Die Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter wurde am 20. März 2024 der Presse vorgestellt. Trotz international geführter Kontroversen hält man am gender-affirmativen Behandlungsansatz fest. Wie lange noch?

Wie schnell sollen bei geschlechtsdysphorischen Minderjährigen Medikamente eingesetzt werden? (Foto von Mufid Majnun auf Unsplash)

1. April 2024 | Till Randolf Amelung

Die Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter steht nach sieben Jahren Erarbeitungszeit kurz vor der Finalisierung! Vertreter_innen von insgesamt 27 medizinische Fachgesellschaften erarbeiteten diese Leitlinien unter der Leitung des Münsteraner Psychiaters Georg Romer. Auch zwei Trans-Verbände gehörten der Leitlinienkommission an.

Nachdem die Fertigstellung mehrmals verschoben wurde, haben die an der Erstellung beteiligten Autor_innen Dagmar Pauli (Universitätsklinik Zürich), Achim Wüsthof (Endokrinologikum Hamburg), Claudia Wiesemann (Universitätsmedizin Göttingen) und Sabine Maur (niedergelassene Psychotherapeutin) diese Leitlinie Ende März in einer virtuellen Pressekonferenz vorgestellt. Derzeit wird der Leitlinien-Entwurf von den beteiligten Fachgesellschaften kommentiert, bevor die finale Fassung schließlich voraussichtlich im Laufe des Junis veröffentlicht werden kann. Die neue Leitlinie sollte ursprünglich den höchsten Evidenzgrad S3 erreichen, doch die derzeitige Studien- und Evidenzlage in der Medizin gibt diesen Grad nicht her. Daher wurde diese Leitlinie mit dem schwächeren Grad „S2k“ versehen (IQN berichtete). Das bedeutet, die Empfehlungen sind vor allem konsensbasiert. Die neue Leitlinie soll nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich und der Schweiz gültig sein.

Deutschland hält an Pubertätsblockern fest

Während andere europäische Staaten in ihren Leitlinien medikamentöse Behandlungen mit Pubertätsblockern und Geschlechtshormonen bei Minderjährigen sehr zurückgenommen haben, hält die deutsche Leitlinie an dem fest, was auch als gender-affirmativer Ansatz bekannt ist. Insbesondere die skandinavischen Länder haben in den letzten Jahren die Verwendung von Pubertätsblockern stark eingeschränkt, in Großbritannien wurde der Einsatz erst kürzlich verboten.  Gerade in den erwähnten Ländern haben Kenntnisse über Fehlbehandlungen und Risiken dieser medikamentösen Behandlungen zu stärkerer Zurückhaltung geführt und kontroverse Debatten ausgelöst. Schließlich führten systematische Überprüfungen der Evidenzlage dazu, dass in diesen Ländern wieder Psychotherapie den Vorzug vor der Gabe von Medikamenten erhält.

Diese Entwicklungen wurden auch in Deutschland wahrgenommen. Eine Gruppe Psychiater_innen um Florian D. Zepf (Universitätsklinikum Jena) veröffentlichte im Februar ein Paper und bewertete neuere Studien zum gender-affirmativen Ansatz mit Pubertätsblockern und Hormontherapie, die nach den britischen Reviews der Evidenzbasis erschienen sind (IQN berichtete). Das Fazit der Autor_innen fällt negativ aus. Zepf gehörte selbst bis Ende 2022 der Leitlinienkommission an, verließ diese jedoch, weil er gravierende Bedenken gegen den gender-affirmativen Ansatz mit Pubertätsblockern hat.

