Navtej Johars bewegende Lecture über das Ringen um die Entkriminalisierung  queeren Lebens in Indien, oder auch: von queere Kämpfen jenseits westeuropäischer Komfortzonen

Im September 2018 kippte der Supreme Court in Indien ein Gesetz, das Homosexualität verbietet. Navtej Singh Johar ist einer von fünf Aktivist*innen, die an vorderster Front für die Entkriminalisierung gekämpft haben. In seiner emotionalen Queer Lecture unter dem Titel „Legalize My Sex“ berichtete der indische Tänzer und Choreograph am 18. Juni 2019 in Berlin über seinen persönlichen Einsatz im Kampf gegen die grundsätzliche Kriminalisierung von Homosexualität.

Gleich zu Beginn stellte er fest, dass er noch nie öffentlich darüber gesprochen habe. Mehr noch: „Nein, ich habe diesen Sieg vor dem Supreme Court nie richtig gefeiert.“ Navtej Johar, im Sommersemester 2019 Valeska-Gert-Gastprofessor an der Freien Universität Berlin, begreift sich, so verstanden es die 60 Zuhörer*innen, nicht als Held. Auf Einladung der Initiative Queer Nations und in Kooperation mit dem Internationalen Forschungskolleg „Verflechtungen von Theaterkulturen“ spracht Johar in einer gut besuchten Queer Lecture über das Urteil des Obersten Gerichtshofs seines Landes. Dass das entscheidende Urteil der obersten Richter*innen Indiens nun seinen Namen trägt, sei nur ein Zufall und den vielen Vor*kämpferinnen vor ihm zu verdanken.

Ein stiller, diskreter, aber beharrlicher Rechtskampf

Dass er zu den Menschen gehöre, die der Petition ein Gesicht gegeben haben, war für Johar eine eher spontane Idee. So erzählte er: Gemeinsam mit einer seiner Yoga-Schülerinnen, einer lesbischen Anwältin, saß er an einem Morgen konsterniert am Frühstückstisch. Gerade war ein Urteil von 2009 gekippt worden, das mit der Section 377 die Straffreiheit von Homosexualität wieder aufgehoben hatte. Gemeinsam fassten sie die Idee, eine Petition öffentlich zu lancieren, einen stillen, diskreten, aber beharrlichen Rechtskampf, der im September 2018 schließlich zu dem historischen Urteil führt.

Als Navtej Singh Johar den Urteilstext verlesen wollte, der von Liebenden spricht und einer historischen Schuld des Staates, stockte seine Stimme, seine Augen wurden feucht, seine Ergriffenheit spürbar. Der Saal – mucksmäuschenstill. In diesem Moment brauchte es keine Worte, um zu begreifen, was mit dem Urteil erreicht wurde.

1,3 Milliarden Inder*innen sind im bevölkerungsreichsten Land der Erde von der Entscheidung betroffen. Für 18 Prozent der Weltbevölkerung kommt es zu einer der massivsten Ausweitungen von Freiheitsrechten. Da das Verbot ein Relikt aus der britischen Kolonialzeit war, auch das wurde an diesem Abend klar, ist die juristische Legalisierung von Homosexualität auch ein Signal über Indien hinaus.

Althergebrachte Moralvorstellungen prägen weiterhin

In Anbetracht der aktuellen politischen Herausforderungen in Indien wirke das neue Gesetz allerdings eher kosmetisch. „Manche Dinge werden erlaubt, damit andere verboten bleiben können“, kommentierte Johar. Die Stigmatisierung von Homosexualität sei nicht automatisch vom Tisch. Althergebrachte Moralvorstellungen prägen nicht nur in Indien weiterhin die Gesellschaft.

Eine höchstrichterliche Entscheidung garantiert zwar neue Rechte, aber wie erreicht sie herrschende Mentalitäten? Erstaunlicherweise wiegelte Johar diese Frage, die auch eine soziale ist und die völlig verschiedenen Lebensrealitäten einer bürgerlichen Elite in den Städten und weniger gebildeter Schichten auf dem Land anschneidet, hier eher ab. Er habe neue Gefahren im Blick und fand dann deutliche Worte: Die Legalisierung von Gay Sex war wichtig, nun ginge es aber darum, an neuen Fronten zu kämpfen. „Frauenfeindlichkeit, das Kasten-System, Islamophobie, das sind die neuen Kampffelder. Wir sind und bleiben gefordert!“

Johar kam zur Queer Lecture als Mann, der Spannendes zu berichten haben würde – und ging als Freund sehr vieler, die einen fundamentalen Einblick in die queeren Kämpfe jenseits der westeuropäischen Komfortzonen bekamen.

Stefan Donath, Jan Feddersen