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Zwischen Biologie und Identität – wie selbstbestimmt kann Geschlecht im Gesetz sein?

Am 28. November 2023 findet im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Bundestags die öffentliche Anhörung von Sachverständigen zum Selbstbestimmungsgesetz  statt. IQN-Redakteur Till Randolf Amelung wurde ebenfalls um eine Stellungnahme gebeten. Der folgende Beitrag ist ein vorab veröffentlichter Auszug daraus, der redaktionell angepasst wurde.



21. November 2023 | Till Randolf Amelung

Nun hat das Vorhaben, das über 40 Jahre alte Transsexuellengesetz (TSG) durch ein sogenanntes Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen, einen weiteren Meilenstein auf seinem Weg erreicht: am 15. November 2023 wurde das Gesetz in einer lebhaften Debatte im Bundestag vorgestellt und an den Familienausschuss zur weiteren Beratung überwiesen.

Mit dem vorliegenden „Entwurf eines Gesetzes über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag (SBGG-E)“ sollen Forderungen nach einer Neuregelung der Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags erfüllt und die Voraussetzungen für trans- und intergeschlechtliche Menschen vereinheitlicht werden. Im Vergleich zum TSG sollen die beiden Sachverständigengutachten künftig als Voraussetzung entfallen. In § 2, Absatz 1 SBBG-E heißt es:

„Jede Person, deren Geschlechtsidentität von ihrem Geschlechtseintrag im Personenstandsregister abweicht, kann gegenüber dem Standesamt erklären, dass die Angabe zu ihrem Geschlecht in einem deutschen Personenstandseintrag geändert werden soll, indem sie durch eine andere der in § 22 Absatz 3 des Personenstandsgesetzes vorgesehenen Angaben ersetzt oder gestrichen wird.“

Gemäß § 2, Absatz 2 SBGG-E soll die Person mit Abgabe der Erklärung zugleich versichern, dass „der gewählte Geschlechtseintrag beziehungsweise die Streichung des Geschlechtseintrags ihrer Geschlechtsidentität am besten entspricht“ und „ihr die Tragweite der durch die Erklärung bewirkten Folgen bewusst ist.“ Eine Begutachtung, Stellungnahme oder Prüfung der Selbstaussage durch Dritte ist nicht vorgesehen.

 

Kein Missbrauchspotenzial?

Gerade radikalfeministische Frauen bringen deshalb vehemente Bedenken an, dass eine VÄ/PÄ ohne Plausibilitätsprüfung biologischen Männern eine Handhabe biete, sich in Schutzräume für Frauen zu klagen. Frauen sind nach wie vor die Hauptbetroffenen von sexueller Gewalt, zumeist ausgeübt durch Männer. Daher ist es vollkommen nachvollziehbar, dass hier ein erhöhtes Schutzbedürfnis besteht. Transverbände bestreiten mit Verweis auf das Ausland und dort vergleichbarer Regelungen, dass ein solches Missbrauchsrisiko überhaupt bestünde oder reden es klein und fordern daher, auf Sicherungen zu verzichten, die aus ihrer Sicht vor allem eine Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts von Transpersonen darstellen. Bereits vor der Einführung eines Selbstbestimmungsgesetzes wird das Grundprinzip – bedingungslose Akzeptanz der Selbstäußerung einer Person über ihr Geschlecht – in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen gefordert und teils auch schon akzeptiert. Einher geht dies mit immer unbestimmter werdenden Begriffsdefinitionen von Transidentität. Auch deshalb schwindet bei vielen Kritikerinnen die Zuversicht, sich gegen missbräuchlich handelnde Personen in einer konkreten Situation wehren zu dürfen. Insgesamt ist es jedoch naheliegend, dass Menschen Gesetzeslücken ausnutzen, wenn es ihren persönlichen Zielen dient.

 

Ignorierte Schamgrenzen

Aufgrund fehlender systematischer Erfassung in anderen Ländern mit einem Gesetz auf der Basis des Selbstbestimmungsprinzips ist eine Prognose schwer, mit wie vielen Problemfällen zu rechnen wäre. Jedoch involviert das Geschlecht grundsätzlich sehr sensible Bereiche, darunter Intimsphäre, Schamgefühl. Es kann daher unter Umständen ein generelles Unbehagen auslösen, wenn man in einem nach Geschlecht getrennten Raum durch eine Person Irritationen erlebt, die man dort als unpassend einordnet. Kulturhistorisch sind zum Beispiel geschlechtergetrennte Sanitäreinrichtungen eher der Regelfall, als die Ausnahme. Wie der Soziologe Norbert Elias in seinem grundlegenden Werk „Über den Prozeß der Zivilisation“ bereits beschrieben hat, beeinflusst der Wandel von Herrschafts- und Sozialstrukturen auch Persönlichkeitsstrukturen. Mit Zivilisierungsprozessen gingen auch Verfeinerungen von Normen und Sitten einher, die zur Erhöhung von Scham- und Peinlichkeitsschwellen führten. Wo bei geschlechtergetrennten Einrichtungen Schutz vor Gewalt als Argument für die Beibehaltung des biologischen Geschlechts als Zugangskriterium angeführt wird, geht es eigentlich auch um Schamgefühle. Diese können je nach Alter, sozialer, kultureller oder ethnischer Herkunft graduell differieren. Die soziohistorischen Sedimente mag man vielleicht in einer studentischen Seminararbeit mit einem Federstrich dekonstruieren können, gesellschaftliche und individuelle Realität sind deutlich widerspenstiger. Da das Thema „geschlechtsspezifische Schutzräume“ so sensibel ist, reichen hier bereits wenige Missbrauchsfälle, um Schaden anzurichten und das Ansehen von Transpersonen zu beschädigen.

 

Missbrauchsfälle, die es nicht ja nicht gibt

Tessa Ganserer (Bündnis 90(die Grünen) am 15. November 2023 im Bundestag, Ganserer spricht gerade am Rednerpult.

Tessa Ganserer (Bündnis 90(die Grünen) am 15. November 2023 im Bundestag. (Foto: Screenshot Parlamentsfernsehen)

In der parlamentarischen Debatte am 15. November verwies Tessa Ganser (Bündnis 90/die Grünen) auf die Schweiz, wo es seit dem 1. Januar 2022 ein Gesetz nach dem Selbstbestimmungsprinzip gibt. In einem Versuch, witzig zu sein, sagte Ganserer, die Zivilisation sei wegen dieses Gesetzes in der Schweiz nicht untergegangen und die Züge wären im Gegensatz zu Deutschland noch pünktlich. Das mag betreffend der Zivilisation und des Bahnverkehrs so sein, aber hinsichtlich der eidgenössischen Variante eines Selbstbestimmungsgesetzes gibt es bereits folgende Fälle, die bislang publik geworden sind:

  • In der Schweiz gibt es für Frauen ein früheres Renteneintrittsalter. Deshalb änderte ein Mann seinen Geschlechtseintrag von „männlich“ auf „weiblich“, wie er selbst der Luzerner Zeitung berichtete. Der Vorgang kostete ihn einmalig 75 Franken – demgegenüber steht die AHV-Rente von bis zu 30.000 Franken jährlich.
  • Ein anderer Mann wollte mit einer Änderung des Geschlechtseintrag dem Militärdienst entgehen. In einem Bericht heißt es: „Es habe sich um einen reinen Verwaltungsakt gehandelt, er habe keine einzige Frage beantworten müssen. Zum Standesamt sei er in seiner normalen Kleidung gefahren, er habe mit seiner normalen Stimme gesprochen.“
  • Im traditionellen Zürcher Frauenbad forderte laut der Neuen Zürcher Zeitung „eine Person mit Schnauz, die sich als weiblich ausweist, Einlass“.

In Deutschland gab es mit dem freiwillig und vor einer gesetzlichen Änderung übernommenen Selbstbestimmungsprinzip in einigen Bereichen bereits folgende Fälle in den Medien:

  • Im Kreisverband der Partei Bündnis 90/die Grünen in Reutlingen bewarb sich Parteimitglied David Allison im Juli 2021 trotz offensichtlich männlichem Erscheinungsbild auf einen quotierten Frauenplatz, indem er sich kurzerhand zur Frau deklarierte. Laut seiner eigenen Beschreibung soll es zwar durchaus irritierte Blicke, aber keine Proteste gegeben haben.
  • Ein weiterer Fall beschäftigte das Bundesschiedsgericht derselben Partei: In einem Kreisverband wollte ein Mitglied für den quotierten Frauenplatz im Vorstand kandidieren, die trotz männlichen Auftretens und eines männlichen Vornamens behauptete, eine Frau zu sein. Das Parteischiedsgericht urteilte, nur Personen, die sich „eindeutig und dauerhaft“ als Frau definieren, könnten sich auf die innerparteilichen Quotenregeln für Frauen berufen. Wie diese Eindeutigkeit und Dauerhaftigkeit festgestellt werden soll, blieb offen.
  • In Berlin erschlich sich ein Betrüger vorläufige Ausweisdokumente und beging Straftaten. In der Berliner Zeitung dazu: „Im Fall von Sabri E., der sich als transgeschlechtlich vorstellte, fanden die Mitarbeiter es offenbar plausibel, dass sein Äußeres und das mitgebrachte Lichtbild sich von dem Gesicht auf den Passbildern der vorgelegten Ausweise unterschied. Sie schauten nicht richtig hin und stellten keine Nachfragen – möglicherweise aus Schamgefühl oder Angst vor einer Diskriminierungs-Beschwerde.“

Das Prinzip „Selbstbestimmung qua Kulanz“ machte auch im Ausland Schlagzeilen, zum Beispiel in Österreich, wo der in Hamburg lebende Bijan Tavassoli in Wien als „Trans-Muslima“ Zutritt zu einer Frauensauna einforderte und auch bekam. Tavassoli erklärte sich gegenüber Medien wie folgt:

„Als der Bademeister mich darauf hinwies, dass heute Frauensauna-Tag sei, zeigte ich ihm einfach meinen DGTI-Ausweis (Ersatzausweis für trans Menschen), in dem steht, dass ich eine Frau bin. Er hat sich den Ausweis genau angeguckt, mir das Ticket verkauft und mich dann hereingelassen.“

Der erwähnte Ausweis wird seit 1999 als „Ergänzungsausweis“ von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti e.V.) ausgestellt und soll nur in Verbindung mit offiziellen Ausweisdokumenten „gültig“ sein. Zweck dieses Dokuments ist es, die Diskrepanz zwischen Äußerem und Ausweispapieren und bis zu einer rechtswirksamen Änderung der Ausweisdokumente per TSG-Verfahren bei Bedarf plausibel und diskret erklären zu können. Zunächst verlangte die dgti vor der Ausstellung des „Ergänzungsausweises“ einen Nachweis, dass sich die antragstellende Person im Prozess einer Geschlechtsangleichung befindet. Dies konnte beispielsweise die Kopie einer ärztlichen Überweisung oder ein Schreiben eines behandelnden Therapeuten sein. Seit einiger Zeit verzichtet die dgti e.V., die ein neues Gesetz nach dem Selbstbestimmungsprinzip befürwortet, auf einen solchen Nachweis, erwähnt aber auf der eigenen Website:

„Letztlich behält sich die dgti allerdings das Recht vor, die Ausfertigung eines Ergänzungsausweises zu verweigern, wenn unter objektiver Würdigung der Gesamtumstände und Angaben diese nicht darauf hindeuten, dass der erbetene Ausweis zur Unterstützung und Erleichterung der Transition gedacht ist, sondern zu einem nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch.“

Im Hinblick auf das geplante Selbstbestimmungsgesetz ist die Frage zu klären, ob ein Standesbeamter sich ebenfalls das Recht vorbehalten darf, „Gesamtumstände objektiv zu würdigen“ und eine nicht aufrichtig erscheinende Selbsterklärung nicht anzunehmen.

Eine Person hält ein Toiletten-Schild für Unisex-Toiletten vor blauem Hintergrund in der Hand

Unisex-Toilettenschild (Foto: No Revisions auf Unsplash)

Es muss in dem Zusammenhang auch geklärt werden, inwieweit Zielgruppenbeschränkungen möglich bleiben, die biologisches Geschlecht in Kombination mit sozialen Erfahrungen zur Grundlage haben. Gerade in sensiblen Bereichen, wie Schutz-, Beratungs- und Therapieeinrichtungen rund um sexuelle Gewalt oder auch sexuelle Entwicklung, Körperthemen (z.B. Gesundheit, Schwangerschaft, Menstruation) für Frauen ist dies von Bedeutung. Sollte es z.B. für Transpersonen an solchen Einrichtungen mangeln, wäre hier dafür zu sorgen, dass es auch für Transpersonen diese besonderen Einrichtungen gibt, anstatt die Nutzung vorhandener „für Frauen“ gedachter Einrichtungen für biologische Frauen zu verunmöglichen. Dies kann nicht allein über den Verweis auf das Hausrecht geschehen. Vielmehr braucht es eine breite gesellschaftliche Verständigung darüber, welche Relevanz das biologische Geschlecht in welchem Kontext  haben muss und was dies im praktischen Umgang bedeuten kann. Eine wichtige Rolle spielen in dieser Auseinandersetzung veränderte, aktivistisch motivierte Begriffsverständnisse, die meiner Ansicht nach dazu beitragen, dass mit dem Selbstbestimmungsprinzip in Bezug auf das Geschlecht Konflikte und Missbrauchsfälle wahrscheinlicher eintreten werden.

 

Was ist „Trans“?

Im Zusammenspiel zwischen Aktivismus und Wissenschaft wurden veränderte Begriffsdefinitionen von Transidentität und Geschlecht platziert. Bei Trans lässt sich das zum Beispiel an den Veränderungen der Definitionen in medizinischen Diagnostikmanuals (ICD-10 und ICD-11) ablesen oder auch daran, welche Begriffsdefinitionen staatlich geförderte Plattformen wie das Regenbogenportal verwenden:

„Trans* Menschen identifizieren sich nicht oder nicht nur mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Manche trans* Menschen haben seit ihrer Kindheit das Gefühl, im „falschen“ Körper zu stecken, anderen wird irgendwann bewusst, dass sie sich zum Beispiel weder als Mann noch als Frau fühlen. Manche nehmen einen neuen Vornamen an, andere nutzen nach intensiver Beratung durch Mediziner*innen und Therapeut*innen geschlechtsangleichende Maßnahmenwie Hormone und/oder Operationen.

Welche weiteren Begriffe für trans* gibt es?

Die Selbstbezeichnungen von trans* Menschen sind vielfältig: Als trans* Mann bezeichnen sich zum Beispiel Männer oder männlich identifizierte Personen, die bei ihrer Geburt noch nicht als Junge wahrgenommen wurden. Weitere übliche Begriffe sind „transgeschlechtlich“, „transgender“, „transident“ oder „transsexuell“. „Trans*“ wird häufig als Oberbegriff verwendet, wobei das Sternchen als Platzhalter für die unterschiedlichen Endungen stehen soll.“

Diese Definition ist ein Resultat aktivistischer Bemühungen, um vorher maßgebliche Definitionen aus der Medizin zu verdrängen. An den Veränderungen der Definitionen lässt sich sehen, wie der vorherige Rekurs auf Zweigeschlechtlichkeit einem offeneren Verständnis gewichen ist. Anstatt als medizinisches Thema, wird Trans nun zuvörderst aus menschenrechtlicher Perspektive betrachtet.

Neuere Begriffe wie „Nonbinary“ oder in deutsch „nicht-binär“ tragen noch weiter zur Begriffsunschärfe von „Trans“ bei, wie man zum Beispiel im Regenbogenportal nachlesen kann:

„Nicht-binär“, „non-binary“ oder auch „genderqueer“ sind Selbstbezeichnungen für eine  Geschlechtsidentität, die sich nicht in der Gegenüberstellung von Mann oder Frau beschreiben lässt. Damit kann eine Geschlechtsidentität „zwischen“, „sowohl-als-auch“, „weder-noch“ oder „jenseits von“ männlich und weiblich gemeint sein.“

In der Regel wird mit dieser Selbstbezeichnung meiner Beobachtung nach vor allem eine Haltung kommuniziert, welche die heteronormative Zweigeschlechterordnung ablehnt. Diese Personen können zugleich trans oder inter sein. Das scheint aber mittlerweile eher eine Minderheit unter allen zu sein, die sich als „nonbinary“ bezeichnen. Wie Lydia Meyer im 2023 erschienenen Buch „Die Zukunft ist nicht binär“ schreibt, werden Erwartungen Außenstehender, mit dieser Selbstbezeichnung z.B. irgendwie androgyn aussehen zu müssen, abgelehnt.

 

Epistemische Konflikte um das biologische Geschlecht

Gerade um die Frage, wie biologisches Geschlecht definiert werden soll, sind zunehmend Kontroversen entbrannt. Zunächst ist in sozialwissenschaftlicher oder psychologischer Hinsicht die Unterscheidung zwischen biologischem Geschlecht, äußeren Geschlechtsmerkmalen, Geschlechtsrolle und Geschlechtsidentität üblich, um alle Ebenen zu erfassen, in denen Geschlecht relevant ist, wie auch die Kommunikationsberaterin Sigi Lieb in ihrem Buch „Alle(s) Gender. Wie kommt das Geschlecht in den Kopf?“ ausführlich erläutert.

Anders sieht es bei der Frage aus, ob es mehr als zwei biologische Geschlechter gibt. Die eigentlich übliche Definition, die noch aus dem Biologie-Unterricht bekannt sein dürfte, unterscheidet das Geschlecht anhand der Gameten, die produziert werden. Kleine und bewegliche Gameten (Spermien) sind biologisch männlich, große Gameten (Eizellen) biologisch weiblich. Weitere biologische Geschlechter gibt es nach dieser Definition eigentlich nicht, aber genau diese Definition wird vom queeren Aktivismus angegriffen.

Im Mai diesen Jahres drückte die UN-Beauftragte für Gewalt gegen Mädchen und Frauen Reem Alsalem ihre Besorgnis darüber aus, wie der Diskurs unterbunden würde und forderte, dass Mädchen und Frauen ohne Angst und Einschüchterungsversuche über ihnen wichtige Anliegen frei sprechen können müssten. Dies führte zu Protesten von Transaktivisten und der Association for Women’s Rights in Development (AWID) die Alsalems Absetzung forderten. Im September legte Alsalem mit einem Statement nach:

“The letter by AWID did however contain one novelty, which I found very concerning, namely its allegation that I reportedly continue to “perpetuate narratives upholding outdated and non-scientific understandings of binary biological sex.” There is nothing outdated or unscientific about the binary nature of sex, and I would encourage signatories of this letter to seek out biologists for a conversation around this issue.”

Wie sehr es um diese biologische Geschlechterdefinition gestritten wird, zeigt auch ein Beitrag in der Juli/August-Ausgabe des „Skeptical Inquirer“.  Darin beklagen die Evolutionsbiologen Jerry A. Coyne und Luana S. Maroja, dass ihr Wissenschaftsfeld durch ideologische Einflussnahme seitens sich als progressiv verstehender Politik gefährdet sei. Aus ideologischen Gründen könne man nicht mehr von biologischer Zweigeschlechtlichkeit reden, obwohl diese nach wie vor nicht widerlegt sei. Dieses Modell wird vom queeren Aktivismus und mit ihm verbündeten Wissenschaftlern herausgefordert, vornehmlich aus den Geistes- und Sozialwissenschaften. Der wohl bekannteste Ansatz ist die „Queer Theory“ nach der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler. Butler sieht, sehr knapp zusammengefasst, auch das biologische Geschlecht als sozial konstruiert an, da auch die materielle Ebene der Deutung unterliege, die wiederum durch hegemoniale Diskurse strukturiert werde.