In der Pressekonferenz begründeten die Expert_innen das Festhalten am gender-affirmativen Ansatz mit Pubertätsblockern mit dem erheblichen Leidensdruck, mit dem junge geschlechtsdysphorische Menschen in die Sprechstunden kommen. Dem „Deutschen Ärzteblatt“ zufolge sagte die Medizinethikerin Wiesemann sinngemäß, dass die Pubertätsblockade diesen jungen Menschen einen Entwicklungsraum für eine reflektierte Entscheidung über die eigene Zukunft ermögliche. „Das zu verweigern, aus Sorge vor Nebenwirkungen, ist medizinisch und ethisch unangemessen. Im Vergleich zu der Krisensituation sind die Nebenwirkungen einer Pubertätsblockade für die Betroffenen in aller Regel unerheblich“, so Wiesemann weiter. Nach Absetzen der Medikamente könne die  körperlich angelegte Pubertätsentwicklung stattfinden, wenn die medizinische Transition nicht mit Geschlechtshormonen fortgeführt werde. Laut „Ärzteblatt“, weise die Leitlinie aber auch darauf hin, dass zum Beispiel die psychosexuelle Entwicklung durch die Blockade verzögert sein könne. Sehr ausführlich würden Auswirkungen auf die Fortpflanzungsfähigkeit behandelt. Die beteiligten Mediziner_innen halten Risiken bei fachgerechter Anwendung jedoch für gering.

Der Endokrinologie Wüsthof sagte zudem laut „Deutschlandfunk“, dass es das Ziel sei zu vermeiden, dass die Betroffenen mit einer lebenslangen Stigmatisierung konfrontiert würden. Damit ist gemeint, dass die körperlichen Veränderungen durch eine unerwünschte Pubertät gar nicht oder nur mühsam korrigiert werden könnten. Durch ein frühzeitigeres Unterbinden der unerwünschten und Einleiten der erwünschten körperlichen Veränderungen könne im Alltag ein konfliktfreieres Leben im Identitätsgeschlecht ermöglicht werden.

Wann sollen Pubertätsblocker eingesetzt werden? Die neuen Leitlinien sehen vor, dass eine persistierende Geschlechtsinkongruenz im Jugendalter entsprechend ICD 11 und zugleich ein geschlechtsdysphorischer Leidensdruck bestehen muss, so das „Ärzteblatt“. Außerdem solle eine Pubertätsblockade nicht präventiv eingesetzt werden, vielmehr müsse die Pubertät begonnen haben.

Kontroverse um Dauerhaftigkeit

Diese Regelungen verweisen auf die besonders strittigen Fragen rund um den Einsatz pubertätsblockierender Medikamente. Im Vordergrund steht die Frage, wie dauerhaft die Diagnose „Geschlechtsinkongruenz“ bzw. „Geschlechtsdysphorie“ im Jugendalter gestellt werden kann. Die körperliche und geistige Entwicklung ist in der Pubertät im Fluss. So besteht die Möglichkeit, dass sich die jungen Menschen mit ihrem Körper und ihren biologischen Geschlechtsmerkmalen versöhnen oder zumindest abfinden können. Auch auf die Möglichkeit einer Detransition, also Schritte einer Geschlechtsangleichung wieder rückgängig machen zu wollen, wurde eingegangen. Dabei betonen die Leitlinien-Autor_innen, dass dieses Risiko gering sei. Ebenso gebe es eine kleine Minderheit, die die Pubertätsblockade abbreche und den Transitionsweg nicht mit Geschlechtshormonen fortführe.

Insgesamt wurde die Leitlinie für geschlechtsinkongruente/geschlechtsdysphorische Kinder und Jugendliche von den Verantwortlichen so präsentiert, dass man einen verantwortungsbewussten Rahmen geschaffen habe, um der Zielgruppe wirksam helfen zu können.

Kritik an den Leitlinien

Nicht alle Mediziner_innen sind davon überzeugt. Kritik daran gibt es vom bereits erwähnten Psychiater Zepf, der gegenüber der Tageszeitung „Die Welt“ sagte, dass es derzeit keine klare medizinische Evidenz für die Behandlung biologisch gesunder Minderjähriger mit Geschlechtsdysphorie mit Pubertätsblockern oder Hormonen gebe und die Leitlinie dies ausblende. „Es gebe aktuell keine eindeutigen Nachweise, dass diese Interventionen tatsächlich eine Geschlechtsdysphorie oder die psychische Gesundheit nachhaltig und substanziell bei Kindern und Jugendlichen verbessere“, wird der Zepf noch in der Zeitung zitiert. Der Mediziner Zepf bezweifelt zudem, dass Jugendliche auf dieser Grundlage eine tatsächlich informierte Zustimmung zur Behandlung geben könnten. Ähnlich sieht es auch sein Mannheimer Fachkollege Tobias Banaschewski. Dieser sagte gegenüber „Die Welt“: „Wir sprechen hier nicht über Erwachsene, die selbst entscheiden können, ob sie sich operieren lassen wollen, sondern über Kinder und Jugendliche, deren Körper sich noch in der Entwicklung befindet.“ Alexander Korte, Psychiater am Universitätsklinikum München und profiliertester Kritiker von frühen affirmativen Behandlungen, beklagte im Interview mit EMMA, dass kritische Stimmen mundtot gemacht werden sollen.

