Betrachtungen zur Rainbow Lecture „Die Welt, die wir gewonnen haben: eine Bilanz queerer Kämpfe 50 Jahre nach „Stonewall“ mit Dennis Altman.


Regenbogen sind ein Symbol – mehr aber auch nicht | Foto: Unsplash/Clem Onojeghuo


Sämtliche historische Ereignisse eint ein gemeinsames Moment: Sie können sich nicht gegen Fehlinterpretationen, individuelle Vereinnahmungsversuche und beabsichtigte Missdeutungen zur Wehr setzen. Auch diejenigen, die sich mit bestem Gewissen auf den Weg machen, historische Ereignisse zu deuten, ja, sie gar überhaupt erst zu solchen zu machen, tun das nicht im luftleeren politischen Raum. Eine sterile Betrachtung vergangener Geschehnisse, die vollends frei von jedweden persönlichen und politischen Prägungen des Betrachters bzw. der Betrachterin ist, gibt es nirgendwo.

Insofern versprach auch die sechste und letzte Rainbow Lecture der Initiative Queer Nations, der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, die in Kooperation mit dem Queeren Kulturhaus E2H und der taz veranstaltet wurde, spannende und zu erwartend anspruchsvolle Diskussionen.

Unter dem Motto „Die Bilanz queerer Kämpfe – 50 Jahre nach Stonewall“ hatten besagte Organisationen Dennis Altman in die taz-Kantine nach Berlin eingeladen. Fast 50 Gäste waren der Einladung trotz bester sommerlicher Witterungsverhältnissen gefolgt, um dem Vortrag des emeritierten Professors für Politikwissenschaft an der La Trobe University in Melbourne, der sich unter anderem ehrenamtlich in Organisationen wie dem Australian National Council on AIDS engagiert, zu folgen. Moderiert von der Historikerin Kate Davison und dem Journalisten und IQN-Vorstand Jan Feddersen ging um nicht weniger als die Frage, ob der Aufstand von Stonewall tatsächlich der Auftakt des Widerstandes der Gay-Community gegen staatliche Unterdrückung und Willkür gewesen sei.

Widerstand schon weit vor „Stonewall“

Zur Erinnerung: Am 28. Juni 1969 begann in den frühen Morgenstunden der sogenannte Stonewall-Aufstand, der bei der übergroßen Mehrheit der queeren Bewegung als Geburtsstunde des CSD gilt. Damals setzten sich Lesben, Schwule und Drag Queens erstmals gemeinsam und zugleich militant gegen eine anhaltende Serie brutaler Übergriffe durch die New Yorker Polizei zur Wehr. Als wieder einmal Beamte die in der Christopher Street gelegene Bar „Stonewall Inn“ angriffen, wehrten sich die Angegriffenen und lieferten sich über mehrere Tage anhaltende Straßenschlachten mit den Beamten, die mit der Entschlossenheit und Wucht der Gegenwehr der sogenannten sexuellen Minderheiten ganz offensichtlich nicht gerechnet hatten. Trotz der zu Hilfe gerufenen Verstärkung gelang es den Beamten nicht, den Aufstand zu stoppen.

Es gab eine Gemengelage an Umwälzungen, die man nicht auf „Stonewall“ reduzieren solle

Schon an der Frage der politischen Bedeutung des damaligen Geschehens scheiden sich jedoch 50 Jahre danach mancherorts die Geister. Erst kürzlich verwiesen etwa verschiedene Medien darauf, dass es schon vor „Stonewall“, nämlich 1966 in San Francisco, zum „Compton’s Cafeteria Riot“ gekommen war. Zudem wehrten sich die Betroffenen auch 1968 in Philadelphia gegen eine Razzia in der Lesbenkneipe „Rusty’s“.
Es existiere „eine komplexere und reichhaltigere Geschichte als die Stonewall-Feierlichkeiten uns nahelegen“, konstatierte auch Altman. „Es gab eine Gemengelage an Umwälzungen“, die man daher nicht „auf ‚Stonewall‘ reduzieren“ solle, empfahl er. Zugleich stelle er sich die in der Tat alle interessierende Frage, „warum die Menschen in Deutschland etwas feiern, was seinen Ursprung in einer New Yorker Straße“ habe?

Der Sohn jüdischer Flüchtlinge ging jedoch noch weiter. „Ich freue mich, wenn Menschen mit Regenbogenfahnen am Pride teilnehmen. Aber in Berlin riskiert man im Gegensatz zu anderen Ländern dafür nicht sein Leben“, monierte er und verwies außerdem darauf, dass „die Welt, die wir gewonnen haben, nicht die Welt“ sei, „zu der Menschen aus anderen Ländern Zugang“ hätten.