In Deutschland wird oft auf einen Artikel aus dem „Tagesspiegel“ des Sexualwissenschaftlers Heinz-Jürgen Voß verwiesen, wenn es darum geht, ob biologische Zweigeschlechtlichkeit noch dem Stand der Wissenschaft entspricht. In diesem gibt Voß den 2015 erschienenen Beitrag „Sex redefined“ der Biologin Claire Ainsworth aus dem Fachmagazin „Nature“ wieder und dies auf sehr strittige Weise. Denn anders als er der Titel dieses wissenschaftsjournalistischen Beitrags nahelegen könnte, will Ainsworth ihn »ganz und gar nicht« als Widerlegung der biologischen Zweigeschlechtlichkeit verstanden wissen. „No, not at all. Two sexes, with a continuum of variation in anatomy/physiology“, stellte sie am 21. Juli 2017 auf Twitter klar, nachdem ihr Beitrag verschiedentlich als Plädoyer für biologische Vielgeschlechtlichkeit herhalten musste. In ihrem vielzitierten Aufsatz trägt sie Forschungsergebnisse zusammen, die sich mit anatomischer und physiologischer Vielfalt von Geschlecht beschäftigen. Es geht darin um (seltene) Variationen innerhalb des binären (biologischen) Modells.

Im trans- und intergeschlechtlichen Aktivismus gilt das bisherige Biologiemodell jedoch als Hindernis, um als gleichwertig angesehen zu werden, da man  Trans- und Intergeschlechtlichkeit als nicht-pathologische Normvariante verstanden wissen möchte. In Anbetracht dessen, dass Wissenschaft und Medizin in der Vergangenheit vulnerablen Gruppen wie Trans- und Interpersonen mitunter nicht gerecht wurden und gar erhebliche Verletzungen zugefügt haben, ist diese Bewertung durchaus verständlich. Jedoch sind möglichst belastbare wissenschaftliche Modelle für alle Bereiche essentiell. Die derzeitigen ideologisch aufgeladenen Definitionsversuche und daraus resultierenden Konflikte beschädigen das Vertrauen in Wissenschaft, aber auch Politik.

 

Ein Gesetz ohne sorgfältige Rechtsfolgenabschätzung

Läuferinnen im Stadion bei einem Leichtathletik-Wettbewerb

Läuferinnen bei einem Wettkampf (Foto von Jonathan Chng auf Unsplash)

In der Auseinandersetzung um das Selbstbestimmungsgesetz sind diese Definitionsfragen von hoher Relevanz: Fast alle gesetzlichen Bestimmungen oder gesellschaftliche Normen, in denen Bezug auf das Geschlecht genommen wird, gehen vom klassischen biologischen Geschlechtsverständnis aus, wie Rechtswissenschaftler Boris Schinkels ausführt. Auch Aspekte wie Frauenquoten, Frauensport oder Wehrpflicht müssten betrachtet werden. Es hat noch keine umfassende Rechtsfolgenabschätzung stattgefunden, die abwägt, was eine vollständige Entkopplung des Geschlechterbegriffs vom bisherigen Verständnis für Regelungen und Normen bedeutet, deren Ausgangspunkt die biologische Zweigeschlechtlichkeit ist. Dies der Autonomie von Verbänden (Sport) oder dem Hausrecht (z.B. Saunabetreibern) zu überlassen, würde alle Beteiligten der Willkür ausliefern. Es kann weder im Einzelfall der Schutz von biologischen Frauen, noch das Verhindern von Diskriminierung von Transpersonen gewährleistet werden. Die Autorin Chantalle El Helou kritisiert in ihrem Essay „Vom Queer-Sexismus zur Emanzipation. Ein Lagebericht mit Auswegen“  an einem von materieller Realität vollständig entkoppelten Geschlechtsverständnis:

 

„Die Zurückweisung des Körpers führt tatsächlich nicht zu mehr Freiheit und Gleichheit, sondern gerade in der Auslieferung an die Ungleichheit zur Unfreiheit. Die transaktivistische Leugnung des Körpers will angeblich den Biologismus bekämpfen, plädiert aber tatsächlich für ein rohes, gesellschaftlich ungefiltertes Aufeinanderprallen der Körper. Er behauptet die Bedeutungslosigkeit des Körpers, sorgt aber dafür, dass man die Grenzen des Körpers wieder richtig zu spüren bekommt. […] Es ist die Zurückweisung gesellschaftlichen Ausgleichs geschlechtlich-körperlicher Ungleichheit und gerade die Leugnung des anatomischen Geschlechts , die paradoxerweise in der gesellschaftlichen Realität dazu führt, dass Biologie wieder Schicksal wird.“

Keine rechtliche Fiktion kann Transpersonen die Auseinandersetzung mit dem Kernproblem, nämlich dem Auseinanderfallen von Geschlechtsidentität/-Bewusstsein und Körper ersparen. Es wird immer einen Rest an Unverfügbarem im Sinne Hartmut Rosas geben, wenn es um den biologischen Körper geht. Ein gutes Gesetz beruht auf klaren, validen Grundlagen. Die vollständige Entkopplung des Geschlechterbegriffs vom biologischen Geschlecht leistet das nicht. Man kann nur hoffen, dass die Bundesregierung doch noch zur Besinnung  kommt und  von einem handwerklich schlechten Gesetz abrückt, bevor sowohl für Frauen und Mädchen, als auch für Trans- und Interpersonen Schaden entsteht.

 


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Ansonsten ist er freier Autor mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen. Texte von ihm sind auch im Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze) erschienen. Zum Selbstbestimmungsgesetz äußerte er sich in diesem Blog bereits: Wird der Bademeister zum Gutachter? und Der Gesetzesentwurf, mit dem kaum jemand glücklich ist.

Die Stellungnahme als Sachverständiger erfolgte auf Einladung durch die CDU/CSU. Selbstverständlich hätte er auch den anderen, im Bundestag vertretenen demokratischen und verfassungsfreundlichen Parteien zur Verfügung gestanden. Warum dies insbesondere für die Parteien aus dem politisch linken Spektrum nicht in Frage gekommen ist, dazu könnte man auch heute noch den 2017 im Querverlag erschienenen Sammelband „Beißreflexe“ in die Hand nehmen und lesen.  (Siehe dazu auch diesen Text aus dem Jahrbuch Sexualitäten 2022: Till Randolf Amelung, Patsy l’Amour laLove und Vojin Saša Vukadinović: „Ich habe es nicht gelesen, aber….“ 5 Jahre „Beißreflexe. )


Hass auf Israel – auch im queeren Aktivismus

Der Terrorangriff der Hamas auf Israel erschüttert in seiner Brutalität weltweit Menschen. Allerdings gibt es auch gleichgültige bis zustimmende Reaktionen – nicht nur aus muslimischen Kreisen, sondern auch von Linken und Queers.


Foto von Cole Keister auf Unsplash


24. Oktober 2023 | von Till Randolf Amelung

Als Terroristen der palästinensischen Hamas am 7. Oktober 2023 Israel überfielen, verübten sie abscheulichste Gräueltaten. Sie schlachteten wehrlose Zivilisten ab, Babies wurden geköpft. Frauen vergewaltigt, allein über 260 junge Menschen auf einem Musikfestival ermordet. Nach Stand der Dinge sind mehr als 200 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt worden, Faustpfändern gleich, um tausende in Israel inhaftierte Hamas-Terroristen freipressen zu können. Kurz nach den schockierenden Ereignissen gab es von vielen westlichen Staaten Solidaritätsbekundungen, inklusive Deutschland. Doch es gibt seither auch Reaktionen die ob ihres unverstellten Judenhasses schier entsetzten oder wegen ihrer Gleichgültigkeit und Relativierung der Massaker befremdeten. Islamistische Gruppen und mit ihnen sympathisierende Personen, wie zum Beispiel der Verein Samidoun in Berlin, verteilten zur Feier des Tages Süßigkeiten auf der Berliner Sonnenallee, der berühmten, inzwischen weitgehend arabisch bewohnten Straße im Stadtteil Neukölln. Oder sie hatten gegenüber Journalisten keine Scheu, ihrer Freude über den Terror Ausdruck zu verleihen. Antisemitische Vorfälle sind sprunghaft angestiegen, weltweit kommt es von Hamas-Unterstützern zu Demonstrationen, an denen sich ebenso Personen aus dem linken Spektrum beteiligen – auch in Deutschland.

 

Befremdliche Reaktionen in woken Blasen

Relativierende Reaktionen kamen ebenfalls von Autorinnen, Influencern aus linken, antirassistischen, queerfeministischen Blasen, darunter prominente Namen wie Jasmina Kuhnke oder Emilia Zenzile Roig. Der für öffentlich-rechtliche Sender tätige Journalist Malcolm Ohanwe brachte es mit seinen Sympathiebekundungen für die Hamas auf Twitter so weit, dass sich seine bisherigen Auftraggeber, der Kultursender Arte und der Bayrische Rundfunk, genötigt sahen, die Zusammenarbeit mit ihm zu beenden. All die Genannten setzten auf ihren Kanälen Statements in die Welt, in denen sie suggerieren, Israel trage die eigentliche Schuld am Morden der Hamas, oder „aber die armen Menschen in Gaza“ dagegen halten. Andere schweigen, die sich ansonsten zu allem äußern, bis ihre Tastatur glüht, wenn es im Entferntesten um Diskriminierung geht.

Screenshot von Emilia Zenzile Roigs Instagram-Account.

