WPATH-Files bestätigen Risiken des gender-affirmativen Ansatzes
Der gender-affirmative Ansatz insbesondere bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie ist heftig umstritten. Geleakte Inhalte einer Austauschplattform für Mediziner_innen zeigen, wie riskant dieser Behandlungsansatz für die Patient_innen sein kann.
8. März 2024| Till Randolf Amelung
Es steht nicht gut um geschlechtsidentitätsbejahende Behandlungen. International häufen sich die Enthüllungen und Berichte, die allesamt in eine Richtung weisen: der gender-affirmative Ansatz zur Behandlung von Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie – also einem tiefgreifenden Leiden unter den körperlichen Merkmalen des biologischen Geschlechts – hat eine unzureichende Evidenzbasis. Das bedeutet, das Verhältnis von Nutzen und Risiken ist zu wenig geklärt. Das gender-affirmative Behandlungsmodell sieht eine schnelle Bestätigung der Selbstaussage eines Kindes oder Jugendlichen über die Geschlechtsidentität nicht nur mit sozialer Anerkennung, sondern auch mit Medikamenten wie Pubertätsblockern und Geschlechtshormonen vor. Für Kontroversen sorgen vor allem Berichte von Menschen, die ihre Geschlechtsangleichung bereuen sowie massiv gestiegene Zahlen bei biologisch weiblichen Teenagern und jungen Frauen, die eine Transition zum Mann begehren. Dies nicht von Kindesbeinen an, sondern oft erst mitten in der Pubertät.
Vergangene Woche veröffentlichte eine Gruppe deutscher Psychiater_innen um Florian D. Zepf (Universitätsklinikum Jena) eine „systematische Übersicht zur Evidenzlage der Pubertätsblockade und Hormongabe bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie“. Die Autor_innen stuften die Evidenzlage als „mangelhaft“ ein. Parallel dazu konnte man bei dem Vorhaben der Erarbeitung einer neuen Leitlinie für die Behandlung von geschlechtsdysphorischen Minderjährigen plötzlich nachlesen, dass diese nicht mehr den höchsten Evidenzgrad „S3“ erreicht, sondern nur noch „S2k“.
Hormonrezept nach 17 Minuten in Kanada
In Kanada brachte der öffentlich-rechtliche Sender Radio Canada zum Monatsanfang eine Reportage über die Probleme in diesem medizinischen Feld. Auch in Kanada ist der gender-affirmative Ansatz verbreitet. Das Reporterteam setzte eine 14-jährige Schauspielerin als Lockvogel ein und ließ sie sich in einer privaten Arztpraxis vorstellen. Nach einem insgesamt 17-minütigen Ersttermin bekam das Mädchen ein Testosteronrezept. Ohne sorgfältige Exploration ihrer Biografie und psychischen Gesundheit. Von den Reporter_innen damit konfrontiert, erwiderte die Ärztin, dass sie im Einklang mit den Standards of Care der World Professional Association for Transgender Health (WPATH) gehandelt habe. Die WPATH ist mit den von ihnen herausgegebenen Standards of Care eine international beachtete Autorität, an der sich der medizinische und therapeutische Umgang mit geschlechtsdysphorischen und geschlechtsinkongruenten Menschen in allen Altersstufen orientieren soll. Sie wollen den aktuellen Wissensstand abbilden.
WPATH-Leaks
Am 5. März 2024 wurden Auszüge aus dem Austauschforum der WPATH veröffentlicht, die zeigen, wie Mitglieder Fälle aus ihrem Behandlungsalltag besprechen. Diesen Interna zufolge, sei auch den dortigen ärztlich und therapeutisch tätigen Mitgliedern bewusst, wie riskant der Behandlungsansatz mit Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen bei Minderjährigen ist. Diskutiert wurde zum Beispiel auch über Leberkrebserkrankungen die mutmaßlich auf die gegengeschlechtliche Hormontherapie zurückgeführt werden können. Die Leaks wurden von der US-amerikanischen Organisation „Environmental Progress“ des Kernkraftlobbyisten Michael Shellenberger veröffentlicht, dessen vermeintliches Engagement für Umweltschutz von Kritiker_innen in Zweifel gezogen wird, da er und seine Organisation eher konservativen, rechten und industriefreundlichen Standpunkten zuarbeiten würden. Finanzierungsquellen sind nicht transparent. Trotz dieser zweifelhaften Plattform für eine Veröffentlichung sind die Leaks ernst zu nehmen. Denn sie fügen sich nahtlos ein in schon bisher bekannt gewordene Kontroversen rund um die Behandlung von geschlechtsdysphorischen Minderjährigen.
