IQN-Vorständin Maria Borowski rezensierte für die Sehpunkte, dem Rezensionsjournal für die Geschichtswissenschaften, den Band „Wie Lili zu einem richtigen Mädchen wurde“.
Wir dokumentieren die Rezension im Folgenden in voller Länge:
Sabine Meyer: „Wie Lili zu einem richtigen Mädchen wurde“
Von Maria Borowski
Der Film „The danish girl“ läuft seit Januar 2016 in den deutschen Kinos und reiht sich ein in die Medialisierung der Geschichte um Lili Elbe. 1882 als Einar Wegener geboren, unterzog sich Lili 1930/31 mehreren Operationen zu einer Geschlechtsangleichung. Wenig später erschien Lili Elbes autobiografisches Buch „Von Mann zu Frau“, in dem sie ihre Entwicklung schilderte und das 1932/33 auch in Deutschland und Großbritannien verlegt wurde. [1] Dänemark galt Anfang des 20. Jahrhunderts als das europäische Land der geschlechtlichen Freiheit. Dass diese Freiheit nur ein Mythos war, weist Sabine Meyer in ihrer Studie nach. [2]
Meyer legt umfassende Untersuchung zur (literarischen) Figur Lili Elbe vor, die nicht nur die Originaltexte, die Editionsgeschichte und den historischen Kontext mit seinen Diskursen untersucht, sondern deren Inhalte auch in einer transdisziplinären Analyse verortet. Durch den transdisziplinären Ansatz legt Meyer neue Materialien und Aspekte der Forschung zu Lili Elbe vor. Als Basis dienen ihr fachspezifische Grundlagenforschungen aus der Literaturwissenschaft, der Sexualwissenschaft und der Medizingeschichte, die sie mit den medialen Diskursen jener Zeit verbindet. Damit macht sie einerseits die Verquickungen von literarischer und medialer Auslegung von „Von Mann zu Frau“ deutlich, anderseits spürt sie die grundlegenden medizinischen und rechtlichen Diskurse im Kontext der Zeit auf, die das Buch unterschwellig prägten.
Der Autorin geht es vor allem darum, zwei Fragen zu beantworten: „Wie wird ein geschlechtliches Subjekt konstruiert und welche Grundsätze werden bei der Verschaltung wissenschaftlicher und populärer Bewertungsmechanismen – in Bezug auf Person und Ereignis – sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch den medizinischen und rechtsstaatlichen Standards etabliert?“ (22) Im ersten Kapitel setzt sich Meyer mit der Etablierung ihrer eigenen Fragestellung auseinander, in dem sie den Forschungsstand und für ihre Arbeit theoretisch relevante Aspekte beleuchtet. Dabei betrachtet sie vor allem das normsetzende Zweigeschlechtersystem im staatlichen Zusammenhang und den damaligen Blick der Wissenschaft auf Subjekte. Die Begriffe Normalität, Alterität, Identität, Subjektivität und Agency spielen im einleitenden Kapitel eine große Rolle, das gleichsam als Übersichtskarte für die gesamte Arbeit dient. Die Einleitung wählt die Makroperspektive, während später bestimmte Aspekte herangezoomt werden. So interpretiert Sabine Meyer die Vorworte der verschiedenen Fassungen von „Von Mann zu Frau“. Jene Vorworte gaben nämlich, so die These, vor, wie der gesamte Text zu lesen und zu verstehen sei.
