Der Stress der Minderheiten

von David Prinz, Mitglied der Initiative Queer Nations e.V.

In der gemeinsamen Queer Lecture der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft (MHG) und der Initiative Queer Nations (IQN), die anlässlich des 150. Geburtstags von Magnus Hirschfeld stattfand, begrüßten Ralf Dose (MHG), Babette Reicherdt (IQN) und Benno Gammerl (IQN & Moderation) den Gast des Abends und zugleich fernen Verwandten des Pionieres der Sexualwissenschaft: Ilan  H. Meyer (Williams Senior Scholar for Public Policy am Williams Institute der UCLA School of Law in Los Angeles).

(v.l.n.r.: Babette Reicherdt, Ralf Dose, Ilan H. Meyer, Benno Gammerl)

 

100 Jahre nach Hirschfeld – Die Anliegen bleiben dieselben

Es war unter anderem die tragische Geschichte von Bobby Griffith, die ihm, so Ilan  H. Meyer gegenüber den Zuhörenden im taz-Café, Anfang der 1980er Jahre den Weg in sein heutiges wissenschaftliches Forschungsfeld, das der Stress- und Wohlbefindensforschung mit Fokus auf gesellschaftliche Minderheiten, bahnen sollte. Denn damals, im August 1983, stürzte sich der gerade erst 20-jährige Bobby von einer Autobahnbrücke und wurde nach seinem tödlichen Aufprall auf dem Asphalt von einem Lastkraftwagen erfasst. Es muss die pure Verzweiflung gewesen sein, die den jungen schwulen Mann in seinen Tod trieb: äußere Umstände, die fanatische Religiosität der Mutter, die den Sohn heilen wollte.

Dieses Unglück wurde zu einem prägenden Schlüsselmoment für Ilan H. Meyer. Fortan waren sein persönliches Interesse sowie sein beruflicher Werdegang, der u.a. über die New School for Social Research und die Columbia University führte, der Erforschung von Gesundheits- und Stressfaktoren sowie den damit einhergehenden Auswirkungen auf die Psyche von Minderheiten, insbesondere der LGBTI*-Community, gewidmet. Heute arbeitet Meyer also zu ganz ähnlichen Themen, wie es bereits Magnus Hirschfeld in seinem Berliner Institut für Sexualwissenschaften vor über 100 Jahren tat.

Stress: kein zufälliges Phänomen in einer Gesellschaft

Meyer zählt durch seine Forschung sowie durch seine Publikationen zu den Protagonist*innen dieses Forschungsfeldes. Seinem „Minderheiten-Stress“-Modell zufolge seien es gerade sexuelle Minderheiten, wie Homosexuelle oder Transsexuelle, die ganz spezifisch wirkenden Stressfaktoren ausgesetzt sind.

Frühe Diskriminierungserfahrungen, z.B. das Mobbing während der Schulzeit, würden von den Betroffenen insofern internalisiert, als sie sich dieser spezifischen gesellschaftlichen Diskriminierung durch Homophobie oder Transphobie zum einen potenziell immer ausgesetzt sehen (Kampf-oder-Flucht-Reaktion) und dadurch im gravierendsten Fall ein negatives Selbstbild entwickelten (internalisierte Homophobie). Diese ständige Konfrontation und die psychische Belastung führten zu sozialem Druck bei den Betroffenen und letztlich zu starken negativen Auswirkung auf das individuelle Wohlbefinden: Der Stress der Minderheiten.

Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse besitzen zwar höchste Aktualität, doch bereits Magnus Hirschfelds Engagement, besonders während der 1920er Jahren, galt ähnlichen Forschungsfragen, die sich mit der Psyche als auch mit Diskriminierungserfahrungen von LGBTI*-Personen auseinandersetzen.

In einem Interview mit Markus Kowalski (queer.de) antwortet Meyer auf die Frage, warum Hirschfelds Wirken heute noch wichtig ist:

„[…] Das ist eigentlich traurig, weil es zeigt, dass wir in hundert Jahren nicht sehr weit gekommen sind. In der westlichen Psychiatrie wurde Sexualität erst in den Siebzigern entpathologisiert. Bis heute müssen wir in manchen Teilen der Welt gegen die Vorstellung kämpfen, Homosexualität sei eine Krankheit. Hirschfeld fokussierte auf die sozialen Ursachen von Suizid und bemühte sich darum, die Gesetze zu ändern, damals den Paragrafen 175 abzuschaffen. Das machen wir heute noch: An der Universität von Kalifornien in Los Angeles (UCLA) konzentrieren wir uns darauf, die Gesetze zu ändern, die die geistige Gesundheit von LGBTI beeinträchtigen.“

Was Hirschfeld schon wusste

Interessant dabei ist, wie diesen Stressfaktoren positiv entgegengewirkt werden könne: nämlich durch die soziale Unterstützung (social support) der Betroffenen. Eine Art Ausgleich zu den sozialen und gesundheitlichen Disparitäten müsse hier geschaffen werden. Doch an eben dieser Stelle stoße man wiederum auf eine Hürde, die auch in der anschließenden Diskussion aus dem Publikum bekundet wird. Die Arbeit mit Meyers Modell, so eine Stimme aus dem Publikum, zeige sich in der Anwendung in eben diesem Punkt als komplex, da die „soziale Unterstützung“ eben jenen heterosexuellen Menschen abverlangt würde, die wiederum den „Stress der Minderheiten“ aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungs-Dispositionen nicht kennen. Hinzu kämen, so ein Zuhörer im Austausch mit Meyer, Überschneidungen mit anderen Diskriminierungserfahrungen, die die negativen Stresseinwirkungen nochmals potenzieren würden. So zeigten sich in den USA große Unterschiede im Wohlbefinden eines weißen homosexuellen Mannes im Vergleich zu einem schwarzen homosexuellen Mann.

Schon Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaften war Anfang des 20. Jahrhunderts ein Fluchtort und eine Anlaufstelle für die (damals noch nicht so genannte) LGBTI*-Community. Ein Ort, an dem die eigene Sexualität eben nicht zu Ausgrenzungen führte – ein Ort also, an dem man äußeren Stressfaktoren und möglichen Diskriminierungen zumindest kurz entfliehen konnte.