WPATH-Leaks offenbaren medizinethische Mängel

Anfang März machten vor allem im englischsprachigen Ausland Enthüllungen Schlagzeilen, die Zweifel am gender-affirmativen Ansatz befeuern. Die kanadische Journalistin Mia Hughes veröffentlichte zusammen mit der Kernkraftlobbyorganisation Environmental Progress Leaks aus einer Mitglieder-Austauschplattform der World Professional Association for Transgender Health (WPATH), auf der sich auch zu konkreten Fällen aus ärztlicher und therapeutischer Praxis ausgetauscht wurde (IQN berichtete).

Das von Hughes zusammengetragene Material dokumentiert, dass den gender-affirmativen Behandlern Schwachstellen und ungeklärte Risiken der Gabe von Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen sehr wohl bewusst waren und sind, sie aber offenbar keinen Anlass sehen, diesen Ansatz zu hinterfragen. Im Interview mit der deutschen Tageszeitung „Die Welt“ sagte Hughes: „Die Dateien zeigen, dass Patienten, die nur begrenzt oder gar nicht die Tragweite der Behandlungen abschätzen können, von diesen Ärzten auf einen lebensverändernden medizinischen Weg gebracht werden.“ Darunter seien auch Patient_innen mit schweren psychischen Erkrankungen, die Indikationen für Operationen und Hormontherapien bekämen, obwohl sie nicht psychisch stabilisiert seien.

Gerade in Bezug auf Minderjährige zeigen die Leaks eindrücklich, dass viele junge Patienten die Folgen der Behandlungen oftmals nicht einschätzen könnten. Dazu Hughes im Interview: „In dem Video der Podiumsdiskussion äußert ein kanadischer pädiatrischer Endokrinologe, dass er weiß, dass die jungen Patienten, die er bei der medizinischen Transition unterstützt, die Auswirkungen der eingenommenen Hormone auf den Körper nicht verstehen. Sie haben noch nicht die kognitiven Möglichkeiten, zu verstehen, wie sich der Verzicht auf ihre Fruchtbarkeit auf ihr Leben auswirken wird. Er beschreibt, wie schwierig es ist, die Auswirkungen von Pubertätsblockern und geschlechtsangleichenden Hormonen Menschen zu erklären, „die nicht Biologie studiert haben“. Der Endokrinologe vergleicht den Dialog mit einem 13-jährigen Patienten über die Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit mit einem „Gespräch mit einer leeren Wand“. Derselbe Endokrinologe beschreibt dann eine andere Gruppe von Patienten, die er in seiner Klinik behandelt. Das sind die jungen Patienten um die 20 Jahre, die unfruchtbar gemacht und diese Entscheidung bereuen, weil sie jemanden kennengelernt hätten und nun doch über Familie nachdachten. Er berichtet, wie er ihnen dann gerne sagt: „Ach, ein Hund reicht Ihnen jetzt doch nicht mehr aus?“ Genau das hätten sie als Jugendliche nämlich behauptet – sie wollten keine Kinder, ein Hund reiche aus. Ein häufiges Argument von Teenagern.“

Ebenfalls im März bewertete der australische Mediziner Andrew Amos im Fachjournal Australasian Psychiatry den gender-affirmativen Ansatz ebenfalls als unvereinbar mit kompetenter, ethischer medizinischer Praxis. Dadurch, dass der gender-affirmative Ansatz eine differenzierte psychiatrische Diagnostik und Anamnese und ebenso differenzierte Modelle zur Phänomenologie und Psychopathologie gezielt ablehne, könne Amos zufolge nicht sinnvoll beurteilt werden, für wen geschlechtsangleichende Behandlungen hilfreich seien und für wen nicht.