Unter denen, die sich äußerten, waren auch dezidiert queere Akteure. Das Partykollektiv „Room for Resistance“ hat den Aufruf von Samidoun geteilt, der den Terror unterstützt. Die Journalistin Anastasia Tikhomirova sagte dazu im Deutschlandfunk am 11. Oktober: “Das queere Kollektiv wäre das erste, was von der Hamas ebenfalls abgeschlachtet würde, das muss man leider so sagen und dennoch besteht ein komplettes Unverständnis ihrer Ideologie und eine Unterstützung dieses Terrors.“ Die österreichische Influencerin Chiara Seidl, die auf ihrem Instagram-Account „radikalbehindert“ gegen Ableismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit zu Felde zieht, teilte in ihrer Story eine Grafik von Ayesha Khan, in der Hamas-Terroristen stilisiert dargestellt werden, die als Paraglider das Musikfestival aus der Luft angriffen. Als Text stand zu lesen: „This is what decolonization looks like. This is what a revolution takes. This is what land defense means.”

Der von Chiara Seidl geteilte Beitrag

Auswirkungen der Postcolonial Studies

Das Massakrieren von friedlichen Festivalgästen wird also als Projekt, als „decolonization“ und „revolution“ verbrämt. Beziehungsweise verdeutlicht: So stellen sich gewisse Aktivistinnen und Aktivisten die Dekolonisierung vor. Angemerkt sei noch, dass Seidl ansonsten viele Bilderstrecken anfertigt, wo sie sich als besonders sensibel für (vermeintlich) diskriminierende Sprache geriert. Diese Verharmlosung von Terrorakten scheint der sonst so woken Aktivistin jedoch egal zu sein. Damit befinden sich Seidl und andere jedoch in bester Gesellschaft, denn auch die Queer-Ikone Judith Butler meldete sich nun zu Wort. Sie verurteilte den Terror der Hamas zwar pflichtschuldig, aber nur, um doch schnell wieder „auf die alte Kritik an Israels Palästinenserpolitik zurückzulenken“, wie Thomas Schmidt in der Zeit schrieb. Butler will den Konflikt „kontextualisieren“, was bedeutet, von 70 Jahre währender Unterdrückung der Palästinenser zu schwadronieren und eine israelische „Ur-Schuld“ zu konstruieren. Israel sei ein Apartheidstaat und so solle man auch jetzt nicht für diesen Partei ergreifen. Schmidt übersetzte es passend mit: „Zwanghaft läuft diese Redeweise wieder auf einen ganz alten Topos hinaus: Am Ende sind die Juden wieder selbst an ihrer Vernichtung schuld.“

Diese Verbreitung von solchen Denkschablonen ist ein Resultat der in den Geistes- und Sozialwissenschaften populären Postcolonial Studies, in denen Israel als kolonialer und rassistischer Staat verleumdet wird. Diese Schlagseite ist auch in Roigs Instagram-Beitrag, insbesondere durch einige der Hashtags erkennbar. Aktivistisch wurde das durch die Kampagne „Boycott, Divestment, Sanctions“ (BDS) in Academia, Bildungsarbeit und Kulturbetrieb gebracht – auch in die queere Szene. Die Befürwortung des Hamas-Terrors durch das Partykollektiv „Room for Resistance“ ist kein Einzelfall. Seit Jahren schon gibt es immer wieder antisemitische Vorfälle auch aus dem queeren Spektrum, etwa auf dem Kreuzberger CSD, der immer wieder seinen Namen änderte und zuletzt unter der Bezeichnung „Internationalist Queer Pride“ marschierte. Dieser CSD war immer eine Parade, die größtmögliche Distanz zum sogenannten „kommerziellen“ CSD rund um die Berliner Siegessäule wahren wollte. Aus der diesjährigen Demo tönte es „From the river to the sea – Palestine will be free“ – ein Slogan, der die Tilgung Israels von der Landkarte herbeiwünscht. Auch einige Jahre früher, 2016 zum Beispiel, versammelten sich Aktivisten der Gruppe „Berlin Against Pinkwashing“ für eine Störaktion auf dem queeren Motzstraßenfest vor dem Stand der israelischen Botschaft und brüllten Slogans wie „No Pride in Israeli Apartheid!“.

 

„Pinkwashing“ als Vorwurf gegen Israel

Der Begriff des „Pinkwashings“ ist international in queeren Kreisen verbreitet. Damit wird Israel vorgeworfen, dass dieser Staat LGBT nur deshalb gesellschaftlich und rechtlich anerkenne, um Menschenrechtsverletzungen in den palästinensischen Gebieten zu verdecken. Hingegen wird von solchen queeren Aktivisten über die Menschenrechtssituation in den arabischen Staaten auffallend geschwiegen. Denn sonst müsste man über Schwule reden, die aus Angst vor Verfolgung und auch Ermordung durch die eigene Familie aus dem Westjordanland oder dem Gazastreifen nach Israel fliehen. In den arabischen Nachbarstaaten von Israel verschlechtert sich die schon bisher prekäre Lage für LGBT weiter, wie erst unlängst berichtet wurde. Im bisher verhältnismäßig toleranten Libanon beispielsweise forderte Hassan Nasrallah, Anführer der dort wirksamen islamistischen Hisbollah, für homosexuelle Menschen die Todesstrafe einzuführen. Umso unverständlicher ist die Agitation gegen Israel, den einzigen liberalen demokratischen Staat im Nahen Osten von Gruppen wie „Berlin Against Pinkwashing“ oder „Queers for Palestine“.  Besonders grotesk aber ist es, wenn queere Akteure islamistischen Terror verharmlosen oder gar bejubeln. Sie drücken quasi ihre künftigen Mörder an die Brust. So deprimierend die Lage ist, so bleibt dennoch zu hoffen, dass nun viele Menschen zur Besinnung kommen und sich von den zerstörerischen, vergifteten Inhalten befreien, die durch verquere Theorien hineingekommen sind.

 

Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus in intersektionalen Theorieansätzen siehe auch folgenden Essay aus dem Jahrbuch Sexualitäten 2021: Monty Ott: Übersetzungsfehler oder Ausdruck deutscher Erinnerungsabwehr? (Queere) Jüd:innen als lebender Widersprüche zu intersektionaler Analyse in Deutschland.

 

Andere Leseempfehlungen:

  • Vojin Saša Vukadinović (Hg.): Freiheit ist keine Metapher. Antisemitismus, Migration, Rassismus, Religionskritik, Berlin: Querverlag 2018.
  • Patsy l’Amour laLove (Hg.): Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten, Berlin: Querverlag 2017.
  • Robin Forstenhäusler, Katrin Henkelmann, Jan Rickermann, Hagen Schneider, Andreas Stahl, Ingo Elbe (Hg.): Probleme des Antirassismus. Postkoloniale Studien, Critical Whiteness und Intersektionalitätsforschung in der Kritik, Berlin: Edition Tiamat 2022.

 


Der Gesetzesentwurf, mit dem kaum jemand glücklich ist

Der Entwurf für Selbstbestimmungsgesetz wurde vom Bundeskabinett nach mehreren gescheiterten Anläufen auf den Weg gebracht. Vielen queeren Aktivist*innen geht das Gesetz nicht weit genug, sie fordern Nachbesserungen. Andere Kritiker*innen halten das Vorhaben gesellschaftspolitisch für zu früh, es fehle die mehrheitliche Billigung durch Liberal-Konservative.


Foto von Tingey Injury Law Firm auf Unsplash


29. August 2023 | Till Randolf Amelung

Mit Spannung richtete die queere Community am  Mittwoch vor einer Woche den Blick nach Berlin, ob es an diesem Tag zur Billigung des Entwurfs für ein Selbstbestimmungsgesetz durch das Bundeskabinett kommen würde. Nachdem zuvor viele Termine nicht gehalten wurden, hat es dieses Mal geklappt. Nun ist dieser Gesetzesentwurf, der das über 40 Jahre alte Transsexuellengesetz ersetzen soll, bereit für den nächsten Schritt, der ersten Lesung im Bundestag.

 

Queere Kritik am Entwurf

Während sich die Ampel-Koalitionäre für ihre Arbeit selbst auf die Schulter klopfen, kommt aus der transaktivistischen und queeren Ecke teils heftige Kritik. So schreibt Janka Kluge, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti e.V.), auf X (vormals Twitter): „Heute ist ein bitterer Tag für mich. Seit Jahren setze ich mich öffentlich für das #Selbstbestimmungsgesetz ein. Heute wird der Gesetzesentwurf im Kabinett beraten und wahrscheinlich beschlossen. Den Entwurf lehne ich entschieden ab. Dafür habe ich mich nicht eingesetzt.“

Eine von Anne Wizorek, Netzfeministin der ersten Stunde, und Daniela Antons gestartete Petition mit dem Titel „Diskriminierung & Misstrauen raus aus dem Selbstbestimmungsgesetz!“ kritisiert ebenfalls, dass „Vorurteile, Hass und Hetze im aktuellen Gesetzesentwurf zementiert“ würden und fordert die Berücksichtigung der Einwände von Trans- und Interverbänden. Besonders kritisiert werden die Ermöglichung von Ausschlüssen über das Hausrecht und die Vertragsfreiheit, die dreimonatige Karenzzeit bis zum Wirksamwerden der Änderung, die Informationsweitergabe an Ermittlungsbehörden für deren Überprüfung ihrer Daten, die Aussetzung der Anwendung im Kriegsfall sowie der Ausschluss von Migranten ohne Bleibeperspektive. Außerdem fordern sie, dass eine Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags ohne Einschränkung bereits ab dem 14. Lebensjahr möglich sein sollen. Eigenen Angaben zufolge, haben bereits über „330 feministische Autor*innen, Creator*innen, Jurist*innen, sowie Vertreter*innen u.a. aus queeren Vereinen, Frauenverbänden, Frauenhäusern, der Frauen-, Mädchen- und Gleichstellungsarbeit“ diese Petition unterzeichnet. Auch DIE LINKE.queer wirft der Ampelkoalition vor, „das Selbstbestimmungsgesetz bis zur Unkenntlichkeit“ entstellt zu haben und kritisiert, dass „vom Ursprungsgedanken weitgehender geschlechtlicher Selbstbestimmung nicht einmal mehr das blanke Minimum übrig“ bleibe. Ferda Ataman, Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, kritisierte die enthaltenen Einschränkungen ebenfalls, denn sie seien geeignet, „Diskriminierungen zu begünstigen und Vorurteile zu bestärken“.