Affirmative Risiken
Ein großes Problem ist die deutliche Zunahme von biologisch weiblichen Behandlungssuchenden, die eine Transition zum Mann anstreben. Zugleich weist ein sehr großer Anteil dieser Behandlungssuchenden teils erhebliche psychische Erkrankungen auf und sind oft instabil. In dem kanadischen Medienbericht werden junge Frauen wie Clara oder Jane vorgestellt, die während Pubertätskrisen dachten, sie seien Trans und eine Geschlechtsangleichung könne ihre Probleme lösen. Sie nahmen Pubertätsblocker und Testosteron, ließen eine Mastektomie vornehmen. Doch ihr psychisches Befinden änderte sich nicht wesentlich, sondern verschlimmerte sich sogar. Solche Entwicklungen stellte auch die finnische Psychiaterin Riittakerttu Kaltiala fest, die in ihrem Land ein Behandlungsprogramm für Minderjährige mit Geschlechtsdysphorie nach dem gender-affirmativen Modell aufbauen sollte. Die Mehrheit ihrer jungen Patient_innen war weiblich, kam im Teenageralter in ihre Ambulanz und sehr viele wiesen erhebliche psychische Erkrankungen auf. Gerade bei dieser Gruppe führte die gender-affirmative Behandlung nicht zu einer Verbesserung ihres Befindens. Schließlich änderte Kaltiala den Behandlungskurs und Finnland wurde das erste Land, was sich vom gender-affirmativen Ansatz wieder verabschiedete.
Bei Jane aus der kanadischen Reportage setzte nach der Mastektomie früh die Reue darüber ein. Jane sagte gegenüber Radio Canada, im Nachhinein sei wohl sexuelle Gewalt, die sie vor der Transition erfahren habe, ein wichtiger Treiber ihrer Entscheidungen gewesen. Zwei Monate nach ihrer Mastektomie wandte sich Jane an ihre Operateure, dass sie detransitionieren wolle und eine Brustrekonstruktion anstrebt. Daraufhin wurde ihr mitgeteilt, dass sie zwei oder drei Jahre warten und mehr als ein Jahr lang zu einer Beratung gehen müsse. Vor der Mastektomie seien ihr jedoch keine vergleichbaren Auflagen gestellt worden, obwohl sie von solchen Bedingungen aufgrund ihrer Vorgeschichte wahrscheinlich profitiert hätte. Ihr wäre ein operativer Eingriff erspart geblieben.
Umkämpftes Schlachtfeld
Auch in den WPATH-Leaks gibt es mehrere Äußerungen von Ärzt_innen über Patient_innen, die schwerwiegende psychische Erkrankungen haben, darunter Essstörungen, Schizophrenie. Ebenso, dass Trauma sehr weit verbreitet sei, wie auch dissoziative Identitätsstörungen. Akute psychische Erkrankungen waren jedoch kein Hinderungsgrund, zügig Pubertätsblocker, Hormone und Operationen zu verordnen. WPATH-Mitglieder haben sich dem gender-affirmativen Ansatz verschrieben. Das wurde auch deutlich, als 2022 die achte Fassung der Standards of Care erschienen ist, an deren Arbeit 2017 begonnen wurde. Erbittert wurde darum gerungen, ob es für bestimmte Behandlungsschritte Altersgrenzen geben solle, wie mit psychischen Komorbiditäten umzugehen sei. Ein Bericht in der New York Times widmete sich im Frühsommer 2022 der hochemotional geführten Auseinandersetzung um den richtigen Umgang mit Geschlechtsdysphorie bei Kindern und Jugendlichen. In den USA findet diese Auseinandersetzung in einer hochpolitisierten Atmosphäre statt, das Thema ist zu einem Kulturkampf zwischen Demokraten und Republikanern verkommen. Während die Demokraten das gender-affirmative Modell kritiklos fördern, überbieten sich Republikaner in von ihnen regierten Bundesstaaten mit restriktiven Gesetzen, die gender-affirmative Behandlungen verbieten. Im Niemandsland zwischen den Fronten sind verzweifelte Eltern und Teenager, die Hilfe suchen.
In einem ersten Entwurf der neuen Standards of Care wurden Altersgrenzen lediglich gesenkt, aber noch nicht gestrichen. Doch das war Transaktivist_innen, von denen einige auch als Ärzt_innen und Therapeut_innen tätig und WPATH-Mitglieder sind, zu reaktionär und sie bekämpften die Expert_innengruppe, die für das Kapitel zu Minderjährigen zuständig war. Eine sorgfältige Anamnese und der Nachweis einer mehrjährigen Geschlechtsdysphorie sei Psychogatekeeping und untergrabe die Patientenautonomie. Mitten in die Diskussion hinein, warnten erfahrene Psychologinnen wie Laura Edwards-Leeper und Erica Anderson 2021 vor schlampiger Behandlung, die dazu führe, dass mehr junge Menschen geschlechtsangleichende Behandlungen bereuen könnten. Die Gefahr für Patient_innen durch schlampig vorgenommene Behandlungen wurde in den USA inzwischen auch von Whistleblowerinnen wie Jamie Reed (Februar 2023) und Tamara Pietzke (Februar 2024) offenbart. Beide arbeiteten in Genderkliniken und waren für die Beurteilungen von minderjährigen Patient_innen zuständig. Auch in den USA melden sich immer mehr Menschen, insbesondere junge Frauen, die tatsächlich vorgenommene Eingriffe einer Transition bereuen und sich im Nachhinein eine bessere psychotherapeutische Betreuung gewünscht hätten.