Paternalismus oder Solidarität?

Damit öffnete er das Tor zu einer notwendigen, gemeinhin jedoch teils vernachlässigten Debatte, ob es sich bei der Unterstützung von Schwulen, Lesben, Trans- und Intersexuellen in nicht-europäischen Ländern möglicherweise um „Menschenrechtsimperialismus“ handele oder dieser Aktivismus schlicht dem Gebot internationaler Solidarität zuzurechnen ist. Außerdem stelle sich die Frage, ob die politische und personelle Unterstützung queerer Szenen in nicht-europäischen Ländern immer so geleistet werde, wie Betroffene vor Ort sich dies wünschten: Eventuell sei dies die Scheidelinie zwischen einer paternalisierenden Haltung und Solidarität.

Deutschland und Berlin repräsentierten in Sachen Akzeptanz von Homosexuellen nicht die Welt

Altman riss nicht wenige Stationen der homosexuellen Emanzipationsbewegung an. Er erinnerte an die Entstehung des Instituts für Sexualwissenschaft von Magnus Hirschfeld 1919 und dessen Zerschlagung 1933 durch die Nazis. Die schwul-lesbische Bewegung in Deutschland und die Bedeutung von Rosa von Praunheims Meisterwerk „Nicht der Schwule ist pervers, sondern die Situation in der er lebt“ aus dem Jahre 1971 wurde in seinem Vortrag ebenso gestreift wie die Aids-Krise seit den frühen achtziger Jahren und ihre Auswirkungen auf die Gay-Community. So habe die Epidemie, Altman zufolge, Diskussionen über Sexualität ermöglicht, „die vorher so nicht möglich gewesen wären“ – weit über die schwulen Szenen hinaus.

Der Wissenschaftler und Aktivist betonte zudem, dass er sich im Berlin der Jetztzeit, und hier besonders als schwuler Mann und vor allem im „Regenbogenkiez“ in Schöneberg, „ausgesprochen wohl“ fühle. Deutschland und Berlin repräsentierten in Sachen Akzeptanz von Homosexuellen jedoch „nicht die Welt“. Dieser Feststellung folgte eine sicherlich unvollständige Aufzählung verschiedener Länder im Nahen und Mittlerem Osten und in Afrika und Osteuropa, in denen Schwule und Lesben mit massiver staatlicher Verfolgung, teilweise bis hin zur Todesstrafe, zu leiden haben.

Vermeintliche Gewissheiten der deutschen Gay-Community

Vielerorts, so der emeritierte Professor weiter, seien indes „Gesetze, die sich gegen Homosexuelle richten, oft nicht das wahre Problem“. „Wichtiger ist, ob die Behörden ihre Macht zur Unterdrückung nutzen“, konstatierte er und erinnerte zugleich an gesellschaftliche Diskriminierung und Verfolgung, die mancherorts nicht einmal vom Staat ausgingen.

Altman, der sich seit der Veröffentlichung seines ersten Buches „Homosexual: Oppression & Liberation“ (1972) intensiv mit Fragen zur Sexualpolitik beschäftigt, und zuletzt zusammen mit Jonathan Symons in „Queer Wars. Erfolge und Bedrohungen einer globalen Bewegung“ (dt. Übersetzung 2017) geschrieben hatte, sparte nicht an Spitzen gegen vermeintliche Gewissheiten der bundesdeutschen Gay-Community, war dabei jedoch zugleich offen, für kritische Anmerkungen, die es im Nachgang an seinen Vortrag durchaus aus dem Publikum gab. Dabei ging es unter anderem um die Rolle des amtierenden US-Präsidenten Donald Trump und die Frage, ob dessen bei Twitter kundgetane Solidarität mit Schwulen und Lesben ehrlich sei.

Dem folgten Hinweise auf die Bedeutung möglicher Bündnispartnerinnen und Bündnispartner im Kampf um queere Gleichstellung, wie man sie etwa in der Frauenbewegung oder auch unter Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern gefunden habe und auch weiterhin finden müsse. Auch die Veränderung der Gay-Community aufgrund der anhaltenden Digitalisierung und die Diskriminierung von Homosexuellen durch die beiden großen christlichen Kirchen kamen zur Sprache.

Moderator Feddersen hob am Ende der erfolgreichen Abendveranstaltung, die sicherlich einen kontroverseren Verlauf hätte nehmen können, hervor, dass die queere Emanzipationsbewegung weiter gewinnen werde, auch wenn es fortan komplizierter werden würde. „Aber manche Errungenschaften werden nicht zurückgedreht werden können“, prophezeite er.

Markus Bernhardt