 

Fehlende Zustimmung der Union

Dagegen sieht taz-Redakteur und IQN-Vorstand Jan Feddersen dieses Gesetzesvorhaben als nicht zu Ende verhandelt mit den Liberal-Konservativen, insbesondere der Union. Deniz Yücel nimmt eine ähnliche Position ein und schreibt in der WELT, dass er dieses Vorhaben für zu früh kommend hält. „Dieses Gesetz im kulturkämpferischen Handgemenge statt im größtmöglichen Konsens zu beschließen“ gefährde Yücel zufolge „die Anerkennung transgeschlechtlicher Identitäten“. Feddersen warnte in diesem Sinne bereits vor einem Jahr in der taz, dass dieses Gesetzesvorhaben der Akzeptanz von Transpersonen einen Bärendienst erweisen könnte. Bis heute gab es zudem keine seriöse Rechtsfolgenabschätzung, ebenso wenig wie eine gesellschaftliche Verständigung darüber, ob das biologische Geschlecht noch Relevanz besitzt und wenn ja, in welchen Situationen.

 

Geschlecht im Sport und in amtlichen Registern

Zuletzt haben mehrere internationale Sportverbände diese Relevanz zumindest für den Wettkampfsport im Hochleistungsbereich beantwortet und für ihre Frauensparten explizit festgelegt, dass sich in diesen Wettkämpfen nur biologische Frauen miteinander messen dürfen. Ausnahmen werden nur für Transfrauen gemacht, die keine körperlich-männliche Pubertät durchlaufen haben.  Der Weltschwimmverband hat zudem begonnen, eine neue Wettkampfkategorie zu erproben, in der alle mitmachen können, unabhängig ihres biologischen Geschlechts. Parallel dazu soll es weitere Forschung dazu geben, wie und wann körperliche Unterschiede zwischen Trans und Cis im Sport relevant sind und wie Inklusion unter Berücksichtigung solcher Differenzen gestaltet werden kann. Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung hat in der gegenwärtigen Situation zumindest die einzig mögliche Lösung gewählt und solche Regularien der Autonomie der Sportverbände überlassen.

Realitätsfern wirken allerdings die Einwände der Kritiker*innen am Entwurf gegen die Informationsweitergabe an Sicherheitsbehörden. Schon heute mit dem TSG ist es so, dass Behörden über die vorgenommene Änderung informiert werden. Es war unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten nie eine realistische Option, dass Transpersonen nach einer Vornamens- und Personenstandsänderung in den Registern zu unbeschriebenen Blättern werden.

 

Kehrtwende im Ausland

Besonders problematisch an den Forderungen der Petition ist jedoch, Minderjährige ab 14 Jahren die Änderungen zu den gleichen Konditionen ermöglichen zu wollen, wie Volljährigen. Dabei kann man bis zur Volljährigkeit nicht mal ohne Unterschrift der Eltern an Klassenfahrten teilnehmen. Bedenklicher ist daran aber, dass der sogenannte gender-affirmative Ansatz im Ausland gerade bei Minderjährigen ins Kreuzfeuer geraten ist. In Großbritannien erregte der Fall der Detransitioniererin Keira Bell großes Aufsehen, ein Gerichtsurteil von 2020 hatte mittelfristig zur Folge, dass der nationale Gesundheitsservice NHS die Qualität des eigenen Behandlungsangebots unabhängig prüfen ließ. In den USA erließen republikanisch geführte Bundesstaaten gar Verbote für geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Minderjährigen. „Gender-affirmativ“ meint, dass die Selbstäußerung über die Geschlechtsidentität von Beginn an mit Ermöglichung einer frühen sozialen Transition, zu der auch Änderungen des Vornamens und Geschlechtseintrags zählt, sowie frühstmöglichen medizinischen Maßnahmen unterstützt wird. Parallel dazu wird eine umfassende Diagnostik und psychotherapeutische Exploration von vielen Transaktivisten als „Gatekeeping“ abgelehnt. Mehrere Untersuchungen haben diesem Ansatz eine schwache Evidenzbasis bescheinigt. Zudem wurde in Ländern wie den USA, Großbritannien oder Schweden sichtbar, dass Minderjährige mit komplexen psychischen Problemlagen keine adäquate Unterstützung bekamen, was dann in einigen Fällen ein paar Jahre später zu Reue oder auch Detransitionen führte.

Einige Länder änderten mittlerweile ihren Kurs bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie. In Großbritannien beschränkt der NHS den Einsatz von Pubertätsblocker auf Studien, ebenso Schweden.  Sogar in den USA will die dortige Fachgesellschaft für Pädiatrie die Evidenz des gender-affirmativen Ansatzes prüfen lassen, obwohl man diesen nach wie vor unterstütze. Angesichts dieser Entwicklungen sind Forderungen unverantwortlich, Minderjährige in solchen Fragen wie Erwachsene behandeln zu wollen.  Damit leistet man der Entwicklung Vorschub, dass sich folgende Prophezeiung Yücels erfüllen könnte: „Doch vielleicht wird man manche Aspekte des heutigen Transgender-Diskurses ähnlich bewerten, wie in der Rückschau auch die Beteiligten auf die Idee mit der ‚freien Liebe‘ der Sechziger- oder auf die Pädophilie-Debatte der Siebzigerjahre blicken: als Punkt, an dem der Wunsch nach sexueller Emanzipation übers Ziel hinausschoss.“


Die Verbannung der CDU/CSU vom CSD – richtig so?

Wir als IQN haben mit dem Umbau begonnen. Diese Website enthält ab sofort auch aktuelle Kommentare, Analysen zu den gegenwärtigen Politiken und Kulturen der queeren Communities. Der Auftakt: ein Kommentar zu den Aus- und Eingrenzungen bei CSDs – aktuell in Hamburg.


CSD Hamburg 2022, eine Menschenmenge umringt einen der Paradewagen, der mit bunten Luftballons in Regenbogenfarben dekoriert ist.

CSD Hamburg 2022 – kein Wagen der CDU, Foto von Lukas S auf Unsplash


5. August 2023| Till Randolf Amelung

CSDs waren, als sie 1979 erstmals in der Bundesrepublik ausgerichtet wurden, überparteilich. Zwar deutlich links, grün-bunt-alternativ vom Schwerpunkt her,  aber das ging auch nicht anders: Schwule und Lesben der etablierten Parteien SPD, CDU/CSU und FDP hatten gerade erst begonnen, sich wenigstens innerparteilich zu formieren. Auch sie hätten dabei sein dürfen, wenn sie denn im Grundsatz mit den Zielen der gesellschaftlichen Gleichstellung einverstanden gewesen waren. In keiner Parteienentwicklung drückt sich der Wandel der Bundesrepublik diesbezüglich besser aus, als in den Unionsparteien, in der es heute auch offen Schwule wie Jens Spahn in der Bundespolitik geben kann.

 

Die CSU und die Drag-Lesung

Nun aber gab es Ärger. Zuerst wurde in München die CSU von der Pride-Parade ausgeschlossen, kürzlich die große Schwesterpartei CDU in Hamburg: die Teilnahme mit eigenen Wagen  am CSD  wurde verwehrt. In beiden Städten begründeten die CSD-Organisatoren die Ausladungen mit Handlungen und Äußerungen aus den Unionsparteien, die Zweifel an der Verträglichkeit mit queerpolitischen Zielen aufkommen ließen. Politiker aus der CSU positionierten sich gegen eine Drag-Lesung, die Anfang Juni in der Stadtbibliothek München-Bogenhausen stattfand und warfen der Veranstaltung „Frühsexualisierung“ vor, weil einer der vorlesenden Künstler mit seinem Drag-Namen „Eric BigClit“ angekündigt wurde. Die Aufregung wirkte etwas grotesk, vermisste man einen ähnlichen Furor, wenn es um Fälle sexuellen Missbrauchs in katholischen und evangelischen Kirchen ging. Es fallen einem sicherlich mehr Drag Queens und Kings ein, denen man Kinder anvertrauen möchte, als katholische Geistliche.

 

Transkind und BDSM

Völlig übersehen wurde dafür der bedenkliche Hintergrund des Transmädchens Julana Gleisenberg, die ebenfalls vorlesen sollte, dann aber aus Sicherheitsgründen absagte. Die heute dreizehnjährige Julana, die biologisch männlich zur Welt kam, hatte sich im Alter von neun Jahren als trans geoutet. Wenig später wurde sie schon als Kinderbotschafterin einer neu gegründeten Stiftung eingesetzt und brachte mit Hilfe ihrer Eltern ein autobiografisches Buch heraus. Mittlerweile erhält Julana auch Pubertätsblocker, die eine männliche Pubertät verhindern sollen. Es wirkt, als solle Julana das deutsche Äquivalent zu Jazz Jennings werden, ein Transmädchen, deren Geschichte in einer Reality-TV-Serie über mehrere Jahre im US-amerikanischen Fernsehen vermarktet wurde. Gleisenbergs Eltern haben zudem die Transkind-Thematik offensiv zusammen mit ihrem Engagement für BDSM-Lebensweisen verknüpft, bei der Elemente von BDSM auch im Alltag eine Rolle spielen. Das Fass zum Überlaufen brachte in München jedoch der Besuch einer CSU-Delegation beim republikanischen Gouverneur des US-Bundesstaats Florida, Ron DeSantis, der mit LGBTI-feindlichen Gesetzen von sich reden machte. Die Münchener CSD-Organisatoren warfen der CSU vor, sich nicht von den Beteiligten der Delegation und DeSantis absolut ablehnender Haltung zu LGBTI zu distanzieren.