„Lili wird nie vollständig zum Subjekt der Geschichte, sondern steht immer im Wechselspiel zwischen Gesellschaft / Medien und sich selbst.“
Dieser Ansatz erlaubt es Meyer, sich von der Genrezuweisung (Auto-)Biografie zu lösen, die die Interpretationsansätze in der Forschungslandschaft stark geprägt haben. Im zweiten Kapitel zeigt sie, dass „Von Mann zu Frau“ ebenfalls als Bekenntnis verstanden und gelesen werden kann. Das Buch als Rechtfertigung zu interpretieren, eröffnet Meyer die Möglichkeit den Text eher als ein literarisches Produkt denn als biografische Wiedergabe zu interpretieren. Die Autorin kann etwa zeigen, wie bestimmte Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder aufgebaut wurden, auf die Lili später zurückkam. Eine wesentliche Frage in diesem Zusammenhang ist die Autorenschaft. Wer hat „Von Mann zu Frau“ geschrieben? War es, wie das Original suggeriert, Lili selbst oder war es der Herausgeber, der dem Buch durch subjektive Passagen Authentizität verschaffen wollte? Sabine Meyer kommt zum Ergebnis, dass das Werk im Kontext des Erscheinungslands jeweils variiert und daher unmöglich aus Lilis Hand stammen kann. In Anlehnung an Roland Barthes erklärt Meyer, dass die Geburt des Lesers mit dem Tod des Autors zu bezahlen ist.
Dass Lili im September 1931 in Dresden starb und „Von Mann zu Frau“ eher aus der Feder des Heraushebers stammt, wird auch am nächsten Komplex deutlich. Lili wird nie vollständig zum Subjekt der Geschichte, sondern steht immer im Wechselspiel zwischen Gesellschaft / Medien und sich selbst. Sie erreicht weder als Mann noch als Frau eine vollständige Identität im Sinne der geschlechtlichen Binarität, obgleich sie in „Von Mann zu Frau“ diesen zwei Polen zugehörig dargestellt wird. Wenn sie Teil dieses Gegensatzpaars gewesen wäre, hätte sie dann als „normaler“ Mann weibliche Gefühle in sich tragen können? Eher nicht. Deswegen arbeitet Meyer anhand der Vorher- und Nachher-Darstellungen von Einar versus Lili heraus, wie stark die gesellschaftlich-bedingte Zweigeschlechtlichkeit die literarische Identität von Einar / Lili beeinflusste. Dass es sich um zwei grundverschiedene Menschen handelt, wurde damit literarisch manifestiert. Es musste eine eindeutige Zugehörigkeit zu den Geschlechtern geben, um die operativen Prozesse, die im Buch beschrieben wurden, für die Mehrheit nachvollziehbar und akzeptabel zu machen. Dass das Buch „Von Mann zu Frau“ und nicht „Wie Lili zu einem richtigen Mädchen wurde“ hieß, unterstrich die binäre Polung der Geschlechterzuweisung.
Im vierten Kapitel betrachtet Sabine Meyer, wie Technologie Körper und Seele in Einklang zu bringen vermögen und wie sich daraus die vermeintliche „Normalität“ – hier im Sinne der binären Geschlechterzuordnung – herstellen lässt. Die Autorin beschreibt die Geschichte der Sexualwissenschaft ab dem 19. Jahrhundert. Die Keimdrüsenforschung, die Verpflanzung von Gewebe des anderen Geschlechts und die Psychoanalyse stellten Behandlungs- und Forschungsansätze dar, um die „Normalität“ der Geschlechterordnung herzustellen. Dass die geschlechtliche Veränderung in „Von Mann zu Frau“ kaum dargestellt wird, erklärt Meyer damit, dass es zu dieser Zeit noch keine Sprache und demzufolge kein Nachdenken darüber gab. Das Fehlen der Operationen lud die spätere Forschung zu Spekulationen ein. Aus literarischer Perspektive war es eine Leerstelle, über die Lili nicht hätte berichten können, weil sie unter Narkose stand. Anstelle von Lili erzählen andere Personen Teile dieser Geschichte.
