Ein „Spiegel“-Interview mit dem Psychiater Georg Romer zeigt, dass man in Deutschland am gender-affirmativen Ansatz bei geschlechtsdysphorischen Kindern und Jugendlichen noch festhalten will, ungeachtet der Ergebnisse des britischen Cass-Reports.
25. April 2024 | Till Randolf Amelung
Der britische Cass-Report bringt weltweit Verfechter*innen frühzeitig eingeleiteter Geschlechtsangleichungen bei Minderjährigen mit Pubertätsblockern in heftige Erklärungsnot (IQN berichtete). Kinderärztin Hilary Cass, die eine Fülle von Studien zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie auswertete, hielt darin fest, dass die medizinische Evidenz für diesen Behandlungsansatz, der auch als „gender-affirmativ“ bekannt ist, erschreckend schwach ist. Das bedeutet, Risiken und Nutzen sind zu wenig geklärt, die Studienlage ist dafür nicht ausreichend: Gerade die jungen Menschen, die zum Beispiel Pubertätsblocker bekommen, sind Versuchskaninchen.
Kritische Fragen
Auch in Deutschland musste sich nun deshalb der Psychiater Georg Romer, unter dessen Vorsitz neue nationale Leitlinien für geschlechtsdysphorische Kinder und Jugendliche erarbeitet wurden, kritischen Fragen des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ stellen. Darin verkündet Romer, dass die Erkenntnisse des Cass-Reports bereits in die deutschen Leitlinien eingeflossen seien. Die Fragen der Interviewerin und Romers Antworten machen jedoch zweierlei deutlich: Die Ergebnisse des Cass-Reports haben Gewicht, denn Romer muss sich dazu verhalten. Aber: Zu einem grundsätzlichen Hinterfragen des gender-affirmativen Ansatzes scheint Romer gegenwärtig nicht bereit zu sein.
Hilary Cass‘ Untersuchung wurde notwendig, als Englands bis dato einzige Ambulanz für geschlechtsdysphorische Minderjährige von steigenden Anfragen überrollt wurde und der von der ehemaligen Patientin und Detransitioniererin Keira Bell angestrengte Prozess lange ignorierte Warnungen vor schlechten und riskanten Behandlungen ans Tageslicht holte. Weltweit steigen Zahlen von minderjährigen Behandlungssuchenden an, vor allem unter biologischen Mädchen. Über mögliche Ursachen wird in der Fachwelt hitzig debattiert. Im Interview weist Romer für seine Ambulanz allerdings zurück, dass der Anstieg so besorgniserregend stark wäre.
Psychisch stark belastete Patientinnen
International hingegen stellt man fest, dass viele dieser geschlechtsdysphorischen Mädchen insgesamt unter erheblichen psychischen Problemen leiden. Der Cass-Report weist etwa auf einen erhöhten Anteil von Autistinnen unter ihnen hin. Bei einigen in Verbindung mit einer krisenhaften Entwicklung einer homosexuellen Orientierung oder schwierigen familiären Verhältnissen. Im gender-affirmativen Modell werden das erlebte Leiden an den körperlichen Geschlechtsmerkmalen oder eine transfeindliche Umgebung für psychische Erkrankungen verantwortlich gemacht. Auch Romers Antwort im Interview schlägt in diese Kerbe: „Da psychische Begleiterkrankungen häufig durch eine Geschlechtsdysphorie mitverursacht sind, wäre es aber unethisch zu verlangen, dass zum Beispiel soziale Ängste oder Depressionen immer erst geheilt sein müssen, bevor man beispielsweise eine hormonelle Behandlung anbietet.“
Der Cass-Report legt jedoch nahe, dass ein Behandlungspfad mit Pubertätsblockern, gegengeschlechtlichen Hormonen und chirurgischen Eingriffen für viele Kinder und Jugendliche Geschlechtsdysphorie nicht die erste Wahl sein sollte. Genau das hat in Großbritannien zu Fehlern und einem häufig fahrlässig zu nennenden Umgang mit den minderjährigen Patient*innen geführt. Sie wurden viel zu schnell medikamentös in Richtung Geschlechtsangleichung geleitet. Für junge Menschen, die zum Beispiel wegen einer abgewehrten homosexuellen Orientierung geschlechtsdysphorisch und in einer Pubertätskrise sind, wäre aber einfühlsame Psychotherapie nötig, anstatt Pubertätsblocker und gegengeschlechtliche Hormone. Bei den meisten Kindern und Jugendlichen löst sich die Geschlechtsdysphorie im weiteren Lebensverlauf wieder auf, das bestätigte zuletzt auch eine niederländische Studie (IQN berichtete). Bei gerade einmal zwei Prozent der untersuchten Studienteilnehmer*innen hat die Geschlechtsdysphorie bis ins Erwachsenenalter überdauert. Das untermauert eindrücklich die schiefe Güterabwägung der Befürworter*innen des gender-affirmativen Modells.
Gibt es nur eine Ursache für Geschlechtsdysphorie?
Ein riesiges Problem bleibt, dass Zusammenhänge zwischen Pubertätskrisen, psychischen Erkrankungen und Geschlechtsdysphorie nur monokausal, zu Gunsten von Trans erklärt werden sollen. Grund ist, dass geschlechtsangleichende Behandlungen dank erfolgreicher Bemühungen von Transaktivist*innen weltweit nur über einen menschenrechtsbasierten Zugang verhandelt werden. Das heißt, Transpersonen jeden Alters müssen ohne jede Einschränkung Zugang zu verlangten medizinischen Maßnahmen bekommen. Eine Abwägung unter medizinischen Gesichtspunkten soll nicht stattfinden. Auch ein Zusammenschluss von deutschen Kinder- und Jugendpsychiatern kritisiert diesen ideologischen Hintergrund. Dadurch wird von den gender-affirmativen Behandler*innen gar nicht in Erwägung gezogen, dass Geschlechtsdysphorie als Symptom auch andere Ursachen als Trans haben kann. So gerät die Frage aus dem Blick, für wen die doch erheblichen medikamentösen und chirurgischen Eingriffe wirklich das Richtige sind und wem besser mit anderen Mitteln geholfen ist. Verstärkt wird diese fatale Entwicklung noch durch Gesetze, die Konversionstherapien verbieten und auch Geschlechtsidentität mit einbeziehen. Eine Psychotherapie, die auch andere mögliche Wege außer einer Transition aufzeigen kann, wird von Transaktivist*innen als Konversionstherapie diffamiert. Auch in den deutschen Leitlinien werde eine verpflichtende Psychotherapie als „unethisch und obsolet“ bezeichnet, so die Gruppe kritischer Kinder- und Jugendpsychiater gegenüber der Tageszeitung „Die Welt“.
Doch der Cass-Report sollte eine Warnung sein: Medizin und Ideologie vertragen sich nicht gut. Der gender-affirmative Ansatz wird auch in Deutschland hinterfragt werden müssen.
Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations.
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