Politische Menschenrechtsfrage vs. Medizinisches Problem
In der WPATH entschied man sich 2022 schließlich, in den aktuellen Standards of Care Aktivist_innen entgegenzukommen, so die New York Times. Doch der gender-affirmative Ansatz steht immer mehr in der Kritik und die WPATH wird von Kritiker_innen immer weniger als Autorität akzeptiert. Schwedische Mediziner_innen zum Beispiel sehen WPATH inzwischen nicht mehr als wissenschaftliche, sondern als vorrangig aktivistische Organisation. Schweden gehört zu den europäischen Ländern, die nach eingehender Prüfung vom gender-affirmativen Ansatz bei Minderjährigen wieder abgerückt sind. In einem Anfang März veröffentlichten Beitrag im Fachjournal Acta Paediatrica plädiert der schwedische Psychiater Mikael Landén dringend für mehr Forschung zum Einsatz von Pubertätsblockern bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie. „Leider wird der Diskurs über den Einsatz von Pubertätsblockern bei Geschlechtsdysphorie oft als politische Menschenrechtsfrage und nicht als medizinisches Problem dargestellt.“, so Landén. Er fordert: „Unabhängig vom Ergebnis solcher Untersuchungen muss unbedingt sichergestellt werden, dass die Behandlung von Kindern mit Geschlechtsdysphorie dem gleichen Evidenzstandard unterliegt wie jede andere medizinische Behandlung von Kindern. Sich mit weniger zufrieden zu geben, käme einer ideologischen Diskriminierung gleich.“
Verspielte Reputation
Während eine einstmals respektable Organisation wie die WPATH nun mit einer verantwortungslosen Interpretation von „gender-affirmativ“ ihre Reputation verspielt, nehmen Menschen in vulnerablen Lebenssituationen Schaden, weil sie irreversible Behandlungen bekommen, die sie eigentlich nicht gebraucht hätten. Und das, obwohl man es hätte besser wissen können, aber aus aktivistisch-ideologischen Gründen nicht besser wissen wollte. Erste Reaktionen aus der WPATH selbst und von Befürworter_innen des gender-affirmativen Ansatzes wiegeln ab, dass es Probleme gebe. Der Schweizer Psychiater David Garcia Nuñez ruft auf Twitter dazu auf, diesem „terfigen Werk“ keine Beachtung zu schenken und retweetet einen Beitrag des US-amerikanischen Journalisten Evan Urquhart. In diesem schreibt Urquhart: „Assigned Media hat Hunderte von Forenbeiträgen von WPATH-Mitgliedern unter die Lupe genommen. Wir haben festgestellt, dass WPATH-Mitglieder Hunderte langweiliger Forenbeiträge erstellt haben.“
Für die WPATH reagierte deren Präsidentin Marci Bowers, selbst Transfrau und eine gefragte Chirurgin auf dem Gebiet der Genitalchirurgie: „WPATH ist und war schon immer eine wissenschafts- und evidenzbasierte Organisation, deren Empfehlungen von großen medizinischen Organisationen auf der ganzen Welt weitgehend unterstützt werden. Wir sind die Fachleute, die die medizinischen Bedürfnisse von Transsexuellen und geschlechtsspezifischen Personen am besten kennen – und sich gegen Einzelpersonen stellen, die die vielfältigen Identitäten und komplexen Bedürfnisse dieser Bevölkerung durch Panikmache falsch darstellen und ihre Legitimität verlieren. Die Welt ist nicht flach. Geschlecht wird ebenso wie Genitalien durch Vielfalt repräsentiert. Der kleine Prozentsatz der Bevölkerung, der transsexuell oder genderdivers ist, verdient Gesundheitsversorgung und wird niemals eine Bedrohung für die globale Geschlechterbinarität darstellen.“
Man möchte Bowers entgegnen, dass Transpersonen gute Gesundheitsversorgung verdienen. Dabei irren sich Ideolog_innen auf beiden Seiten, wie auch Erica Anderson betont. „Die Menschen auf der rechten Seite … und auf der linken Seite sehen sich nicht als extrem“, sagte sie im April 2022 der Los Angeles Times. „Aber diejenigen von uns, die alle Nuancen sehen, können erkennen, dass dies eine falsche Gegenüberstellung ist: Lassen Sie alles ohne Methode geschehen oder lassen Sie niemanden transitionieren. Beides ist falsch.“ Durch den sich immer stärker abzeichnenden Reputationsverlust der WPATH jedenfalls, nehmen nun auch Transpersonen Schaden, für die geschlechtsangleichende Behandlungen die richtige Entscheidung sind. Fehlbehandlungen, die aus ideologischen Gründen geschehen, tragen dazu bei, ein gesamtes medizinisches Feld zu diskreditieren.
Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Texte von ihm, insbesondere zu politischen, transaktivistischen Zielen, sind auch im Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze) erschienen. Darin hat er ebenfalls auf die Mängel beim gender-affirmativen Ansatz und die Entwicklungen im Ausland hingewiesen.