 

Gendern und Selbstbestimmungsgesetz

Gründe für die Ausladung in Hamburg hingegen, waren vor allem die Beteiligung der hiesigen CDU an der Bürgerinitiative „Schluss mit Gendersprache in Verwaltung und Bildung“, die per Volksbegehren das Gendern mit Sonderzeichen in Behörden und Bildungseinrichtungen verbieten lassen will  und die Ablehnung des Selbstbestimmungsgesetzes. Die diesjährige Pride-Parade steht unter dem Motto „Selbstbestimmung jetzt! Verbündet gegen Trans*Feindlichkeit“. So ist durchaus nachvollziehbar, warum unter diesem Motto eine CDU als Teilnehmerin an der Parade kontraproduktiv für die Glaubwürdigkeit des Veranstalters wäre.

Der Umgang mit der CDU zeigt allerdings gerade bei diesen beiden Themen, wie der queere Aktivismus insgesamt einen Diskurskorridor kreieren will, der enger als eine Schießscharte ist. Dieser Aktivismus verunmöglicht es so, sich im übergeordneten Ziel der Gleichstellung queerer Menschen zusammenfinden zu können und dabei verschiedener Ansicht zu sein, wie das zu erreichen ist. Es beraubt den CSD seines integrativen Potenzials. Denn was hätte es gekostet, den CDU-Wagen zu tolerieren, selbst im Wissen, dass die Hamburger Abteilung der Partei nicht mit allen Maximalforderungen der LGBTI-Bewegung übereinstimmen möchte?

Dabei wäre eine integrierende Geste der CDU gegenüber ohnehin geboten gewesen: Die neuen Sprachcodes (Sternchen, Unterstrich, Doppelpunkt inkl. Klicklaut) sind ja keineswegs unumstritten. Im Gegenteil! Zur Erläuterung: Wenn vom sogenannten Gendern die Rede ist, sind Schreibweisen gemeint, die ein Sternchen, einen Unterstrich oder inzwischen auch einen Doppelpunkt verwenden. Damit sollen Geschlechtsidentitäten jenseits der Zweigeschlechtlichkeit sichtbar gemacht werden. Zugleich verweisen diese Sonderzeichen darauf, dass sich bis heute keine Schreib- und Sprechweise durchgesetzt und es in das anerkannte Regelwerk der deutschen Sprache geschafft hat, die sprachlich mehr als zwei Geschlechter abbildet. Im Juli diesen Jahres kam der Rat für deutsche Rechtschreibung im belgischen Eupen zusammen und beschloss, diese Sonderzeichen nicht in das offizielle Regelwerk aufzunehmen und stattdessen die Entwicklung weiter zu beobachten. In weiten Teilen der Bevölkerung aber, scheint es um die Akzeptanz für das Gendern mit Sonderzeichen eher schlecht bestellt zu sein. Mehrere Umfragen zeigten inzwischen, dass weit mehr als die Hälfte der Befragten diese Formen inklusive der gesprochenen Sprechpause ablehnen. Diese Umfragen zeigten aber auch, dass dies nicht gleichbedeutend mit einer generellen Ablehnung von Geschlechtersensibilität im Sprachgebrauch ist.

Beim Selbstbestimmungsgesetz, was das als veraltet geltende Transsexuellengesetz ablösen soll, ist es ebenfalls zu einfach die CDU zum Sündenbock dafür zu erklären, dass dieses Vorhaben der regierenden Ampelparteien nicht so recht vom Fleck kommt. Ein Kabinettsbeschluss vor der parlamentarischen Sommerpause scheiterte am Bundesinnenministerium aufgrund von Bedenken des Bundeskriminalamtes, Kriminellen könne die Verschleierung ihrer Identität zu leicht gemacht werden. Kern der geplanten Gesetzesnovelle ist die voraussetzungslose Änderungsmöglichkeit des amtlichen Geschlechtseintrags. Dagegen jedoch gibt es aus verschiedenen Ecken Kritik, auch von Personen, die formal zur LGBTI-Community gezählt werden können – zum Beispiel vom Autor dieser Zeilen. Mit der bisherigen Historie an gerissenen Deadlines ist es längst fraglich, ob es der Entwurf für ein Selbstbestimmungsgesetz in der bisher vorliegenden Form überhaupt unverändert durch alle Stationen des Gesetzgebungsverfahrens schafft. Die Zustimmung in der Bevölkerung für eine Lösung, die ganz ohne Sicherstellung auskommen will, dass nur die Personenkreise davon Gebrauch machen, für die es gedacht hat, dürfte eher gering ausfallen. Wahrscheinlich würde eine Umfrage dazu ähnliche Werte wie für das Gendern mit Sonderzeichen erzielen. Zuletzt zeigten Wahlen in Ländern wie Finnland und Spanien, in denen linke Regierungskoalitionen kürzlich eine vergleichbare Regelung beschlossen haben, dass dies nicht dabei hilft, Wahlen erneut zu gewinnen. In Großbritannien ändert nun die Labour-Partei ihre Haltung zu einem Selbstbestimmungsgesetz, indem sie davon abrückt.

 

Lehren aus der „Ehe für alle“

Es gäbe also Anlässe genug, den Raum für eine sachliche und differenzierte Auseinandersetzung über die beiden Themen „Gendern“ und „Selbstbestimmungsgesetz“ zu ermöglichen. Der Hamburger CSD hat sich hier anders entschieden. Dabei sollte man die Lehren aus der 2017 erfolgreich verabschiedeten „Ehe für alle“ ernst nehmen. Diese war dann erst gesetzlich durchsetzbar, als weite Teile der Bevölkerung dem positiv gegenüber standen, was sich auch in der CDU dadurch ausdrückte, dass sich wichtige Parteimitglieder dafür aussprachen. So kam es am 30. Juni 2017 zu dem inzwischen legendären Erfolg der entscheidenden Abstimmung im Bundestag, bei der die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel den Fraktionszwang aufhob – und selbst als Abgeordnete dagegen stimmte. In puncto Selbstbestimmungsgesetz ist eine ähnliche gesellschaftliche Stimmungslage nicht wahrnehmbar. Was aber ist für Transpersonen gewonnen, wenn eine gesetzliche Regelung und deren Ergebnisse nicht anerkannt werden? Ohne die Zustimmung der Union jedenfalls, ist kein nachhaltiger Wandel in Deutschland zu erzielen.

 

Till Randolf Amelung ist seit August 2023 Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Ansonsten ist er freier Autor mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen. Texte von ihm erschienen in wissenschaftlichen Sammelbänden, darunter das Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze). In Medien wie der Jungle World, ZEIT Online, dem Schweizer Monat und der Siegessäule veröffentlichte er ebenfalls. 2020 erschien im Querverlag sein Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik; 2022 sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.

Transparenzhinweis für diesen Beitrag: Der Autor ist Mitglied der LSU – Lesben und Schwule in der Union, jedoch kein Parteimitglied der CDU.


Unbeantwortete Fragen im schwulen Raum

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Selbstbestimmungsgesetz: Wird der Bademeister zum Gutachter?

Die Ampel-Koalition hat ihren Entwurf zum neuen Selbstbestimmungsgesetz vorgelegt. Seither ist offener Streit über den Inhalt entbrannt. Doch was steht da eigentlich wirklich drin und was hat es zu bedeuten? Für Queer Nations hat sich Till Randolf Amelung, Autor im Jahrbuch Sexualitäten, den Entwurf genauer angeschaut. Darf der Bademeister zukünftig wirklich in die Hose gucken? Einige Antworten auf häufige Fragen.



Von Till Randolf Amelung

Queer Nations, 05.05.2023 | Nun ist er also doch noch gekommen – der Entwurf für das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz, mit dem das in die Jahre gekommene Transsexuellengesetz (TSG) abgelöst werden soll. Nachdem bereits mehrere Termine nicht gehalten werden konnten und der Unmut in der queeren Community immer lauter wurde, gaben Familienministerin Paus (B’90/GRÜNE) und Justizminister Buschmann (FDP) am letzten April-Freitag den Entwurf an die Presse. Die Inhalte des Entwurfs haben sich im Grundsatz von den im vergangenen Juli präsentierten Eckpunkten entfernt.

Kern der anvisierten Reform ist die Streichung jedweder Nachweispflichten, der reine, unhinterfragte Sprechakt im Standesamt soll künftig für die Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags genügen. Im Gegensatz dazu setzt das TSG bis heute zwei unabhängige Sachverständigengutachten voraus.

 

Klagen gegen Begutachtung erfolglos

Während bereits mehrere Bestimmungen im TSG durch das Bundesverfassungsgericht außer Kraft gesetzt wurden, zuletzt 2011 der Nachweis von Fortpflanzungsunfähigkeit und weitmöglicher operativer Angleichung, waren Klagen gegen die Gutachten bislang erfolglos. Zum Preis der Begutachtung ermöglichte das TSG rechtlich eine sehr weitreichende Gleichstellung. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz soll diese Vorgabe nun ersatzlos entfallen.

Seit der Bekanntgabe dieser Reformpläne gibt es daran insbesondere von Radikalfeministinnen scharfe Kritik, die geplante Regelung ermögliche Missbrauch und schaffe Konflikte in Bereichen, die nach dem biologischen Geschlecht getrennt sind. Zum Jahreswechsel 2022/23 ließ Buschmann erstmals in einem Interview verlauten, dass die Arbeit an einem Gesetzesentwurf noch andauere, da man es privaten Betreibern weiterhin ermöglichen wolle, in bestimmten Situationen über das Hausrecht auf das biologische Geschlecht abzustellen, wie zum Beispiel in einer Frauen-Sauna. Familienministerin Paus verkündete hingegen, das Selbstbestimmungsgesetz solle noch vor der Sommerpause verabschiedet werden.