Psychotherapie als Konversionstherapie?

Eine Psychotherapie, die in anderen Ländern wieder erstes Mittel der Wahl bei geschlechtsdysphorischen Minderjährigen sein soll, wird jedoch von Leitlinien-Autor_innen wie Sabine Maur als nicht zielführend erachtet. Maur sagte gemäß „Die Welt“, dass Geschlechtsinkongruenz keine psychische Erkrankung sei und es daher auch keine Indikation für eine Psychotherapie gebe. Als Psychotherapeut_in könne man Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie begleiten, aber ihre Geschlechtsidentität solle bestärkt werden. Mit einem anderen Vorgehen käme man in den Bereich von sogenannten Konversionstherapien. Damit bezieht sich Maur auf das gesetzliche Verbot von oft religiös begründeten Ansätzen Homosexualität „heilen“ zu wollen. In Deutschland umfasst das Verbot solcher „Heilversprechen“ auch die Geschlechtsidentität. Transaktivistische Akteur_innen wollen jedoch nicht nur zu Recht als gefährlich und zweifelhaft geltende Angebote als Konversionstherapie verstanden wissen, sondern auch Therapie und Diagnostik, die den psychotherapeutischen Grundsätzen entsprechen. Der Psychiater Korte kritisierte die Äußerungen Maurs gegenüber EMMA als „Ausdruck eines essentialistischen Denkens“ und bescheinigte einen Mangel an entwicklungspsychologischem Verständnis.

Einige Lesben und Schwule üben scharfe Kritik an einem gender-affirmativen Ansatz, der ihrer Ansicht nach mitunter zu schnell in die Gabe von Medikamenten münde und den Weg für eine Geschlechtsangleichung festige. Die Kritik rührt daher, dass geschlechtsdysphorisches Empfinden auch Teil einer krisenhaften homosexuellen Entwicklung sein kann. Einige Studien untermauern dies eindrücklich, denn darin wurde festgestellt, dass sich bei gut 90 Prozent geschlechtsdysphorischer Jugendlicher dieses Empfinden wieder auflösen und in ein homosexuelles Coming-out münden kann.

Warum eine zugewandte, dem Stand der Wissenschaft entsprechende Psychotherapie bei Geschlechtsdysphorie mit Konversionstherapie gleichgesetzt wird, eine medikamentöse Intervention mit schwacher Evidenzbasis aber nicht, erscheint klärungsbedürftig.

Danach gefragt, wie die gegenüber Pubertätsblockern zunehmend kritischer gewordene Diskussion im Ausland die Arbeit an der deutschen Leitlinie beeinflusst habe, antwortete Dagmar Pauli: „Also wir haben sie immer zur Kenntnis genommen. Wir haben alles dazu gelesen. Wir haben uns aber auch immer wieder abgegrenzt“ Pauli verwies als Beispiel besonders auf Großbritannien, wo Minderjährige mit Geschlechtsdysphorie nur ein einziges Zentrum hatten und die Lage allein „schon wegen der Wartezeiten katastrophal war“.  In den DACH-Ländern sei die Versorgung anders strukturiert und die Qualität der Versorgung sei nicht gleichzusetzen. Ebenso seien jüngste Empfehlungen aus Großbritannien, insbesondere dezentrale Versorgung und sorgfältige Abklärung hier schon längst umgesetzt. Anfang des Jahres jedoch, stand Pauli selbst in der Kritik. Eine Elterngruppe warf ihr vor, die Diagnose „Geschlechtsdysphorie“ zu vorschnell zu stellen.

Nun bleibt abzuwarten, bis die finale Version der Leitlinie veröffentlicht wird. Die Auseinandersetzung darüber, wie man jungen Menschen mit Geschlechtsdysphorie am besten behandeln sollte, wird auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz weitergehen.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.