Das Fehlen von Informationen zu diesem Aspekt der Geschlechtsangleichung setzt sich im rechtlichen Kontext fort. Im fünften Kapitel beschreibt Sabine Meyer sehr schlüssig, wie stark sich das Buch von den tatsächlichen Vorkommnissen in Bezug auf Personenstand und Namenswahl unterschied. Diese neuen Entdeckungen liefern weitere Hinweise für die „erfundene Authentizität“ des gesamten Werks. Die literarische Vorlage sagt, Lili habe sich aufgrund der Verbundenheit zu Dresden den Nachnamen Elbe gegeben. Meyers Recherchen zeigen aber, dass die Namenswahl ganz und gar nicht poetisch verlief: Erst einmal musste Einars Ehe geschieden werden, um sich als Frau registrieren lassen zu können. Dazu musste die Ehe für ungültig erklärt werden. Die Scheidung wurde damit begründet, dass Einar die Ehe wegen seiner Zwitterhaftigkeit nicht habe vollziehen können.
„Lili Elbe konnte sich teilweise als Subjekt in ihrer Welt verorten. Doch die Entwicklungen nach 1933 führten zur Deutungshoheit von Medizin, Recht und Staat.“
Um vor dem Staat als weiblich zu gelten, musste Lili kastriert sein und ihre Weiblichkeit durch Ärzte beim Justizministerium bestätigen lassen. Hier arbeitet Meyer besonders deutlich heraus, welchen Anteil Mediziner an der „Akzeptanz“ des neuen Geschlechts hatten und welche Voraussetzungen erfüllt sein mussten: Der Gerichtsarzt benötigte für seine Entscheidung das Ergebnis äußerer und innerer Untersuchungen, Hormonbestimmungen, Untersuchungen bezüglich des psychosexuellen Charakters des Patienten sowie die Dokumentation erfolgter und geplanter Operationen.
Das Zusammenspiel von Medizin, Recht und der Vorstellung einer Trinität von Geschlechtsteil, gesellschaftlichem Geschlecht und Begehren war das Ergebnis der historischen Entwicklungen nach dem Fall Lili Elbe. Im sechsten Kapitel gibt Meyer einen Ausblick in die Zeit nach 1932 und zeigt, wie stark die Deutungshoheit Medizin und Recht auf transsexuelle und intersexuelle Individuen einwirkte und sie zu Objekten degradierte. Meyer hebt hervor, dass Lili zwar einen Teil ihrer Subjektivität artikulieren konnte, aber zu großen Teilen fremdbestimmt wurde. Die Trias von Recht, Medizin und Staat steht bis heute im Fokus der Trans*-Frage; man braucht noch immer ärztliche Gutachten für die Personenstandsbestimmung.
Sabine Meyer ist es gelungen, vielfältige Interpretationsansätze zu verbinden, neue Zugänge und Analysen vor allem in Bezug auf die Konstruktion von Identität und Geschlecht vorzulegen und transdisziplinär zu arbeiten. Lili Elbe konnte sich teilweise als Subjekt in ihrer Welt verorten. Doch die Entwicklungen nach 1933 führten zur Deutungshoheit von Medizin, Recht und Staat. Meyer hat gezeigt, dass mit der Verortung Lili Elbes als literarischer Figur das Ringen um die Macht des Staates eingeleitet wurde und dass daran anschließend transsexuell empfindende Menschen zu Objekten gemacht wurden. Ob die reichen Informationen dieser Arbeit für weitere Forschung fruchtbar gemacht werden können, wird die Zukunft zeigen.
Anmerkungen:
[1] Ich verwende durchweg die Übersetzung des dänischen Originaltitels statt der Überschrift der deutschen Ausgabe: Nils Hoyer (Hg.): Lili Elbe: Ein Mensch wechselt sein Geschlecht. Eine Lebensbeichte, Dresden 1932.
[2] Eine der Leitfragen der Arbeit kommt schon im Titel zum Ausdruck. Es geht Sabine Meyer um Re-Subjektivierung des ehemaligen medizinischen und rechtlichen „Falls Lili“. Deswegen gab sie der vorliegenden Arbeit den Titel, den Lili Elbe gern für ihre Autobiografie gewählt hätte.
Dieser Text ist zuerst erschienen in den Sehpunkten, Ausgabe 16 – 2/2016.