Während ein Veröffentlichungstermin für einen Entwurf immer wieder verschoben wurde, ließen sich Differenzen zwischen den beiden Häusern nicht mehr übersehen und wurden in den letztlich doch veröffentlichten Entwurf hineingeschrieben. Mindestens eines der beiden beteiligten Ministerien ist von der reinen Sprechakt-Lehre offenbar abgerückt.

 

Begutachtungskompetenz für den Bademeister?

So soll dem Entwurf zufolge zwar volljährigen Menschen grundsätzlich eine Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags ermöglicht werden – ohne Nachweis, ob man tatsächlich zu dem Personenkreis gehört, für den das Gesetz gedacht ist –, aber es wurden Ausnahmen formuliert.

Im Spannungs- und Kriegsfall soll das Gesetz bei biologisch männlichen Personen nicht zur Anwendung kommen, um zu verhindern, dass sich wehrfähige Männer dem Heldentod fürs Vaterland entziehen. Bei Quotenregelungen für die Besetzung von Vorständen soll der Geschlechtseintrag bindend sein, der zum Zeitpunkt der Besetzung in der Geburtsurkunde aktuell ist. Der Hausrechtverweis bei strittigen Zugangsforderungen zu Frauenräumen ist ebenfalls hineingeschrieben worden. Somit würde sich künftig die Begutachtungskompetenz von Psychologen und Sexualmedizinern hin zu Bademeistern und Kreiswehrersatzämtern verlagern. Diskriminierungen sind dabei ebenfalls nicht auszuschließen.

 

Missbrauch als Einzelfälle abgetan

Der Entwurf wollte zwei Pferde gleichzeitig reiten: Transaktivisten die geforderte Reform geben und Sicherheitsbedenken von Frauen begegnen. Regelungen zur Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag für Transpersonen ohne Nachweispflicht gelten seit den Yogyakarta-Prinzipien von 2007 als Goldstandard. Verweis auf Missbrauchsrisiken mit Fallbeispielen werden als Einzelfälle abgetan. Vor einigen Jahren gab Menschenrechtsexperte Robert Wintemute, der 2007 ebenfalls in Yogyakarta an den Prinzipien mitwirkte, gegenüber einem radikalfeministischen Blog zu, dass mögliche Konflikte mit Rechten von Frauen damals überhaupt keine Rolle spielten.

Welchen Sprengstoff schwierige bis missbräuchliche Fälle gerade in sensiblen Bereichen bergen können, musste unlängst die zurückgetretene schottische Ministerin Nicola Sturgeon erfahren, als sie auch über den Fall Isla Bryson stolperte. Bryson wurde wegen sexueller Gewaltdelikte zu einer Haftstrafe verurteilt und wollte mutmaßlich mit einem Coming out als Trans der Unterbringung im Männerstrafvollzug zu entgehen. Auch die Grünen waren auf der kommunalen Ebene mit einem Parteimitglied konfrontiert, welches sich zur Frau erklärte, offenbar um gegen die geschlechterpolitischen Regelungen der Partei zu agitieren. Der Fall landete vor dem Bundesschiedsgericht der Grünen, welches entschied, dass die Äußerung über die Geschlechtszugehörigkeit Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit voraussetze. Wie und durch wen das festgestellt werden soll, blieb offen.

 

Uneinsichtigkeit der Aktivisten gefährdet Offenheit

Ein Verfahren zur Änderung des Geschlechtseintrags ganz ohne Nachweis haben zu wollen, ist vermessen, vergleicht man es mit anderen Regelungen. Für den Erhalt eines Schwerbehinderten-Status‘ muss ebenfalls nachgewiesen werden, ob man die Kriterien erfüllt. Auch die Annahme einer anderen Staatsbürgerschaft ist mit Auflagen verbunden. Staat und Gesellschaft haben ein berechtigtes Interesse daran, das Gemeinwohl zu schützen und den gesellschaftlichen Frieden zu wahren. Dazu gehört auch die Sicherstellung, dass nur dazu berechtigte Personenkreise eine Regelung nutzen.

Bisher war die Gesellschaft offen für Regelungen, die es Transpersonen nicht unzumutbar schwer machen, aber zugleich eben nicht naiv gegenüber Missbrauch sind. Durch die verkorkste Umgangsweise der Politik und die Uneinsichtigkeit der Aktivisten könnte aber auch diese Offenheit schwinden. Das wäre ein gewaltiger Rückschritt, den doch eigentlich niemand wollen kann.

Ebenso sollte anerkannt werden, dass das biologische Geschlecht für die meisten Menschen nach wie vor eine relevante Tatsache ist, die nicht durch reine Sprechakte obsolet wird. Hier gilt es einerseits, bisherige Gesetze zu überprüfen, wo bislang das biologische Geschlecht zugrunde liegt, inwieweit das weiterhin erforderlich ist und dies andernfalls zu ändern. Andererseits wird nicht alles per Gesetz regelbar sein, sondern von allen Beteiligten Empathie, Toleranz und gegenseitige Rücksichtnahme erfordern – auch seitens der Aktivisten. Wer als Teil der Gesellschaft anerkannt werden will, darf nicht nur um den eigenen Bauchnabel kreisen. |


Till Randolf Amelung ist freier Autor mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen. Texte von ihm erschienen in wissenschaftlichen Sammelbänden, darunter das Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze). In Medien wie der Jungle World, ZEIT Online, dem Schweizer Monat und der Siegessäule veröffentlichte er ebenfalls. 2020 erschien im Querverlag sein Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik; 2022 sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.

Till Randolf Amelung auf Twitter: https://twitter.com/TillRandolf


Titelbild: Unsplash/Kenny Eliason



Kampf um den Leib – Über Stephan Wackwitz‘ „Unsere intellektuellen Körper“

Im Jahrbuch Sexualitäten 2022 dachte Stephan Wackwitz in einem Essay anhand von Büchern über und von Susan Sonntag über das Spannungsfeld von Körperlichkeit und Intellektualität nach. Ute Cohen hat den Text für queernations.de Premiere gelesen und besprochen. Weiterlesen


Kreisch – damals und heute | Emily Lau zu Texten des Jahrbuchs Sexualitäten 2022

Kein Jahrbuch Sexualitäten ohne Miniaturen, den gleichermaßen persönlichen wie engagierten Auseinandersetzungen mit aktuellen Themen der queeren Welt. Weiterlesen


Sommerfrisch und bereit für Neues: Was wir in den nächsten Monaten planen

Noch bringt uns der Hochsommer ins Schwitzen, doch wir planen bereits eine Vielzahl an Veranstaltungen für den Spätsommer und Herbst. Zeit für ein Update.


Foto: Unsplash/Raphael Renter


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Queer.de und das Scheitern von E2H: Provinziell geht in Berlin immer

Ein Beitrag der Online-Illustrierten Queer.de versucht das Scheitern des Berliner Projekts Queeres Kulturhaus E2H zu beleuchten. Dazu einige Klarstellungen des IQN-Vorstands und E2H-Ideengebers Jan Feddersen.


Foto:Unsplash/Mark König


08.03.22 | Von JAN FEDDERSEN

Bei der Kölner Online-Illustrierten Queer.de wurde Ende 2021 der Text des Berliner Szeneautors Dirk Ludigs veröffentlicht, der sich mit der Geschichte des von uns, der Initiative Queer Nations, ins Leben gerufenen Projekts eines „Queeren Kulturhaus“ (E2H) in Berlin befasst – und vorgibt, die Gründe zu benennen, die zum Scheitern des E2H führten.

Vorangegangen war diesem Text ein Facebook-Posting des Autors dieser Zeilen, der den im späten Herbst 2021 veröffentlichten neuen Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und Linkspartei für die Stadt Berlin charakterisierte. Dass nämlich in diesem Werk  jeder Hinweis auf weitere Planungen zu einem E2H oder gar zu einem „Queeren Archivhaus“ fehlt.

Queerpublizistisches Novum

Tatsächlich nahm dies offenbar Ludigs zum Anlass, über das rot-grün-rot-verblichene Projekt berichten zu wollen: In der queeren Publizistik war dies insofern ein Novum, als weder das Berliner Anzeigenblatt Siegessäule noch andere Medien über E2H auf eine Weise zu reagieren wussten, die wenigsten die angesichts der ausgelobten finanziellen Mittel für E2H objektive Relevanz des Queeren Kulturhauses respektieren: Mit einer Startbudgetierung allein für ein Haus von schätzungsweise 20 Millionen Euro (Stand Ende 2020) war das E2H, in Euro gemessen, der gewichtigste queere Plan der Hauptstadt (und darüber hinaus), wesentlich befördert durch die Senatsbehörde für Kultur und Europa mit Bürgermeister Klaus Lederer (Linkspartei) an der Spitze.

Herausgekommen ist mit Ludigs Text ist ein halbgares bis allenfalls semi-wahres Sammelsurium zum und über das E2H und die Initiative Queer Nations. Man kann Ludigs, der im Rahmen seiner Recherchearbeit den Autor dieser Zeilen immerhin per Mailkorrespondenz anhörte, allerdings zugute halten, dass er Ton und Stil der Online-Illustrierten Queer.de durchaus perfekt getroffen hat. Wer sich mit der Genese der Geschichte des E2H detaillierter auseinandersetzen mag, ziehe das Jahrbuch Sexualitäten 2021 zurate, wo die früheren Vorstandsmitglieder des Queeren-Kulturhaus-Projekts, Peter Obstfelder und der Autor dieser Zeilen, ausführlich mit einer Fülle von Belegen notiert haben (PDF), was die Sache namens E2H war.

