Gender, die Psychoanalyse und das sexuelle Begehren – Ein Rückblick auf Ilka Quindeaus Queer Lecture zu „Queering Psychoanalysis“
Toleranz von Ambiguität | Queer Lecture mit Ilka Quindeau
Von Babette Reicherdt
An einem der letzten warmen Abende des Jahres füllte sich das taz Café ein weiteres Mal bis auf den letzten Stuhl. Ilka Quindeau, Psychoanalytikerin und Professorin für Klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Frankfurt University of Applied Sciences, die schon einmal in der Reihe „Queer Lectures“ vorgetragen hat, sprach am 16.09.16 in ihrem Vortrag „Queering Psychoanalysis“ zu queeren Potentialen in der Psychoanalyse.
Anhand von klassischen Themen aus dem psychoanalytischen Wissenssystem wie der klassischen Triade, konstitutioneller Bisexualität, Entwicklung der Geschlechtsidentität und polymorphem sexuellen Begehren diskutierte Ilka Quindeau Anschlussfähigkeiten zu einem weit weniger normativen Verständnis von Geschlecht und Sexualität, als es diese „so sehr heteronormative Theorie des 20. Jahrhunderts“ (Quindeau) üblicherweise vermuten ließe.
Unter Bezugnahme von Arbeiten des französischen Psychoanalytikers und Lacan-Schülers Jean Laplanche zum Primat des Anderen und der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler zu Geschlechtsidentitäten und Melancholie entwickelte Quindeau ein eigenes Modell von Gender, dem Verlauf des Prozesses geschlechtlicher Identifizierung und sexueller Orientierung und schließlich zum klassischen Ödipus-Konflikt.
Ein zeitlich nicht zu begrenzender Prozess
Anders als große Teile psychoanalytischer Schulen entwirft Quindeau Gender nicht als einen festen Kern, sondern als eine Art Container, der verschiedene vergeschlechtlichte Elemente auf der Skala von weiblich bis männlich enthält, die sich dort durch Zuschreibung und Selbsterfahrung materialisieren. Im Verlaufe des Prozesses geschlechtlicher Identifizierung greift eine Person auf diesen Vorrat zurück, kann jedoch nicht intentional darauf verfügen, sondern, so Quindeau, bildet Identität als ein Zusammenspiel aus Erfahrenem, Verarbeitetem und Unbewußtem heraus.
Diese Herausbildung von Geschlechtsidentität wie auch die Entwicklung eines sexuellen Begehrens versteht Quindeau als einen zeitlich nicht zu begrenzenden Prozess. An dieser Stelle postulierte sie ihr Verständnis eines Ödipus-Komplexes, der die klassische Verfasstheit von Mutter und Vater hinter sich lässt und an diese Stellen Bezugspersonen einsetzt, die unterschiedlichste Geschlechtsidentitäten aufweisen können.
Dieses Szenario könne mehrfach im Leben wiederholt werden und sei nicht an normative Phasen wie Kindheit oder Adoleszenz geknüpft. Quindeau leitete aus dieser Öffnung des Modells ein Verständnis von Geschlecht und sexueller Orientierung her, dass prinzipiell fluide zu denken ist und in Bezug auf die therapeutische Praxis eine Toleranz von Ambiguität, von „sowohl als auch“ ermöglicht und einfordert.
In der anschließenden Diskussion wurden die vielseitigen Perspektiven und ihre Kontextualisierung in gegenwärtigen durchaus gegenläufigen Debatten um Geschlecht und Sexualität erörtert. Hier machte Quindeau immer wieder auf die Wahl der Frageperspektive aufmerksam: Es gehe nicht um die Negation von Differenz, sondern um die Frage, warum welches Differenzmerkmal an welcher Stelle privilegiert wird. Mit der Fokussierung der Qualität der Bindungen an die jeweiligen Bezugspersonen gleich welchen Geschlechts zeigte Quindeau den angekündigten Anschluss psychoanalytischer Theorie auch an queere Politiken.
Babette Reicherdt ist Historiker_in und 2. Vorstand von IQN