Zum Gutachten der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, welches eine Rehabilitierung der Opfer Paragrafen 175 empfiehlt, kommentierte IQN-Vorstand Jan Feddersen auf Spiegel Online. Wir dokumentieren den Kommentar im Wortlaut:
Entschädigung für Opfer des „Schwulenparagrafen“: Und das ist auch gut so
„Warme Brüder“, Denunziantentum, Entehrungen: Homosexuelle, die nach Paragraf 175 verurteilt worden sind, sollen rehabilitiert werden. Die Geste ist gut – aber sie reicht längst nicht aus.
So war der Alltag von schwulen Männern nach dem Ende des Nationalsozialismus: ein kaum geänderter. Immerhin, man durfte bitter froh sein: Einen Rosa Winkel musste niemand mehr tragen. Auch drohte keine KZ-Haft, wenn zwei Männer erwischt wurden, die sich an die Wäsche gingen. Homosexuelle, die unter der drakonischen Verfolgung im Nationalsozialismus litten, hatten in persönlichster Hinsicht gar nicht das Gefühl, befreit worden zu sein.
Die Bundesrepublik machte einfach mit dem gleichen Paragrafen weiter: Der 175er, wie er damals salopp und abschätzig zugleich hieß, war eine realistische Androhung, keine rechtspolitische Luftnummer.
Dieser Paragraf, das Terrorinstrument gegen Homosexuelle schlechthin, kriminalisierte gleichgeschlechtliches Begehren. Vollständig. Homosexualität zu leben war verboten. Nicht moralisch, das sowieso. Das Verbot wurde mit Polizei, mit Nachbarn, manchmal durch Familienangehörige oder Arbeitskollegen jeden Tag aufs Neue durchgesetzt.
Zerstörerische Enthüllungen
Die heterosexuelle Volksgemeinschaft lebte fort – bis zum Ende der Sechzigerjahre durften Schwule als solche denunziert und entehrt werden. Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht im NS-Staat – Karlsruhes Verfassungsgericht lehnte dies strikt ab, mit einer Begründung, die aus christlichen Hetzschriften gegen sogenannte „widernatürliche Unzucht“ hätte stammen können.
Es war kein Weltgeist, der die Nazifassung der Strafandrohung bis 1969 erhielt. Die erste Regierung Konrad Adenauers wollte ihn bewahren, auch gegen die Absicht der amerikanischen Alliierten, die sonst darauf drangen, nationalsozialistische Gesetze zu tilgen. Nur: Die Nazifassung war ein Verdachtsparagraf, mit diesem Paragraf 175 konnte ein Mann verhaftet und drangsalisiert, ins Arbeitslager oder ins KZ gesteckt werden, ohne dass er zuvor erwischt wurde.
Und er blieb absichtsvoll erhalten, niemand aus der neuen politischen Elite der Bundesrepublik protestierte vernehmlich: Schwule – das waren warme Brüder, 175er, nicht Kerle wie die Nazis, die man eben noch anbetete.
Homosexuelle mussten um so gut wie alles fürchten, was ihren Alltag ausmachte. Schwule Nachkommen wurden enterbt – und werden dies vielfach bis heute. Hatten sie damals einen Partner gefunden, drohte vielleicht durch diesen Erpressung: Wenn du mir nicht Geld gibst, verrate ich dich. Schwule waren leichte Opfer, jedes Enthülltwerden hatte faktisch die Zerstörung der bürgerlichen Existenz zur Folge.
Gebrochen und eingeschüchtert
Und: Selbst wenn zwei sich im Vertrauen fanden, mussten sie Furcht haben. Vor der Entdeckung durch ihre Familien und Verwandten, im Job sowieso, während der Freizeit. Schwule Kneipen zu besuchen war im Übrigen riskant: Immer musste mit Razzien durch die Polizei gerechnet werden – und die nahm doch nur zu gern die Daten auf. Für Rosa Listen, das hatte man schon bei den Nazis, die Karteien führte man einfach weiter.
Schwule Männer waren gebrochen, sie waren eingeschüchtert, und sie wurden kleingehalten. Sie konnten keine Vorbilder sein, es waren keine Helden. Sie waren es eben auch nicht, die die Liberalisierung des Paragrafen 175 durch Aufstände wie in New York City bewirkten, die Erkenntnis des Unrechts kroch langsam in das Denken der Politiker, so dauerte es lange, bis der Paragraf aufgehoben wurde.
Nun empfiehlt die von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes eingeholte rechtswissenschaftliche Expertise, alle Urteile nach Paragraf 175 von 1949 bis 1969 zu kassieren. Auf dass deren Opfer ihre Ehre zurückerhalten. Das ist auch nötig, denn es sind Zehntausende Urteile gefällt worden – jene, die sie hinnehmen mussten, waren Aussätzige. Schwulsein, das war nicht gesellschaftsfähig. Es ist eine gute, politisch wichtige Geste dieser Institution, dieses Gutachten ermöglicht zu haben. Aber es reicht nicht.
Die Rehabilitierung darf moralisch nicht kostenlos sein. Bundespräsident, Ministerpräsidenten sollten in öffentlichen Erklärungen an diese Zeit der demokratisch legitimierten Tyrannei erinnern – und sich namens des Volkes entschuldigen. Es wäre dann an der Zeit, in deutschen Familien darüber zu sprechen: Warum wurde Onkel Hugo nicht mehr eingeladen? Warum war Vater plötzlich nicht mehr da? Wurde geheiratet, um den äußeren Schein zu wahren – den Nachbarn und Verwandten gegenüber?
Im Vergleich mit anderen westlichen Ländern wie Großbritannien, Spanien, den Niederlanden oder Schweden, Kanada oder Neuseeland ist es in Deutschland immer noch schwer, auf eine völlig undramatische Weise schwul oder lesbisch zu sein. Dass Homosexuelle nicht als normal wie alle anderen auch genommen werden und sie sich auch so nehmen: Das hat damit zu tun, dass die Bundesrepublik 20 Jahre lang einen Naziparagrafen exekutierte, weil ihre politische Elite es so wollte. Gut, dass diese politische Schande nun Thema wird.
Dieser Kommentar erschien zuerst am 11. Mai 2016 auf Spiegel Online