Indes, es lohnt sich einige der im Ludigs-Text neu hinzugekommenen Behauptungen genauer zu betrachten:

Zur Sprache kam im Text das alte taz-Haus an der Rudi-Dutschke-Straße 23 und dessen bevorzugte Wahl als mögliches Gebäude für ein Queeres Kulturhaus. Klarzustellen ist hierzu, dass bei einem Kolloqium im Berliner Abgeordnetenhaus mit überwältigender Mehrheit der Projektbeteiligten damals (Lesbenarchiv Spinnboden, Magnus Hirschfeld Gesellschaft, Feministischen Archiv FFBIZ, die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, die Arbeitsstelle für die Kulturgeschichte der Sexualitäten an der Humboldt Universität in Berlin u.a.) entschieden wurde, sich auf das taz Haus als künftigem Standort für ein Queeres Kulturhaus zu verständigen. Die Geschäftsführung sowie die Genossenschaft der taz erklärten sich im Gegenzug bereit, trotz anderer Mietinteressenten an der taz-Immobilie, diese dem queeren Projekt zur Verfügung stellen zu wollen: An jener Abstimmung hat mit Absicht der Autor dieser Zeilen, der auch Mitarbeiter der taz ist, nicht teilgenommen.

Den Leser*innen nicht berichtet

Schlichtweg falsch ist zudem die Behauptung, dass den queeren Archiven keine Zeit eingeräumt wurde, so Ralf Dose von der Magnus Hirschfeld Gesellschaft, im Rahmen der E2H-Förderung durch den Kultursenat etwas zum Ausstellungswesen beizutragen. Tatsächlich oblag es dem E2H-Vorstand, ausweislich der Projektförderung, ein Programm für ein E2H zu entfalten, als existiere ein Queeres Kulturhaus bereits – die queeren Archive hingegen wollten wesentliche Teile der Senatsfördersumme für eigene, nicht ans E2H-Projekt gebundene Pläne. Dies wiederum war gemäß der erlassenen Förderbescheide strikt unzulässig.

Den Leser*innen nicht berichtet wurde im Queer.de-Text, dass die queeren Archive wie auch die Vertreter der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld sich im Koordinationskreis des E2H entweder Arbeitszeit nahmen oder Förderung durch staatliche Stellen beantragten und bewilligt bekamen, um überhaupt an den Koordinierungstreffen teilnehmen zu wollen – mit welchen (anderen) inhaltlichen Begründungen auch immer. Kurz gesagt: Während die ehrenamtlichen Kräfte im Projekt bis zum Ende ihre private Zeit für das E2H aufbrachten, auch und gerade die Vorstandsmitglieder Christiane Härdel, Lily Kreuzer und der Autor dieser Zeilen, ließen sich die sowieso schon alimentierten Beteiligten quasi jede Minute Arbeit am Queeren Kulturhaus bezahlen – nur um das Projekt dann scheitern zu lassen.

Unerwähnt blieb bedauerlicherweise auch – nicht mangels Phantasie, dies wurde Dirk Ludigs ausführlich geschildert –, dass das Queere Kulturhaus, wiederum unterfüttert durch die geldgebende Kulturbehörde, nicht als „Queerer Leuchtturm“ zur Subventionierung ohnehin schlecht strukturierter Archive und Vereine gedacht war, sondern als hauptstädtische Immobilie, die über die aktivistischen Kerne hinaus queere Menschen (und ihre Freund*innen) zu erreichen hatte und zu interessieren suchte. Ein Queeres Kulturhaus – nicht als Futtertrog der ohnehin Subventionsgierigen (oder, je nach Lesart, -bedürftigen), sondern als metropoles Stadtmöbel, das sich über die queeren Szenen der Berliner Provinz hinaus zu profilieren weiß.

Provinziell Gesinntes

Neben diesen Ergänzungen des Faktischen sei eine Stilkritik erlaubt: Insgesamt verblüfft der Text durch sein – in Ermangelung passenderer Begrifflichkeiten – „szeneastisches Gewölk“. Also durch die Unfähigkeit, queeres (mithin: schwules, lesbisches, trans) Leben jenseits der Bubble der kultur-polit-sozialtherapeutischen Szene vorzustellen. In der Tat klingt das Ganze dann wie eine missgünstig formulierte Abrechung im zänkischen Stil – als Bilanz von Querelen innerhalb der aktivistischen Szene(n). Es handelt sich mithin um eine sogenannte Recherche mit queeristischen Politaktivist*innenblüten, beifallheischend im Ton, hämisch im Klang: Provinziell Gesinntes geht offenbar (nicht nur) in Berlin immer.

Die Initiative Queer Nations, die sich 2005 gründete, um, partei- und NGO-fern, das zu ermöglichen, was 2011 die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld werden konnte, muss akzeptieren, dass es für ein Queeres Kulturhaus in Berlin in der aktivistischen Szene keine oder kaum Gewogenheit gab: Man wollte lieber weiter im eigenen Saft vor sich hin gären. Die Chance, sich eine stabile Existenz mit einem 20 Millionen Euro geförderten Projekt zu sichern und, fast wie nebenbei, noch zentraler Bestandteil eines weltweit einzigartigen Kulturorts zu werden, ist vertan. Wahrscheinlich für lange Zeit. Ich als Erster – bedauere das zutiefst. Was ist aus der nicht-heterosexuellen Bewegung Berlins bloß geworden?

Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations. Trotz des hier beschriebenen Unglücks halten er und die anderen Mitglieder des Vorstands der Initiative Queer Nations ausdrücklich weiterhin an der Idee eines queeren Kultur- und Denkortes für Berlin fest.

Besagten Aufsatz über das Scheitern des E2H aus dem jahrbuch Sexualitäten 2021 können Sie hier kostenlos als PDF herunterladen.


Petition: Deutscher Bundestag soll homosexuellen NS-Opfern gedenken

Am 27. Januar 2022 gedenkt der Deutsche Bundestag den Opfern des Nationalsozialismus und einmal mehr wird es keine gesonderte Würdigung für die homosexuellen NS-Opfer geben. Zeit für eine Petition für eine Gedenkstunde im Bundestag an homosexuelle Opfer des Nationalsozialismus.


Ein Gastbeitrag von Lutz van Dijk

Seit dem 15. Januar 2018 bemühen wir uns gemeinsam darum, dass in der jährlichen Gedenkstunde im Bundestag an die Opfer des Nationalsozialismus, die seit 1996 besteht, auch einmal an sexuelle Minderheiten erinnert wird. Dem wurde bislang nicht entsprochen.

Unmittelbar nach ihrer Amtseinführung erneuerten wir unser Anliegen gegenüber der neuen Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in einem Schreiben vom 28. Oktober 2021, das gemeinsam von Henny Engels (Bundesvorstand des LSVD – Lesben- und Schwulenverband Deutschlands) und mir unterzeichnet wurde (siehe PDF hier).

Wir argumentierten für den 27. Januar 2022, da sich dann „zum 150. Mal das Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches [jährt] und damit auch die reichsweite Einführung des § 175 RStGB, der männliche Homosexualität unter Strafe stellte und in einigen deutschen Ländern bereits bestehende liberalere Gesetzgebungen (beispielsweise in Bayern) unwirksam machte.“

Konzeption der Gedenkstunde 2023

Bundestagspräsidentin Bas antwortete am 21. November (zugestellt gestern, am 29. November, siehe unten), dass „die Gedenkstunde des kommenden Jahres… im Kontext des 80. Jahrestages der verbrecherischen Wannsee-Konferenz stehen (wird)…“ und: „In Kürze wird sich das Präsidium des 20. Deutschen Bundestages mit der Konzeption der Gedenkstunde des Jahres 2023 befassen und hierbei insbesondere den Vorschlag einbeziehen, die als Homosexuelle verfolgten und ermordeten Menschen in den Mittelpunkt der Gedenkstunde zu stellen.“ (siehe LSVD-PM hier).

Wir werden alles tun, um Bundestagspräsidentin Bas und alle Mitglieder ihres Präsidiums darin zu unterstützen, am 27. Januar 2023, der gleichzeitig jedes Jahr die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945 markiert, tatsächlich sexuelle Minderheiten „in den Mittelpunkt zu stellen“, die damals und in vielen Ländern der Welt bis heute mit Folter, Haft und sogar der Todesstrafe verfolgt werden

Erfreulich ist, dass es in der Gedenkstätte Auschwitz selbst (offiziell: dem „Staatlichen Museum Auschwitz“) am 7.-8. Juli diesen Jahres die erste internationale online Konferenz gab, in der auch ausdrücklich über sexuelle Minderheiten als Opfer in Auschwitz gesprochen wurde. Im September diesen Jahres erschien im Warschauer Neriton Verlag die polnische Ausgabe de Buches „Erinnern in Auschwitz – auch an sexuelle Minderheiten“.

Als eines von verschiedenen Vorhaben werden Henny Engels und ich am Montag, dem 24. Januar 2022, ab 19 Uhr, im taz Queer Talk auf Fragen von Jan Feddersen antworten.

Lutz van Dijk, Historiker und Schriftsteller, früher Mitarbeiter des Anne Frank Hauses in Amsterdam, arbeitet heute vor allem mit polnischen Historiker:innen zusammen – im Kontext eines Erinnerns an sexuelle Minderheiten in Auschwitz. Er lebt und arbeitet überwiegend in Kapstadt und berichtet auch aus Südafrika für die taz.


Essay von Jan Feddersen über den ESC: Queeres Weltkulturerbe

In loser Folge stellen wir Aufsätze aus älteren Ausgaben des Jahrbuchs Sexualitäten gratis zum Download bereit. Diesmal und pünktlich zur Eurovision-Saison 2021: „ESC – Queeres Weltkulturerbe“. Weiterlesen