 2024 ist sie dort Marie Skodłowska-Curie Postdoctoral Fellow im Forschungsbereich Politische Theorie. Von ihr ist im Jahrbuch Sexualitäten 2021 der Essay „Gender als Feindbild der Rechten und die Probleme mit einer progressiven Einheitsfront” erschienen, der online kostenfrei auf der IQN-Website zur Verfügung gestellt wird.


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