Warum biedern sich LGBT bei reaktionären und antiqueeren Bewegungen wie der pro-palästinensischen an?

Besonders in diesem Sommer wird sichtbar, wie verbreitet die aktive Unterstützung von antisemitischem Pro-Palästina-Aktivismus in der LGBT-Szene ist. Wie konnte das passieren? Eine Antwort könnte in der permanenten Beschwörung der „Stonewall“-Aufstände liegen, die aber längst nicht mehr in die heutige Zeit passt.

Verniedlichung von gegen Israel gerichteter Aufstände, gesehen auf dem Dyke March Berlin 2024 (Foto: Screenshot).

7. August 2024 | Till Randolf Amelung

„Stonewall was a riot!“ heißt es alle Jahre wieder zur CSD-Saison. Die Erinnerung an den Ursprung heutiger Pride-Paraden wird vor allem dann bemüht, wenn einem, aus der Perspektiver linker Queers, die Gegenwart zu kommerziell und zu unpolitisch erscheint. Der Kontrast zwischen den Krawallen von 1969 im New Yorker „Stonewall Inn“ und den CSD-Paraden im Jahre 2024 könnte in der Tat nicht größer sein. Während vor 55 Jahren nicht-heteronormative Sexualität nur im Verborgenen mit ständiger Angst vor staatlicher Repression gelebt werden konnte, gar illegal war, so marschieren Pride-Paraden heute ganz offen nicht nur durch Großstädte, sondern auch durch Provinzkäffer. Anstatt die Teilnehmenden zu verhaften, beschützt die Polizei die Aufmärsche nun, für Politiker*innen ist es ein gern wahrgenommener Termin für die eigene Imagepflege. Früher undenkbar war ebenfalls, dass Unternehmen Pride-Paraden sponsern, gar ein eigenes internes LGBTI-Netzwerk mit eigenem Truck mitfahren lassen oder Give-aways und Regenbogeneditionen ihrer Produkte auf den Markt werfen.

Zu unpolitische Freiluftparty

Doch während die einen sich auf die jährlichen Freiluftpartys der queeren Sichtbarkeit freuen, zetern die anderen über das ihnen zu unpolitische Vergnügen. Beispielhaft für die Sehnsucht nach dem revolutionären Geist der Vergangenheit ist Dirk Ludigs sauertöpfischer Kommentar von 2022 im Berliner Szeneblättchen Siegessäule über den CSD Berlin: „Wenn dieser CSD 2022 irgendetwas war, dann noch unpolitischer, noch mainstreamiger, noch weniger queer, noch weißer, noch weniger glamourös als die CSD-Paraden davor.“

Während man einem schwulen Mann, der mit solchen Verrissen vielleicht auch seiner eigenen rebellischen Jugend hinterhertrauert, noch mildernde Umstände zuerkennen möchte, muss dennoch über die Gefahren solcher regressiven Nostalgie gesprochen werden.

Stonewall-Mystik

Niemand kann sich ernsthaft in die Zeiten zurückwünschen wollen, als sexuelle und geschlechtliche Abweichungen nur heimlich, unter großer Angst vor staatlicher und familiärer Sanktion gelebt werden konnten. Zugleich ist zutreffend, dass noch nicht alle gesellschaftlichen Fragen für ein gutes Leben vollständig abgeräumt worden sind – und möglicherweise nie ganz werden. Doch das Beschwören der Aufstände von 1969 wie einen mystischen Ursprung, den es wie einen Quell immerwährender Jugend zu bewahren gilt, wird uns nicht weiterbringen.

Rebellion und Revolution verheißen den Geist widerständiger Jugend und versprühen eine Form von Coolness. Eine Coolness, die man in den Firmenzentralen von DAX-Unternehmen oder im institutionalisierten Politikbetrieb nicht zu finden vermag.

Coolness vs. Bürgerrechte

Doch um Coolness geht es bei bürgerrechtlichen Fragen nicht, sondern um Gleichberechtigung, um die Chancen auf gleiche Teilhabe an Öffentlichkeit. Homos und Trans sollen nicht auf die Abweichung vom Heteronormativen reduziert, sondern als ganze Menschen gesehen werden und die individuellen Freiheiten und Möglichkeitsräume haben, wie andere auch. Ob nun in der Führungsetage eines Weltkonzerns arbeitend oder in einem linksautonom besetzten Haus lebend, all das soll Teil der persönlichen Vorlieben sein, wie man sein Leben gestalten will.

Doch einigen scheint diese Realität, wie sie jetzt ist, zu wenig aufregend zu sein. Daraus Kapital schlagen Gruppen, die eben genau die rebellische Coolness und ein verbindendes Gemeinschaftserleben versprechen. Allen voran wird nun antisemitischer pro-palästinensischer Aktivismus als solches platziert, in Berlin zum Beispiel notorisch auf dem „Internationalist Queer Pride“ oder deutschlandweit durch Gruppen aus dem Umfeld der türkischen marxistisch-leninistischen Jugendorganisation „Young Struggle“. Autoritäre linke Gruppen, die rote Fahnen mit Hammer und Sichel schwenken, scheinen rebellische Bedürfnisse zu befriedigen. Dem voran ging jahrelange intellektuelle Agitation, warum gegen Israel sein ein natürliches Anliegen für LGBT sein müsse, wie Corinne E. Blackmer erläutert hat.

Im sich als rebellisch und progressiv verstehenden Milieu sind nun Wassermelone und Pali-Tuch die Trendaccessoires der Sommermode, inklusive dem Schlachtruf „Yallah, Intifada“.  Doch wie beim Berliner Dyke March zu sehen war, zieht das eine Klientel an, der an tatsächlicher Emanzipation insbesondere von Lesben und anderen Frauen nicht gelegen sein dürfte.

Ankommen im Heute

Mit einem aufgeräumten Verhältnis zur eigenen Geschichtlichkeit sowie zum Status Quo, könnte man sich fragen, ob es tatsächlich im eigenen Interesse ist, Antisemiten die eigene Plattform zu überlassen, die LGBT eigentlich ablehnend gegenüberstehen. Ein Blick in die Geschichtsbücher sollte genügen, um zu erkennen, dass sich der Traum von Revolution auch in einen Alptraum verkehren kann, wo mitnichten persönliche Freiheit wartet.

Daher: Werdet endlich erwachsen und akzeptiert, dass „Stonewall“ einen Platz in den Geschichtsbüchern, aber nicht in der Gegenwart hat.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.